Der Sturm - Schauspiel Stuttgart
Die Leere in der Leere
23. April 2023. Eine alte Lesart Shakespeares wird serviert: Die Welt als Bühne, die Bühne als Welt. Prospero als allmächtiger Regisseur, der Menschen zu Puppen in seinem Spiel degradiert. Das funktioniert im Ansatz, lässt einzelne Spieler glänzen und lässt doch Fragen offen.
Von Verena Großkreutz
23. April 2023. Macht und Unterdrückung, Natur und Zivilisation, Ausbeutung und Aneignung – zeitlose Themen, die Shakespeares spätes Märchen-Rätsel-Drama "Der Sturm" spielerisch miteinander verbindet. Kein Wunder, dass das Stück zu den meist gespielten gehört. Auch in Stuttgart gab es jetzt wieder eine Premiere. In einer Inszenierung des Intendanten Burkhard C. Kosminski.
Es ist jetzt schon ein paar Jährchen her, dass man den "Sturm" in Stuttgart sehen konnte. 2015 hat ihn hier Armin Petras, Kosminskis Vorgänger im Amt, inszeniert. Petras interpretierte Prosperos einsame Insel als pars pro toto kolonialer und heutiger wirtschaftlicher Ausbeutung Indiens oder des afrikanischen Kontinents. Kosminski geht solcher Konkretisierung und Politisierung (wie so oft) aus dem Weg. Er greift eine uralte Standard-Lesart auf, die Prospero als Alter Ego des Dichters versteht und den "Sturm" als eine Hommage ans Theater.
Theater im Theater
Die Insel, auf die es den entmachteten Mailänder Herzog Prospero ins Exil verschlagen hat, fungiert dementsprechend als Theater im Theater: Auf der Drehscheibe prangt eine quadratische, leere Extra-Bühne, gerahmt von roten Vorhängen. Auf der inszeniert Prospero als allmächtiger Regisseur mit Hilfe seines magischen Assistenten Ariel eine fiese Farce: So degradiert er die Menschen, die ihm einst geschadet haben, zu Marionetten (was zumindest Felix Strobel als Königsbruder Sebastian zum Ausleben seines komödiantischen Talents nutzen kann). Die Welt als Bühne, die Bühne als Welt. Mehr ist nicht.
Glänzende Spieler und Spielerinnen
Der Abend beginnt aber gar nicht mal so unpfiffig: Während Prospero sich von der Souffleurin das Textbuch holt und dann ein paar Verse aus der einleitenden Sturmszene liest, stehen die anderen neun Ensemblemitglieder vorne an Mikrofonen und machen ordentlich Radau: Orkanisches Getöse, Trampeln, Zischen, Säuseln, Möwenkreischen, und auch ein Donnerblech kommt zum Einsatz. Wirkt spielerisch, könnte so weitergehen. Tut es aber nicht. Witzige Regieeinfälle bleiben singulär: Ariels spektakulärer erster Auftritt zum Beispiel. Während Prospero noch mit der Anrufung seines dienstbaren Luftgeistes beschäftigt ist und verträumt den Schattenspielen seiner eleganten Armbewegungen nachschaut, bricht plötzlich Ariel auf einer Schaukel schwingend durch die weiße Papierwand. Sylvana Krappatsch (mit prächtiger Haartolle und spitzen Geisterohren) ist ein fantastischer, auch mimisch sehr präsenter Ariel: verpasst ihm die gesunde Arroganz des Überlegenen, sprachlich pointierte Schlauheit und körperliche Wendigkeit. Ihr Ariel ist Prospero für nichts dankbar, sondern fiebert ungeduldig der Freiheit entgegen.
André Jung spielt Prospero als Strippen ziehenden Patriarchen, aber vor allem auch als leisen Melancholiker, der seiner Rachepläne bald müde ist, der Menschen nicht anfasst, sondern ihnen lieber Fingerzeige gibt. Angenehm modulierend seine Stimme, nuanciert-natürlich und pointiert sein Sprechen. Man hört ihm gerne zu. Miranda, seine Tochter, spielt Camille Dombrowsky überzeugend als selbstbewusste, schlagfertige junge Frau von heute. Klar, dass die aufgedrehte Miranda dem von ihr heißbegehrten jungen Prinzen Ferdinand die Kleidung vom Leib reißt – und nicht umgekehrt. Dombrowsky spielt mitreißend, und sie kann auch richtig gut singen.
Offene Fragen
Kosminski-Inszenierungen bedeuten fürs Ensemble in der Regel: Wer aus sich selbst heraus liefern kann, kommt gut rüber. Andere nicht, weil sie von der Regie offenbar allein gelassen werden. Und dann immer wieder diese inhaltliche Leere. Wann und wo spielt das Stück eigentlich? Prospero und seine Tochter tragen heutiges Outfit. Die dekadenten Neapolitaner und Mailänder taumeln in elisabethanisch bekrausten Kostümen herum. Und wer ist in dieser Inszenierung eigentlich Caliban, Prosperos Sklave und Inselureinwohner? Kosminski hatte keine andere Idee, als das ganz wörtlich zu nehmen: dass Caliban der missgestaltete Sohn einer Hexe ist. Evgenia Dodina steckt also in der Maskerade eines Monsters: Völlig deformiert, mit zwei Hufen als Füße, die Arme verlängert zu dicken Insektenbeinen, auf dem Kopf nur ein paar Haar-Strähnen.
Bleibt noch die Idee, Alonso, den König von Neapel, mit einem Sänger, den Bariton David Krahl, zu besetzen: damit er Renaissance-Lieder zum Besten gibt. Passte stimmungsmäßig ganz gut: Purcells "Cold Song", der da fragt: "Welche Macht bist Du? / Die von unten / mich ließ auferstehn?" Oder John Dowlands "Flow my tears", den Alonso singen darf, nachdem ihn Ariel mitsamt seiner Mischpoke in die Zeitschleife versetzt hat. Aber auch das fügt sich nicht stimmig ins Ganze, bleibt Fremdkörper.
Der Sturm
von William Shakespeare
Übersetzt von Jens Roselt
Regie: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Ute Lindenberg, Musik: Hans Platzgumer, Licht: Rüdiger Benz, Choreografie: Louis Stiens, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Evgenia Dodina, Camille Dombrowsky, André Jung, David Krahl, Sylvana Krappatsch, Reinhard Mahlberg, Marco Massafra, Sven Prietz, Christiane Roßbach, Felix Strobel.
Premiere am 22. April 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Kritikenrundschau
Begeistert schreibt Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten und der Stuttgarter Zeitung (€ | 24.4.2023): "Vorgeführt wird auf dieser dunklen Bühne eine nebulöse Welt voller Intrigen, wo es keine Freunde gibt und Liebe vielleicht nur durch Zaubersprüche entsteht. Utopische Entwürfe von Gleichheit und Freiheit, die bei Shakespeare durch den königlichen älteren Rat Gonzalo skizziert werden – gestrichen. Dass aber Shakespeares Unterhaltungskünste auch vierhundert Jahre nach der Erstaufführung noch hervorragend funktionieren, das zu zeigen ist dem Regisseur und dem großartigen Ensemble hervorragend gelungen. Ebenso, wie zu demonstrieren, was das Theater im besten Falle sein kann: Magie."
"Durchwachsen bis unentschieden: die Regie. Stark: einzelne Schauspiel-Solisten. Nicht unbedingt stürmisch, doch buhfrei: der Beifall." So resümiert Otto Paul Burkhardt den Abend in der Südwest Presse (€ | 24.4.2023).
"Am Ende weht alles auseinander. Luftig, etwas zu luftig", so beschreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (24.4.2023) diesen Abend. Für sie "ist der Verzicht auf eine Deutung bedauerlicher, als man es in einer Theaterwelt der allgemeinen Überinterpretation gedacht hätte. Komplikationen psychologischer Natur fallen der straffen 105-Minuten-Fassung zum Opfer."
Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (26.4.2023) freut sich über sehr schöne Bilder und Momente. Manches gehe aber auch nicht auf oder bleibe schlicht "unerzählt, unversucht, unergründet“ in diesem "Sturm", "der da in Stuttgart kurzweilig über die Bühne, aber nicht zu Herzen geht“. Damit sei die Stuttgarter Inszenierung aber auch in bester Gesellschaft. "'Der Sturm' gelingt selten rundum gut, es ist ein Stück mit vielen Fallstricken, schwer zu bezwingen, sirenenhaft lockend, in seichte Gewässer und tödliche Strudel verführend."
Für Christian Gampert vom Deutschlandfunk (24.4.2023) ist Camille Dombrowsky die Entdeckung dieses Abends. "Ihre Miranda scheint per natürlicher Begabung alle amourösen Tricks des Anschmachtens schon zu kennen. Und nebenbei singt sie derart betörend Vivaldi, dass der eh schon märchenhafte Gestus der Inszenierung nun vollends die Oberhand gewinnt." Kosminski habe das Stück radikal entschlackt. Und siehe da: "Reines Schauspielertheater kann ziemlich gut sein."
"Kosminski inszeniert Shakespeares letztes Stück als Märchenspiel und bittersüße Reflexion über das Theater und seine Mittel. Neu ist das nicht, aber unterhaltsam“, schreibt Hubert Spiegel von der FAZ (24.4.2023). "Dieser Stuttgarter 'Sturm' ist ein luftiges, leichtfüßiges, durch und durch verspieltes Theatervergnügen, das Freude an schlichten, aber wirkungsvollen Effekten hat." Dennoch hält der Kritiker den Abend für nicht rundum gelungen. Zu kurz kämen die zahlreichen weitere Facetten des Stücks, die weder lustig noch romantisch seien.
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