Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war - Wolfgang Behrens denkt über das Dramaturgenschicksal nach
Silbriger Dramaturgenglanz
von Wolfgang Behrens
Berlin, 21. Mai 2019. Als ich noch ein Kritiker war, hielt sich mein Beliebtheitsgrad unter Theaterleuten sicherlich in Grenzen – man war ja schließlich ein Kritiker und als solcher ein Feind des Theaters –, aber ich stand zumindest unter keinem Legitimationsdruck. Wenn ich erwähnte, welcher Profession ich nachging, hatten die Menschen in der Regel so ungefähr eine Ahnung, was ich tue.
Seit ich ein Dramaturg bin, hat sich das einschneidend geändert. Meine Beliebtheit ist vermutlich nicht gestiegen, was ich aus der Äußerung eines Regisseurs abzuleiten geneigt bin, mit dem ich zusammenarbeiten durfte. Als er hörte, womit ich vor meinem Wechsel ans Theater mein Geld verdiente, bemerkte er freundlich: "Wolfgang, nur damit Du es weißt: Ich hasse Kritiker! Aber noch mehr als Kritiker hasse ich Dramaturgen!"
Dramaturgenlos
Weitaus schwerer als solche Anwürfe wiegt freilich, dass niemand weiß, wozu die Dramaturgen eigentlich gut sind. Wenn es ab sofort keine Schauspieler mehr gäbe, würde das jede*r daran merken, dass der Lappen nicht mehr hochginge. Wenn es ab sofort keine Kritiker mehr gäbe, würden wenigstens einige merken, dass niemand mehr da wäre, über dessen absolute Ahnungslosigkeit man sich aufregen könnte, und dass mangels Kritikerjury das Theatertreffen ausfallen müsste. Wenn es ab sofort keine Regieassistenten mehr gäbe, würden zumindest die Regisseure merken, dass sie auf der Probe keinen Kaffee mehr hätten und dass mangels Organisation vielleicht gar keine Probe mehr stattfinden würde. Wenn es aber ab sofort keine Dramaturgen mehr gäbe, würde das zunächst vielleicht gar keiner merken.
Es gibt einen Dramaturgenwitz – wobei mir auffällt, dass ich gar keinen Theaterkritikerwitz kenne; kennt eine*r einen Theaterkritikerwitz? – es gibt also einen Dramaturgenwitz, der das Dramaturgenlos auf den Punkt bringt: Vier Schauspieler unternehmen eine Tour im Heißluftballon. Nach einigen Stunden schaut einer auf die Uhr und ruft: "Um Gottes willen! In zwei Stunden haben wir ja schon Vorstellung, schaffen wir das überhaupt noch?" "Hm, könnte knapp werden … wo sind wir denn eigentlich?", fragt ein anderer. "Da unten steht einer, den können wir fragen!", sagt der dritte. "Entschuldigung, hallo, hallo, wo sind wir?" Von unten ruft der befragte Mann den Schauspielern zu: "In einem Heißluftballon!" Die vier schauen sich an. "Die Antwort kam schnell." "Ja", sagt der zweite, "und sie ist korrekt!" "Aber sie hilft nicht weiter", bemerkt der dritte. Darauf der vierte: "Das muss ein Dramaturg sein."
Exquisite Worte
Bei einer solchen Ausgangslage kann ich es jemandem wie zum Beispiel – sagen wir: meiner Mutter nicht wirklich übelnehmen, wenn sie mich zum fünften Mal fragt, was eigentlich ein Dramaturg macht. Denn alle anderen fragen mich das ja auch. Hilfe kam jedoch vor einiger Zeit aus unerwarteter Ecke, nämlich aus dem Bestellkatalog des Versandhauses Mey & Edlich. Dort wurde allen Ernstes ein Anzug unter der Überschrift "Heute Dramaturg" beworben. Weiter hieß es, der "Dramaturgen-Anzug" verdanke "seinen Namen seiner schlichten Eleganz, dem dezent extrovertierten silbrigen Glanz und dem ungewöhnlichen Material Cord". Wow! Wurde die Dramaturgenzunft jemals mit solch exquisiten Worten bedacht?
Die Texter von Mey & Edlich sind aber noch tiefer in die Recherche eingestiegen und dichteten weiter: "Der Dramaturg spielt nicht, er singt nicht, er ist nicht der Autor." Das ist erst einmal – das identifiziere ich als Dramaturg sofort – eine Charakterisierung ex negativo. Aber dann kommt's: "Er ist Vermittler des Texts und Anwalt der Inszenierung – er begleitet die Proben aus erster Reihe, kontrolliert, ob die Regie verständlich und konsequent und das Spiel unmissverständlich ist. Und er sorgt dafür, dass das Publikum mit Hintergrundinformationen versorgt wird." Nochmal wow! Besser könnte ich das auch nicht sagen. Diesen Text werde ich demnächst meiner Mutter und allen anderen vorlegen, die mir dumm kommen.
Leider schlampig
Schade nur, dass ich mir den Anzug nicht kaufen kann: Er ist Slim Fit. Irgendwie scheine ich dann doch nicht der typische Dramaturg zu sein. Oder aber die Leute von Mey & Edlich liegen einfach falsch, was ihre optische Einschätzung des Erscheinungsbildes eines Dramaturgen betrifft (als Katalogmodel haben sie auch keinen Dramaturgen, sondern einen silbermähnigen Filmschauspieler gewählt). Die drei Worte jedenfalls, die den Text abschließen, können einen schon stutzig machen: "Einfach gut angezogen." Ich für meinen Teil glaube ja, dass "Einfach schlampig angezogen" der Wahrheit näher käme. Eine Werbung so zu beenden, wäre aber wohl vor allem eines: dramaturgisch unklug!
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er u.a. in seinem reichen Theateranekdotenschatz.
Zuletzt vervollständigte Wolfgang Behrens seine Typologie der Theaterstörer um die Kategorie der Flitzer.
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ich liebe diese Kolumne eigentlich für ihre Lakonie, wenn Sie nun über den Legitimationsdruck unseres Berufsstandes schreiben bin ich nun doch etwas enttäuscht. Noch vor einigen Jahren habe ich selbst Witze über die Relevanz von Dramaturgen gemacht. Ich musste aber erkennen, dass selbst Schauspieler*innen und Regiseur*innen, sprich die nächsten Mitarbeitenden, oft keine Ahnung haben wozu man angestellt ist.
Dabei arbeiten wir doch meistens noch länger, sitzen nach der Probe Stunde um Stunde im Büro, sind eine atmende Knautschzone für die schlechte Laune von Intendant*innen oder Regisseur*innen.
Nein es ist nicht genau zu benennen was wir machen, aber die meisten von uns tun es mit verdammt viel Einsatz und das ist mehr Wert, als ironische Berufwitze oder die Besserwisserei von Simon Strauss.
Antwort: Nein, der Text ist nicht gekürzt worden. Nach meinem Empfinden war die Kürze der Mey & Edlich-Berufsbild-Zusammenfassung nicht mehr zu übertreffen. Deshalb habe ich auf weitere Schlussfolgerungen und Einblicke verzichtet, auch wenn das - ich sehe es jetzt ein - ein dramaturgischer Mangel ist.
Übrigens schrieb mir der geschätzte Ex-Kollege Matthias Weigel gerade eine Mail, in der er mich ganz zu Recht darüber aufklärt, dass die Pointe des Ballon-Witzes in meinem Text verschenkt sei, da der Dramaturg schon lange vorher thematisch eingeführt sei und daher am Schluss in keiner Weise überraschend komme. Er schlägt folgenden verbesserten Witzverlauf vor: "Das kann nur ein Dramaturg sein. Die Antwort kam schnell, sie ist korrekt – und hilft nicht weiter."
Wer ist denn der Dritte im Bunde bei Ihrer Luftnummer?
https://www.youtube.com/watch?v=Fwrsgc0rYpU
Gott ist so amüsiert, dass dem Dramaturg erlaubt wird, ein Universum zu erschaffen.
Nach einiger Zeit schaut Gott vorbei und wundert sich, dass trotz der in seinem Universumgenerator enthaltenen Lebensformel nur auf einem Planeten eine Zivilisation existiert, die sich wundert, warum sie allein ist in diesem unglaublich sonnenreichen Universum.
Gott fragt und der Dramaturg antwortet: "Jede Zivilisation, die meine Dramaturgie der Schalen-Leere missversteht, wird hinter einem Ereignishorizont langsam eingefroren."
Gott schaut hinter einen Horizont und sieht vollständig Eingefrorene: Das ist nicht lustig.
Dramaturg: Richtig aber es ist lustig, wenn man bis kurz vor dem Ende zuschaut.
Ein mathematischer Dramaturg zerstörte den missverständlichen Satz
"Es gibt eine Reihe von Verfahren."
und ersetzte ihn durch
"Einige Lücken in dieser kargen Reihe von Verfahren enthalten Unaussprechliches und sind nur dramaturgisch erreichbar"
Kurz darauf wird er von einem Wächter des Unaussprechlichen jahrelang vor einem DREXIT gewarnt.
Nach 2 Jahren sagt der Dramaturg: Das ist nicht mehr lustig!
Wächter: Gewiss doch, das Beste kommt zum Schluss.
ich möchte Sie nur auf eine apokryphe Quelle des Dramaturgenanzugs von Mey & Edlich hinweisen. Auch in „Theater heute“ gab es einst Kolumnen. 1992 schrieb der Regisseur Benjamin Korn eine mit dem Titel „Der Dramaturg“ (5/92, S. 63). Zu Korns Berufsbeschreibung gehörte auch der Satz: „Der Dramaturg hat eine vom Sitzen bis zu den Kniekehlen ausgebeulte Hose.“ Es folgte eine ausführliche Debatte über Dramaturgenhosen (und Dramaturginnenhosen!) in den beiden folgenden Heften. Korn hatte natürlich einen ganz bestimmten Dramaturgen im Kopf. Und der trug, soweit ich mich erinnern kann, immer einen ziemlich formlosen Cordanzug. Vielleicht ist dieser Hinweis hilfreich für die prototypische Kostümgeschichtsschreibung und für künftige genealogische Forschungen über die historische Semantik des Bekleidungsverhaltens von Dramaturgen.
Was haben ein Theaterkritiker und ein Eunuch gemeinsam?
Er beschwert sich innerhalb der einjährigen Verjährungsfrist beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über ein Gesetz, das Obdachlosigkeitssanktion enthält.
Ein Wächter antwortet und äußert Bedenken.
W: Du musst erst durch eine konstante Ablehnung von Staatsmaßnahmen obdachlos werden, um laut Merkblatt unmittelbar und gegenwärtig betroffen zu sein.
Der Dramaturg macht sich arbeitslos, nach seiner Anmeldung bei der Jobagentur mit einer totalen Verweigerungseinstellung obdachlos, schreibt unter freiem Himmel auf einem Küchentisch die verbesserte Beschwerde.
W: Du hast nicht bewiesen, dass Obdachlosigkeit zu einem antikulturellen, antihygienischen Zustand führt, der entwürdigend ist.
Der Dramaturg wartet einen entwürdigenden matschigen regnerischen feuchtkalten deutschen Herbst ab und schickt Nackt-Bilder von seinem antihygienischen Zustand. Er begründet schriftlich, dass er mit Lebensmittelgutscheinen weder Theaterkarten noch einen Bibliotheksausweis kaufen kann.
W: Du hast nicht bewiesen, dass im Prinzip alle Obdachlosen antihygienisch und von der zivilisierten Kultur ausgeschlossen sind. Somit fehlt deiner Beschwerde grundsätzliche Bedeutung.
Der obdachlose, antihygienische, dekultivierte Dramaturg fährt schwarz durch das Land und schickt 250.000 Nackt-Bilder von verschmutzten, dekultivierten Obdachlosen nach Karlsruhe.
Nach weiteren Bedenken besteht der zerstörte Dramaturg schließlich auf einen Eintrag in das Aktenregister.
W: Deine Beschwerde wurde in das Aktenregister aufgenommen.
Einige Zeit später erhält er von Richtern einer Verfassungskammer eines Senats, die nicht immer einer Meinung mit den Richtern des anderen Senats sind, die unbegründete Antwort, dass seine Beschwerde gemäß §93 BVerfGG, eine von einer demokratischen Regierung in den 90ern eingeführte Arbeitsentlastungsregel für Verfassungsrichter, nicht zur Entscheidung angenommen wurde.
Schlauer geworden wartet er viele Jahre, bis im Fernsehen 70 Jahre nach Einführung des Grundgesetzes ein Verfassungsrichter erklärt, was zwischen den Zeilen der Volksvertreterbücher schlummert.
Nun konnte er das Regierungsdogma "Arbeit ist Würde" als "Der Erwerbstätige kann durch demokratisch gewählte Volksvertreter und deren Interpretationen des Grundgesetzes in Form von verhältnismäßigen, zeitgeistabhängigen Gesetzen nicht entwürdigt werden" richtig interpretieren und Theaterregisseurinnen Informationen anbieten, die offen waren für die Dramaturgie der Küchentische.
vielen Dank für diese kurzweilige Kolumne. Wir hatten unseren Spaß beim Lesen. Es freut uns, dass wir dazu beitragen konnten, das Berufsbild des Dramaturgen verständlich(er) zu skizzieren. Schade nur, dass wir beim Schnitt des Dramaturgen-Anzuges die Realität noch nicht ganz getroffen haben – das nächste Mal geht’s für uns mit noch geschulterem Blick ins Theater! Und wir sollten uns einfach vor der Produktentwicklung unterhalten.
Alles Gute, Ihr Team von Mey & Edlich
Der Theaterkritiker sieht nur das Wort Stadtautobahn, der Dramaturg sieht das zerstörte Wort und den aus den Trümmern aufsteigenden Begriff DTA.
Was ist der Unterschied zwischen Dramaturg und Cyturg?
Der Cyturg sieht im Wort Stadtautobahn ein n-dimensionales Scrabble und somit auch das Wort Jodtablette.
Er schlussfolgerte logisch, dass die wenigen stabilen Teilchen des Standardmodells ebenfalls Opfer der Unterdrückungsherrschaft eines Bewussteins sind, das kein Teilchen erlaubt, dessen Feld nach einer algebraischen Transformation ein anderes Feld, ein Anti-Gravitations-Feld, erzeugt.