Versuch über das Turnen - Die Münchner Gruppe Hauptaktion erkundet beim Spielart-Festival den Zusammenhang von synchronisierten Körperbewegungen und Nationalstaat
Norm und Eigensinn
von Sabine Leucht
München, 2. November 2017. "Und" ist das einzige Wort, das an diesem Abend gesprochen wird. Immer ein anderer Performer fügt es dem Sound eines unablässig tickenden Metronoms hinzu. Er oder sie setzt damit ein Signal für eine neue Bewegungssequenz, sei es eine kecke Oberkörperdrehung, ein In-die-Knie-Gehen oder das Heben eines Armes im Liegestütz. Die anderen turnen dann alle mit. Das Wort als Informationsträger kriecht nur über eine Wand der Städtischen Turnhalle an der Dachauer Straße, auf die auch einzelne historische Bilddokumente projiziert werden. "Das Turnen ist eine deutsche Erfindung", steht da etwa gleich zu Beginn. "Der erste Turnplatz entstand 1811 in Berlin". Bis zu diesem Datum kommt die Gruppe Hauptaktion aber gar nicht in ihrem historisch von hinten aufgerollten "Versuch über das Turnen" beim Münchner Spielart-Festival.
Vom Verschwinden in der Masse
Der Versuch folgt einer strengen Form, Kapitel für Kapitel. Gleich das erste bezieht sich auf die "Endphase" der Turnbewegung vor ihrer "Versportung" und zeigt die Rekonstruktion eines Schauturnens der Armeesportgruppe "Vorwärts" im Leipzig des Jahres 1987 – zwei Jahre vor dem Mauerfall. 1.500 Turner waren damals am Start. Beim Münchner Spielart-Festival kriegen ganze acht Performer zwischen weiten Backsteinmauern natürlich nur einen jämmerlichen Abklatsch der damals erzielten Wirkung zustande. In Kapitel 2, der "Hochphase", steht Julian Warner in einem Reenactment-Häppchen des Schauturnens deutscher Siedler im namibischen Lüderitz von 1939 sogar ganz alleine als höchst unvollkommene Basis einer Pyramide herum. Und auch das hat System. Denn hinter dem Kollektiv steckt der junge Regisseur Oliver Zahn, der schon in seinen Studienprojekten "Situation mit ausgestrecktem Arm" und "Situation mit Doppelgänger" sowie zuletzt in Situation mit Zuschauern den größtmöglichen Abstand zwischen Beobachter/Performer und Untersuchungsgegenstand legte: seelenruhig Bewegungen sezierte oder monoton Erklärungen und historische Fußnoten verlesen ließ, auch wenn es sich bei besagtem Gegenstand um den Hitlergruß oder Hinrichtungsvideos des IS handelte.
Zahns Metier ist die "Essay-Performance", Hauptaktion eine "künstlerische Forschungsgesellschaft". Dass Zahn als Regisseur diesmal ganz in der Gruppe verschwindet, ist dem Thema geschuldet, das genau diesen Vorgang untersucht. Ja, Zahn und Co. stürzen sich mit dem Kopf voran in und auf ihre Themen. Würde der Körper aber nicht sogleich folgen, hätten sie für ihr aktuelles, von Spielart und den Münchner Kammerspielen koproduziertes Projekt wohl kaum Gelder vom Tanzfonds Erbe bekommen. Witzig ist das außerdem, was sich fast von selbst ergibt durch die Diskrepanz zwischen den normierten Bewegungen, die meist auch Synchronität verlangen, und dem Eigensinn der "unzulänglichen" Körper, die diesen Vorgaben zwar wacker (und mit stoischer Mimik), aber alles andere als exakt folgen.
Außen gleich und innen bunt
Vorgestellt wird das Team als eine Ansammlung von Individualisten auf der Suche nach Gemeinschaft jenseits der Nation – und das Schauturnen als politische Disziplin, die aus beliebigen Menschen eine Einheit zusammenschweißt. Klar, jeder kennt die Aufmärsche und Massenchoreografien faschistischer oder sozialistischer Regimes, aber über einige der von Hauptaktion ausgegrabenen und zwischen Bild- und Textprojektionen auszugsweise nachgeturnten, allesamt deutschen Beispiele kommt man doch ins Staunen. So ließen 1953 in Hamburg immerhin noch 280 Altersturner eine Stabübung von 1898 wiederaufleben. 1928 demonstriert der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten in Königsberg äußerst schwungvoll das Verwachsensein in der deutschen Kultur. 1913 propagierte die Jüdische Turnzeitung eine Transformation des "schlaffen jüdischen Leibs" in den "Muskeljuden". Und 1849 schrieb sich der Frankfurter Frauenturnverein die "Rache" gegen die "Erzfeinde" des weiblichen Geschlechts in die Satzung. Zwischendurch sind die Originalzitate aus der Zeit weit interessanter als die Bewegungen, umso mehr, weil diese die Ideologie, der sie dienen, in der Regel nicht verraten. Gut, wenn militärische Ertüchtigung im Vordergrund steht, gibt es viel Stockeinsatz – und nähert man sich der Geburtsstunde der Turnbewegung, macht jeder etwas anderes. 1819 sah Turnen noch fast wie Aufwärmgymnastik aus, nicht wie die Demonstration von Macht oder Gemeinschaft.
Für die Abweichung vom via Bewegung geformten und repräsentierten Volkskörper ist aber auch zwischendurch immer wieder Platz in dieser Performance. Dann gibt die Schrift auf der Wand Einblicke in individuelle Befindlichkeiten: "Eine dieser Personen sieht im Turnen eine Form des Faschismus", heißt es etwa. "Eine weiß Rat, wie postnationale politische Praxis gelingen kann". Eine "scheißt auf ethnische Diversität", eine kann ihre Arme nicht ganz nach oben strecken, auch wenn sie diese Richtung mag, eine "sehnt sich nach der Uniform". Die nach außen hin demonstrierte Einheit kann die innen bunten Sehnsüchte nur verdecken. Vielleicht ist das der hinter dieser Versuchsanordnung stehende Gedanke. Vielleicht hält sich die multinationale und auch sonst heterogene Gruppe aber auch für einen Sonderfall. Jedenfalls ist der durchaus pfiffige Abend – wie so einige beim bisherigen Spielart-Festival – zu Ende, bevor er wirklich in die Tiefe gehen könnte.
Versuch über das Turnen – Ein Tanzfonds Erbe-Projekt
von Hauptaktion
Von und mit: Jonaid Khodabakhshi, Dennis Kopp, Quindell Orton, Jasmina Rezig, Hannah Saar, Isabel Schwenk, Julian Warner, Oliver Zahn.
Assistenz: Nele Hussmann, Dramaturgie: Josef Bairlein, Video: Nicole Wytyczak.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
www.spielart.org
Wenn die Performerinnen nun historische Massenveranstaltungen nachspielen, wirke das eher komisch, "der heilige Ernst und die kantigen Bewegungen wirken automatisch ironisch", so Michael Stadler in der Abendzeitung (7.11.2017). In ihren Köpfen stecke aber der heutige Individualismus. Fazit: "In seiner Kürze und Vagheit bleibt das Stück unbefriedigend. Der Schweiß der Performer beglaubigt jedoch ihren Willen, unsere Gedanken in Bewegung zu bringen. Wer rennt nicht einem Verständnis der Welt hinterher?"
"Arbeiter turnen, Zionisten turnen, Nationalisten turnen. Bei der Hauptaktion turnen ein paar Darsteller, die das kaum können und weder die Monumentalereignisse von den Fotos nachstellen noch zu diesen irgendeine Haltung entwickeln", finden Eva-Elisabeth Fischer und Egbert Tholl im Spielart-Festivalbericht in der Süddeutschen Zeitung (7.11.2017). Das Dritte Reich bleibe ausgespart, warum auch immer. "In ausgehändigten Überstrümpfen betritt man die Turnhalle, ohne eigenes Schuhwerk ein bisschen so gleichgemacht wie es die Turnvereine mit ihren Mitgliedern tun." Fazit: "Eine Ausstellung des Materials wäre tausendmal besser gewesen, die Performance ist komplett nutzlos."
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