Innehalten

23. April 2023. Angesichts der Bilder und Worte über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine bleibt der Schlussapplaus aus. Das Erzählte kann nicht beklatscht werden. Hier wird berichtet damit zugehört, gedacht und erinnert werden kann.

Von Eva Marburg

"Wie man mit Toten spricht" am Nationaltheater Mannheim © Maximilian Borchardt

23. April 2023. Dieser Text ist keine Theaterrezension und schon gar keine Kritik, gehen Sie also bitte weiter. Oder lesen Sie. Oder hören Sie einfach zu. So wie auch die Zuschauer*innen während der Uraufführung von "Wie man mit Toten spricht" für siebzig Minuten eingeladen waren, zuzuhören. Innezuhalten und Aufmerksamkeit zu schenken.

Bilder des Krieges machen uns unweigerlich zu Voyeuren, schrieb Susan Sontag in ihrem Essay "Das Leiden anderer betrachten". Denn die Flut der Bilder die seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zu uns dringen, macht es uns, die wir in der Mehrzahl nie etwas von dem erlebt haben, was die Menschen in der Ukraine durchmachen, unmöglich zu begreifen, was dort geschieht. Es ist durch Bilder vollständig unmöglich zu verstehen, "wie furchtbar, wie erschreckend der Krieg ist und wie normal er wird", schreibt Sontag, "nur Erzählungen können uns etwas verständlich machen".

Toten3 Maximilian Borchardt uAlina Kostyukova und Leonard Burkhardt auf der Bühne von Olha Steblak © Maximilian Borchardt

Das Stück der ukrainischen Autorin und Regisseurin Anastasiia Kosodii, seit 2022 Hausautorin am Nationaltheater Mannheim, ist eine solche Erzählung. Entstanden ist der Text im Winter 2022 und Frühjahr 2023. Während dieser Zeit reiste Anastasiia Kosodii von Mannheim aus auch regelmäßig wieder in die Ukraine.

Es geht um Tote

Auf dem Boden der kleinen Studiobühne liegt eine dicke weiche Schicht schwarzer Papierflocken. Rechts ein Klavier, links ein alter, bauchiger Kühlschrank. Zwei Passagiersitze aus einem Flugzeug stehen da noch, nach hinten begrenzt eine Leinwand dieses Setting, in dem die Schauspielerinnen Annemarie Brüntjen und Alina Kostyukova sowie der Schauspieler Leonard Burkhardt im Grunde erstmal einen Raum der stillen Zugewandtheit schaffen. Denn es geht um Tote. Um die Freund*innen der Autorin, die in diesem Krieg gestorben sind, um ihre Großmutter. Ihnen ist der Text gewidmet.

"Nachts liege ich wach und denke an ein Interview mit einem Mann aus dem Kyjiwer Gebiet, der nach der Befreiung von Butscha bei der Exhumierung der Leichen aus den Massengräbern half", sagt dann zum Beispiel Annemarie Brüntjen in der Rolle der Autorin. "Er übernachtete auch im Leichenschauhaus. Nachts, sagt der Mann in dem Interview, höre ich manchmal Geräusche. Ich habe keine Angst. Das sind unsere Toten, sollen sie kommen. Sie sind so schrecklich gestorben, wenigstens ich spreche mit ihnen." Dass die Toten durch das Leben bestimmt werden müssen und nicht durch ihren Tod; dass es die ethische Aufgabe ist, aktiv an das Leben der Verstorbenen zu erinnern, das ist Motivation dieses Texts. Es ist schnell erschütternd, wie es den drei Erzählenden unmittelbar gelingt, dass alle im Raum dieser Menschen gedenken.

Was ist sagbar?

Das geschieht wahrscheinlich auch durch die Erzählhaltung. Sie ist tastend und vorsichtig, respektvoll und konzentriert. Alina Kostyukova ist eine ukrainische Schauspielerin, die in ihrer Muttersprache spricht. Der Text verwebt ukrainische und deutsche Erzählpassagen, sie ergänzen und übersetzen sich gegenseitig. So bildet bereits die sprachliche Ebene das Verstehen und nicht Verstehen angesichts des Kriegsgeschehens schon ab. Auch der Text selbst traut dem eigenen Sprechvermögen nicht über den Weg, hinterfragt sich selbst und verhandelt, was sag- und zeigbar ist: "Können wir die Leichen beschreiben? Wir können sogar Fotos zeigen. Würdest du wollen, dass wir Fotos zeigen?" Es werden keine Fotos gezeigt. Aber als die verstümmelten Leichen dann doch kurz beschrieben werden, reicht auch das, um das Grauen plötzlich greifbar werden zu lassen. Mir laufen die Tränen über das Gesicht, neben mir weint eine Frau unaufhörlich.

Toten1 Maximilian Borchardt uAlina Kostyukova, Leonard Burkhardt und Annemarie Brüntjen © Maximilian Borchardt

Dann wird auch manchmal einfach nur geschwiegen. Es entstehen Pausen, die werden zusammen ausgehalten, von Spielenden und Publikum. Manchmal setzen sich die Darsteller*innen ans Klavier und spielen, während sie erzählen, weil es das erträglicher macht. Manchmal wird im Licht der Handytaschenlampen gesprochen, weil der Strom im Kriegsgebiet oft ausfällt und elektrisches Licht, auch jetzt hier im Theater, dann keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

Trauer – auch um verlorene Landschaften

In einer Szene wird an die Zeit vor dem Angriffskrieg erinnert. Wie die Autorin einmal mit ihren Freund*innen im Wald unterwegs war, um Pilze zu suchen. Wie sie furchtbar viele Pilze aßen und davon auf einen Drogentrip gerieten. Wie sie in Mariupol im Rausch anfingen, Bäume zu umarmen. Die eine schöne große Pappel zum Beispiel, vor dem Hotel "Matrose". Wir sehen auf der Leinwand ein Google-Maps-Bild von dieser Pappel, von dieser Straße, an der das Hotel steht. Bis klar wird, dass dieses Haus dort gar nicht mehr existiert, es auch die Pappel nicht mehr gibt. Aber wie erinnert man sich überhaupt an Häuser, wie trauert man um Bäume? Wie kann erinnert werden, wenn es noch nicht mal die Landschaft mehr gibt?

Irgendwann steht auf der Leinwand: "Die Vorstellung ist zu Ende. Sie können den Saal jetzt verlassen." Es ist konsequent, dass es keinen Applaus gibt, was sollte man hier auch zu beklatschen haben. Die weinende Frau dreht sich zu mir und entschuldigt sich für ihre Tränen, sie selbst komme auch aus der Ukraine. Ich sage "Please, no." Ich weiß nicht, was ich machen soll, also streichle ich ihre Schulter. So sitzen wir noch eine kleine Weile.

Ich denke in dem Moment, dass es vielleicht das ist, was Theater jetzt leisten muss. Einen Raum bereitzustellen, in dem erzählt, zugehört, gedacht und erinnert werden kann. Ein kurzer Ort des Innehaltens, das Geschenk der geteilten Aufmerksamkeit. Und das Bewusstsein, dass wir alle betroffen sind, weil wir alle Menschen sind.

 

Wie man mit Toten spricht
von Anastasiia Kosodii, übersetzt von Lydia Nagel
Regie: Anastasiia Kosodii, Bühne und Kostüme: Olha Steblak, Musik: Yuriy Gurzhy, Video: Nikolay Karabinovych, Licht: Björn Klaassen, Sarah Weiß, Dramaturgie: Nina Rühmeier.
Mit: Leonard Burkhardt, Annemarie Brüntjen, Alina Kostyukova.
Premiere am 22. April 2023
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de


Kritikenrundschau

“Die junge ukrainische Theaterautorin macht hier fast alles richtig”, schreibt Dietrich Wappler in der Rheinpfalz (24.4.2023). “Sie verzichtet darauf, mit faktenvollem Dokumentartheater aufzutrumpfen, listet keine Opferzahlen und Menschenrechtsverletzungen auf, erzählt dafür kleine Alltagsgeschichten, schleicht sich in nächtliche Wohnungen während des Luftalarms, besucht Orte, die es längst nicht mehr gibt, offenbart Träume, Gedanken, Zweifel und spricht mit toten Freunden.” Die Darsteller:innen “gönnen sich und dem Publikum die Zeit zum Verstehen und Nachdenken”. 

“Dass es schwierig sein kann, Krieg und dessen Auswirkungen auf die betroffenen Menschen bühnenwirksam zu zeigen, ist unschwer zu erkennen”, schreibt Alfred Huber im Mannheimer Morgen (24.4.2023). “Gelegentlich wirken Kosodiis Versuche, dafür neue Ausdrucksmittel einzuführen, etwas verkrampft. Dann fehlen ihr einfach die notwendigen inszenatorischen Visionen.” Den “beiden exzellenten Schauspielerinnen (Alina Kostyukova, Annemarie Brüntjen) und ihrem ebenso eindrucksvollen Kollegen (Leonard Burkhardt)” sei zu verdanken, “dass die szenischen Abfolgen nur selten stocken und die Gedankenfreiheit aller, der Zuschauer wie der Akteure, in diesem Grenzgebiet zwischen Magie und Realität erhalten bleibt”, so Huber. “Kosodiis unbestreitbare Fähigkeit, ein Menschenbild zu differenzieren und es vor falschen theatralisch ausgestellten Zuneigungen zu bewahren, ergibt immerhin eine ästhetische Qualität, die beides enthält: moralischer Anspruch und politische Aussage.”

Beklemmend sei die Atmosphäre, doch werde sie aufgebrochen durch einige flott dargebotene Popsongs, die eindrucksvoll vom (Über-)Lebenswillen der vom Krieg terrorisierten Menschen kündeten, schreibt Heribert Vogt in der Rhein-Neckar-Zeitung (25.4.2023). Insgesamt sei es trotz des Kriegslärms im Hintergrund ein eher stiller Theaterabend gewesen, "der den Toten nachlauschte". "Da versiegte manchmal auch einfach die Sprache in Passagen des ernüchterten Schweigens."

"Vorsichtig, tastend und respektvoll messen die drei Schauspieler*innen, von denen eine ebenfalls aus der Ukraine geflüchtet ist, einen möglichen Erinnerungsraum aus. Denn dass die Toten durch das Leben bestimmt werden müssen und nicht durch ihren Tod, dass es die ethische Aufgabe ist, aktiv an das Leben der Verstorbenen zu erinnern, ist die Motivation dieses Texts“, schreibt Eva Marburg in ihrer Theaterkolumne im Freitag (19/2023). "Es war erschütternd, wie Theater hier plötzlich über sich selbst hinauswies, indem es zu einem stillen, theatralen Gedenkort wurde."

Kommentare  
Wie man mit Toten spricht, Mannheim: Offenbarungseid?
"Ich denke in dem Moment, dass es vielleicht das ist, was Theater jetzt leisten muss. Einen Raum bereitzustellen, in dem erzählt, zugehört, gedacht und erinnert werden kann. Ein kurzer Ort des Innehaltens, das Geschenk der geteilten Aufmerksamkeit. Und das Bewusstsein, dass wir alle betroffen sind, weil wir alle Menschen sind." Das klingt rührend. Aber es camoufliert ein Problem. Warum gerade das Theater? Warum nicht die Schule? Oder der Nahverkehrszug? Oder das Stadion? Man kann ja seine Betroffenheit (ach, welch ein Wort!) bekunden, weil wir alle Menschen sind (Hans Joachim Schädlich sprach kürzlich mit guten Gründen vom"Tier, das man Mensch nennt"). Aber das bedeutet den Offenbarungseid der Kritik. (...)
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