James Brown trug Lockenwickler - Residenztheater München
Rauchende Forelle
25. März 2023. Das neue Stück der Erfolgsautorin Yasmina Reza ist ganz anders als ihre Bühnen-Hits. Statt Schlagabtäuschen mit hoher Pointendichte gibt es Identitätsfragen und Surreales. Philipp Stölzl nimmt in München Anleihen bei René Magritte, Antoine de Saint-Exupéry, Tim Burton und entfaltet einen ganz eigenen fluffigen Zauber.
Von Sabine Leucht

25. März 2023. Die Lockenwickler kommen nur einmal vor. Und auch nur einer: Lockenwickler – Singular. Vincent zur Linden trägt ihn in seiner Langhaarperücke, seitlich. So wie alles ein bisschen schräg ist und an ungewohnten Stellen sitzt an diesem Abend, den Philipp Stölzl auf der Bühne des Residenztheaters aufgeschüttelt hat wie ein Federbett. Nichts klumpt. Alles flockt ganz locker daher. Obwohl zumindest zwei der fünf Figuren schwer an ihrem Schicksal tragen. Lionel und Pascaline sind die Eltern von Jacob – und der hält sich, seit er fünf ist, für Céline Dion. Ein Schlag für Menschen wie die mega-angepassten Hutners. Deshalb ist Jacob/Céline jetzt in einer "Einrichtung". Und seine Eltern bringen Geleefrüchte für die Psychiaterin und eine frisch angesteckte Heiterkeit mit, wenn sie den verlorenen Sohn besuchen.
"Kein Realismus" schreibt die französische Erfolgsautorin mehrmals ausdrücklich in ihr Stück hinein. Gleich zu Beginn, auf dass es jeder wieder weglegt, der mit ihm am Boden bleiben will. Dort spielt sich mehr oder weniger auch die pointenreiche Salondramatik ab, für die Reza bekannt ist. In Gesellschaftskomödien wie "Kunst" oder "Gott des Gemetzels" gibt es heftige Schlagabtäusche in gepflegten Wohnzimmern, schwarzhumorig, analytisch - und in Worten, die man auch singen könnte.
Geschmeidige Identitäten und das Gegenteil
Zumindest letzteres gilt auch für "James Brown trug Lockenwickler". Aber alles andere nicht. Das Stück ist surreal, versponnen, sprung- und märchenhaft. Und wer Stölzls Filme oder seine Resi-Inszenierung von Matthew Lopez' Schwulensaga "Das Vermächtnis" kennt, konnte sich ernstlich sorgen, ob er das hinkriegt mit dem Nicht-Realistischen. Aber die Sorgen waren unbegründet.
Durchblick im Nebel: v.l.n.r. Vincent zur Linden, Lisa Wagner, Michael Goldberg, Johannes Nussbaum © Sandra Then
Zwei einander teilweise überlappende Vorhangbögen sind das Bühnenbild. Der linke ist orange und vom Vorderteil einer riesigen Forelle perforiert, im rechten, petrolfarbenen, steckt der Hinterleib. Und unter diesen eher teilnahmslosen Tierhälften ereignet sich Zauberhaftes. Stölzl denkt nämlich gar nicht daran, sich aufs identitätspolitische Glatteis setzen zu lassen, das das skurrile Stück auch bereithält. Patient Philipp nämlich empfindet sich als Schwarzer, obwohl das seine Hautfarbe nicht hergibt. Reza, und das ist interessant, unterscheidet da nicht zwischen guten und schlechten Aneignungsprozessen, sondern nur zwischen geschmeidigen Identitäten und ihrem Gegenteil namens Lionel, der seiner Frau sagt: "Du hast einen erstarrten Mann geheiratet, ohne jede soziale Gewandtheit, der sich nie weiterentwickelt hat." Einen überängstlichen Konformisten, der für alles um Erlaubnis fragt.
Film- und Kunstzitate
Für Jacob und Philippe dagegen gilt laut ihrer Psychiaterin: "Keiner von beiden lässt sich von der Biologie einschüchtern." Lisa Wagner nach 12 Jahren als Gast zurück am Resi, spielt diese seltsame Frau, die beim Autofahren nicht bremst ("Bremsen heißt Kapitulieren") und im grünen Samtkleid zu theoretischen Exkursen ausholt, wie eine Tim Burton-Figur – ziemlich over the top, zackig, kühl und doch sehr körperlich, und wenn sie auf ihrem Roller bald hier bald da aus der Vorhangkulisse floatet, denkt man an "Alice im Wunderland", das weiße Kaninchen und das Fehlen von Zeit. Überhaupt stecken viele Film- und Kunstzitate in dem Abend. Stölzl, der wie meist sein eigener Bühnenbildner ist, hat die Fische vermutlich bei Magritte abgeschaut und bei der Drehbühne sicher an eine Spieluhr gedacht. Er lässt den Forellenkopf sogar rauchen und Céline am Ende einen Abgang haben wie der kleine Prinz, während Michael Goldbergs Lionel dessen sehr langen blauen Schal festhält wie die Haare von Rapunzel.
Johannes Nussbaum als Philippe, Vincent zur Linden als Jacob © Sandra Then
Mit herausragenden Schauspielern – Johannes Nussbaum spielt den Philippe mit seinem heißen Draht zu einem illegalen Einwanderer-Baum - und Juliane Köhler die Mutter, die bei einem Lied ihres Sohnes mit so viel falscher Begeisterung mithüpft und -kreischt, dass es wehtut: Das All-eyes-on-Me der allzu Bemühten, das an Narzissmus grenzt.
Einander lassen wie man ist
Stölzl setzt auf Slapstick, große Gesten und überschnappende Stimmen, hat aber ein sehr feines Gespür dafür, wann er Peaks zu brechen hat. Der Abend hat so einen ganz eigenen Ton, und das ist durchaus auch musikalisch zu verstehen. Ein selbstspielendes Klavier lässt jazzige Töne hereinwehen und jeder Akteur hat einen eigenen Groove im Körper. Bei Nussbaum ist er größer, geht eher Richtung Boogie, bei zur Linden zarter, fragiler, auch wenn die beiden miteinander tollen und zanken wie die jungen Hunde und dann in einer Umarmung enden, die sich schwer wieder lösen lässt. Das sind utopische Momente, in denen Möglichkeiten aufscheinen, die Einsamkeit und Melancholie zu überwinden, die dennoch unter allem liegt. Und es liegt kein falsches Pathos darin, sondern bloß der ehrliche Glaube, dass man einander nehmen und lassen kann wie man ist.
James Brown trug Lockenwickler
Uraufführung
von Yasmina Reza, aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel
Regie und Bühne: Philipp Stölzl, Mitarbeit Bühne: Franziska Harm, Kostüme: Kathi Maurer, Musik: Ingo Ludwig Frenzel, Licht: Gerrit Jurda, Choreografie und Körpertraining: Paulina Alpen, Dramaturgie: Almut Wagner
Mit: Michael Goldberg, Juliane Köhler, Johannes Nussbaum, Lisa Wagner, Vincent zur Linden.
Premiere am 24. März 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
"Das selbstspielende Piano ist eine von vielen schönen Ideen (...), denn man kann ja auch einen Menschen als Instrument verstehen. Aber wer möchte schon fremdbestimmt sein?", schreibt Michael Stadler in der Abendzeitung (27.3.2023). Wer sich eine eskalierende Gesellschaftssatire erhoffe, darf sich enttäuscht sehen. Stattdessen tauschen sich die fünf Figuren "freimütig, manchmal gereizt, oft erheiternd über ihre Eigenheiten aus" oder erzählen Geschichten erzählen, "die metaphorisch aufgeladen um die zentralen Themen des Abends kreisen". Rezas Stück sei eine gekonnt lockere Improvisation auf dem Hintergrund heutiger Identitätspolitik. Vor einer möglichen Tragödie renne das Stück davon. "Über weite Strecken hat der Abend eine wunderbare Leichtigkeit."
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Die Wahnvorstellungen ihrer Patienten nimmt sie als Realität einfach hin: Jacob Hutners fixe Idee, er sei die kanadische Popdiva Céline Dion, stellt sie ebenso wenig in Frage wie Philippes Überzeugung, dass er nicht weiß, sondern schwarz sei. Vincent zur Linden und Johannes Nussbaum spielen diese beiden jungen Männer, die sich in der Anstalt anfreunden. Wie die Zuneigung zwischen den beiden langsam wächst und sie sich in ihrem Parallel-Universum stützen und aneinander klammern, gehört zu den stärkeren Momenten der Inszenierung von Philipp Stölzl, der nach seiner Saga „Das Vermächtnis“ zum zweiten Mal am Residenztheater arbeitet.
Auffällig ist, dass Uraufführungs-Regisseur Stölzl die heißen Eisen aktueller identitätspolitischer Diskurse umschifft, obwohl sich diese geradezu aufdrängen.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2023/04/10/james-brown-trug-lockenwickler-residenztheater-muenchen-kritik/
So blieb es für mich zunehmend schwierig dieser moderaten Surrealität etwas Motivierendes abzugewinnen.
Surrealens Kammertheater vielleicht im Marstall besser platziert?