Die Stimmung stimmt

von Dirk Pilz

29. September 2015. Das letzte Mal habe ich mich über die Salzburger Festspiele und die Kanzlerin beschwert. Diesmal möchte ich mich bedanken. Zunächst bei der Kanzlerin. Immerhin hat sie doch noch bemerkt, dass sich Flüchtlinge nicht wie Euro-Rettungsschirme behandeln lassen. Dass für Schutzsuchende das "Gebot der Menschlichkeit" gilt. Ob sie dieses Gebot auch noch gelten lassen wird, wenn nicht nur die moralischen Kosten steigen, werden wir sehen. Dazu bei entsprechender Gelegenheit. Einstweilen ist ihr auch deshalb zu danken, weil sie mit ihrer Haltung all jene zu Stellungnahmen verführte, die von der "Flüchtlingskanzlerin" mehr "Härte", "Realitätssinn" und den entsprechend rigorosen "Schutz der Grenzen" verlangen. Man weiß jetzt genauer, woran man bei dieser oder jenem ist.

Wunderbar positive Energie

Danken möchte ich aber auch den Salzburger Festspielen. Sie sind vorbei. Für die Festspielchefin Helga Rabl-Stadler und ihren Schauspiel-Boss Sven-Eric Bechtolf war es ein "wunderbarer Sommer", teilen sie stolz mit. "In der Stadt herrschte eine positive Energie wie selten, vielfach wurden wir auf der Straße von begeisterten Zusehern und Zuhörern angesprochen und zu unserem Programm beglückwünscht." Ein toller Erfolg. Und die Salzburger lehren uns, woran er zu erkennen ist: an den Zahlen.

kolumne dirkDeshalb haben die Festspiele eine umfangreiche Liste erstellt. Hier ein kleiner Auszug: Die Künstler probten insgesamt 220 Tage für 188 Vorstellungen, 735 Stunden im Schauspiel, 1.320 für die Opernproduktionen, 551 im Konzertbereich. Es wurden 1.550 Kostüme gefertigt, 1.500 Glühbirnen brannten auf der Bühne und hinter den Kulissen. Insgesamt 6.000 Swarovski-Kristalle schmückten das Kleid der Buhlschaft für die Jedermann-Abende. 470 Blumensträuße wurden überreicht und 10.000 Häppchen in den Pausen verspeist. Die Dramaturgen schrieben 4.622 Seiten. 6.100 Übernachtungen wurden für die Festspielkünstler in Salzburger Hotels gebucht. 262.893 Besucher aus 74 Nationen besuchten die Vorstellungen. Insgesamt 35 Stunden lang klatschte das Publikum. Auch der Himmel war bester Laune: 431,8 Stunden schien die Sonne. "Das Wetter wurde von uns als zusätzlicher Stimmungsförderer wahrgenommen, so hatte man beim Gang durch die Stadt fast schon den Eindruck von italienischem Lebensgefühl."

Die Winde drehen schnell

Was sagt uns das? Die Festspiele haben in einer Parallelwelt stattgefunden. Das ist schon immer so, aber noch nie wurde es so deutlich wie heuer. Dafür vielen Dank.

Seit Monaten ist Salzburg eine Flüchtlingsstadt, für die Festspiele aber war es ein "wunderbarer" Sommer voller "positiver Energie" und "italienischem Lebensgefühl". Die Welt hinter den Kunstmauern? Gibt es nicht. Irgendwelche Probleme da draußen? Nicht vorhanden.

Das ist nicht überall im Theater so, gottlob. Ob sich die Bühnen den Flüchtlingen auch dann noch widmen, wenn sich aus diesem Engagement kein moralischer oder aufmerksamkeitstechnischer Gewinn mehr schlagen lässt, wird sich erweisen. Hoffen wir's.

Aber ich fürchte, es kommt auch diesmal, wie es immer kommt. Die wahlweise opportunistischen oder ideologiesatten Stimmen, die von vorgeblich kritischer oder pädagogischer Warte aus glauben, die Grenzen des Theaters verteidigen und von den Bühnen verlangen zu müssen, dass sie sich bittschön um Bühnen- und nicht Politiksachen zu kümmern haben, werden jetzt jedenfalls schon wieder lauter. Die Winde drehen auch in den Theatern schnell. Heute sehen die Salzburger Festspiele alt aus, morgen wird man ihre erfolgversprechende Produktion parallelweltlicher Illusionen preisen, die Kunstmauern zementieren und dabei so tun, als wisse man bestens Bescheid, wie es um die Welt bestellt ist und was zu tun ist – und dabei natürlich immer die anderen, nie sich selbst meinen.

Dazu dann bei entsprechender Gelegenheit.

 

dirk pilz5 kleinDirk Pilz ist Redakteur und Mitgründer von nachtkritik.de. In seiner Kolumne Experte des Monats schreibt er über alles, wofür es Experten braucht.


 

Ende August schrieb Dirk Pilz schon einmal über Flüchtlingspolitik und eine Kanzlerin, die (erstmal) lieber nach Salzburg als nach Heidenau fuhr. Hier mehr von seiner Kolumne Experte des Monats.

 

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Kommentare  
Parallelwelt Salzburg: Ist ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen?
Was ich mich wirklich frage: Gibt es historische Situationen, in denen es verboten ist (oder jedenfalls in hohem Maße nicht geboten), Kunst ohne politische Aussage zu machen? Ist ein Gespräch über Bäume angesichts der Flüchtlinge ein Verbrechen? Kunst kann ja durch das Erschließen einer ästhetischen Sphäre eine Gegenwelt zur Alltagsrealität bilden. Und vielleicht stiftet gerade diese Gegenwelt Sinn, und es wäre töricht, sie aufzugeben. Das ist für mich wirklich eine offene Frage, ich weiß es nicht, ob das eine oder das andere gilt. Aber bedeutet denn in der jetzigen Situation ein Bild von Rothko nichts mehr, ist eine Bob-Wilson-Aufführung jetzt nur noch zynisch? Und wenn man das bejaht, verkleinert man dann nicht die Kunst?
Parallelwelt Salzburg: Großtat, Freiheit
Es gilt einfach beides. Ein Gespräch, das mit vollem Bewusstsein angesichts der Weltprobleme über nichts als Bäume geht, kann eine politische Großtat sein. Ebenso wie eine unbewusst zum Geschwätz geratene politische Debatte in der Kunst der Ausdruck von Feigheit oder Resignation sein kann. Ich kann mich natürlich irren. Das allein ist eigentlich schon ziemlich schwer. Immer daran zu arbeiten, dasss man sich immer auch irren können will... Deshalb bin ich froh, dass ich nicht auch noch diese, Ihre offene Frage habe, G R.
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