Ich bin ein Dreck | Fabriktagebuch/Die Mutter – Brechtfestival Augsburg – Die Schauspielerinnen Stefanie Reinsperger und Corinna Harfouch schürfen Themenbergwerk Bertolt Brecht
Ich bin ein Dreck
von Jorinde Markert
Augsburg / online, 27. Februar 2021. Der schöne Satz im Titel entstammt einem Brecht-Gedicht aus dem "Lesebuch für Städtebewohner". Neben den Erzeugnissen des Big B (dem Einfluss auf die Hip Hop Kultur nachgesagt wird, weshalb man ihm wohl durchaus einen Nickname mit street cred verpassen darf), sind in dem Abend "Ich bin ein Dreck" bei der digitalen Edition des Brechtfestivals Texte von Margarete Steffin, Helene Weigel und Inge Müller zu hören; Schauspielerinnen, Intendantinnen, Schriftstellerinnen, darunter eine Geliebte und die Ehefrau des Big B.
Fräulein Else / Cecils Briefwechsel – Nationaltheater Mannheim – Zwei Inszenierungen experimentieren auf der Basis von Texten von Arthur Schnitzler und Necati Öziri mit analogen und digitalen Post-Theaterformen
Tiefer Fall ins Dunkle
von Verena Großkreutz
Mannheim / online, 27. Februar 2021. 2017 beging die 14-jährige Britin Molly Russell Suizid. Ihre Eltern gaben Instagram eine Mitschuld. Ihre Tochter sei über das Netzwerk und seine Algorithmen mit Suizid-Communitys in Kontakt gekommen. Ob auch die 19-jährige Else am Ende stirbt, bleibt nicht nur in der Instagram-Live-Performance des Mannheimer Nationaltheaters, sondern auch im Original am Ende offen: in Arthur Schnitzlers Monolog-Novelle "Fräulein Else".
Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten – Brechtfestival Augsburg – Tom Kühnel und Jürgen Kuttner schlagen mit Heiner Müller auf
Beschissen von den Überlebenden
von Max Florian Kühlem
Augsburg, 26. Februar 2021. Beim Brechtfestival in Augsburg ist dieses Jahr laut offizieller Verlautbarung "...nicht der Namensgeber des Festivals der Star, sondern die, die ihm zu seinem Ruhm verholfen haben. Frauen, die mit Brecht im Kollektiv gearbeitet haben, namentlich Helene Weigel, Elisabeth Hauptmann, Margarete Steffin und Ruth Berlau sowie weitere Persönlichkeiten, Künstlerinnen und Frauenfiguren, die in Beziehung zu Bertolt Brecht und seinem Werk stehen: Etwa Carola Neher, Marieluise Fleißer, Simone Weil und Inge Müller."
Home Away From Home – Hellerau Dresden / PACT Zollverein Essen – Fang Yun Lo untersucht online den Heimatbegriff vietnamesischer Migrant:innen in Taiwan und Deutschland
Im globalen Dreiländereck
von Falk Schreiber
Dresden / Essen / online, 26. Februar 2021. Wo befinden wir uns? In Dresden, eindeutig. Die Kamera fährt auf das Festspielhaus Hellerau zu, man sieht junge Menschen im Eingangsbereich, dann ist man auf der Bühne, auf die Cheng Ting Chen einen Parcours gebaut hat, ein Küchentisch, Bastmatten, sogar eine kleine Bar, an der Bubble Tea verkauft wird. Ein kleines Vietnam scheint hier in Sachsen nachgestellt zu werden, aber bevor man sich auf die Illusion eingelassen hat, springt die Kamera, ist plötzlich im echten Vietnam, und dann ist sie in Taiwan.
Isola – Staatstheater Nürnberg – Philipp Löhles Pandemie-Parabel aus der Biedermeier-Zeit kommt als Theaterfilm in der Regie von Jan Philipp Gloger zur Uraufführung
Pandemischer Biedermeier
von Steffen Becker
Nürnberg, 26. Februar 2021. Ein Stück über eine Pandemie, dessen erste Aufführung an einer Pandemie scheiterte. "Isola" – von Philipp Löhle für das Staatstheater Nürnberg geschrieben – entstand ab April 2020, wurde im Dezember abgesagt und erlebt nun als neu gestalteter Theaterfilm eine Streaming-Premiere – und "spiegelt die neue Lebensrealität in der Pandemie", wie es Schauspieldirektor und Regisseur Jan Philipp Gloger beschreibt.
Sunday Screenings – brut Wien – Drei Online-Premieren von Claire Lefèvre, Jan Machacek und Oliver Stotz, Oleg Soulimenko und Jasmin Hoffer
Let's Flausch
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 21. Februar 2021. "Cotton Candy, Marshmallow, Kittens", setzt Claire Lefèvre mit ihrer Aufzählung ein. Mit der langen Liste ihrer "Favorite Things" perforiert Lefèvre mit sonorer Stimme das Lullaby-Dröhnen von Soundkünstler*in Zosia Hołubowska. Beide sitzen in geblümten gepolsterten Jacken am Bühnenboden vom Studio brut. Ich, im Einführungsgespräch dazu eingeladen es mir beim Videoschauen bequem zu machen, am Sofa zuhaus. So wie schon letzten Sonntag und am vorletzten auch. Weil: Unter dem Titel "Sunday Screenings" macht das brut Wien im Februar jede Woche eine Onlinepremiere, insofern bis jetzt drei. Lauter Filmversionen von im Winter abgesagten Live-Projekten, alle frei verfügbar bis zum Sommer.
Anthropos, Tyrann (Ödipus) – Volksbühne Berlin – Alexander Eisenach und das Theater des Anthropozän bringen die Klimakatastrophe brutal nahe
Untergang, live und in Farbe
von Andrea Heinz
Berlin / Online, 19. Februar 2021. Fangen wir gleich damit an: Mit "Anthropos, Tyrann (Ödipus)" ist der Volksbühne ein richtig großer Wurf gelungen. Gemeinsam mit dem Theater des Anthropozän der Humboldt Universität, mit der Meeresbiologin Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts Bremerhaven (AWI) und Mitverfasserin der Stellungnahme "Klimaziele 2030: Wege zu einer nachhaltigen Reduktion der CO2-Emissionen" der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, und dem Dramaturgen Frank Raddatz verkündet Regisseur Alexander Eisenach "die Wiederauferstehung der Tragödie". Wobei die ja streng genommen nie tot war, ist unsere Gegenwart doch eine einzige Tragödie: Wir schauen, "live und in Farbe", wie es im Stück einmal heißt, zu beim Untergang, aber laufen lieber sehenden Auges hinein, als ernsthaft etwas dagegen zu unternehmen. Wie Menschen halt so sind.
La Clemenza di Tito – Grand Théâtre de Genève – In seiner ersten Opernregie will Milo Rau Kunst und Realität aufeinandertreffen lassen
Verlogene Toleranzattitüde
von Verena Großkreutz
Genf / Online, 19. Februar 2021. Das Herz macht sich gut. Wie eingefroren steht es da. Gegossen in Glas. Ausgestellt als Kunst. Das Herz bleibt als griffiges Bild omnipräsent in Milo Raus Genfer Inszenierung von "La Clemenza di Tito", Mozarts letzter Oper, einer Seria, komponiert 1791, in Zeiten der Französischen Revolution, für die Prager Kaiserkrönung Leopolds II. Das Herz, das gleich zu Beginn einem kräftigen Mann aus dem Körper gerissen wurde, geht im Verlauf des Abends auf der Bühne von Hand zu Hand. Eine blutige Metapher für alles Leid dieser Welt, das durch die Kunst in bare Münze verwandelt wird.
Gott ist nicht schüchtern – Werk X Petersplatz – Inwiefern sich Olga Grjasnowas Roman über den Syrienkrieg für die Bühne eignet, testet Regisseurin Susanne Draxler
Lost in Adaptation
von Martin Thomas Pesl
Wien, 18. Februar 2021. Die erste Szene ist stark. "Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?", fragt die Frau im blütenweißen Hosenanzug den ebenso strahlend gekleideten Mann. Sie flüstert ihm etwas ins Ohr, wie Bill Murray einst Scarlett Johansson in "Lost in Translation", wir hören nicht, was. Seine Miene verdüstert sich. "Ist vielleicht auch besser so", sagt er. Das ist geheimnisvoll, ein Vorgriff mit Spannungspotenzial. Hernach wird man sehen, wie die Beteiligten nach und nach bis hierher kamen. Am Ende erlebt man die Szene noch einmal, nur ergibt sie da plötzlich keinen Sinn mehr.
Submarie 8 – Theater Chur – Meret Matter schickt die freie Gruppe Club 111 auf eine actionreiche Gerechtigkeitsmission
TKKG – Das Musical
von Falk Schreiber
Chur / online, 18. Februar 2021. "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich", verspricht Artikel 8 der Schweizerischen Bundesverfassung. Schöne Worte sind das, die aber zugleich vereinbar zu sein scheinen mit obszönem Wohlstand Weniger, beunruhigender Diskretion und teils zweifelhaftem Geschäftssinn.
Metamorphosen (overcoming mankind) – Volksbühne Berlin – Claudia Bauer & Co. spannen ihren erzählerischen Bogen mit Ovid von der Schöpfung bis zur Überwindung des Anthropozentrismus
Willkommen im Zeitalter der seltenen Erden, Ihr Kackbratzen!
von Elena Philipp
Berlin / Online, 12. Februar 2021. Die Schöpfung beginnt auf der Hinterbühne. Ratzfatz geht sie voran, noch bevor der Abend richtig beginnt: Textbuch zwischen die Zähne geklemmt, Handtasche übers Handgelenk, das Chaos gelichtet, die Erde in den Raum gehängt und die Gebirge aufgetürmt: "Stille! Was ist das hier für ein permanentes Hintergrundgemurmel?", raunzt Katja Gaudard als Gott in die letzten Handgriffe vor Vorstellungsbeginn. "Ich versuche etwas zu erschaffen." Goldenes Zeitalter, bam! Zeugung des Menschen – zack! Und schon stürzen die Spieler*innen durch eine Schwingtür auf die Vorderbühne: Das Spiel nimmt seinen Lauf.
Die Recherche-Show – Volkstheater Wien – Ed. Hauswirths kollektiver Doku-Abend über "Red Bull" und Dietrich Mateschitz eröffnet die Wiener Intendanz von Kay Voges im Livestream
Zoom verleiht Flügel!
von Gabi Hift
Wien, 12. Februar 2021. "Guten Abend! Wir glauben nicht daran, dass es jemals wieder Live Theater geben wird." So begrüßt die Moderatorin Pia Hierzegger ihre schaudernden Gäste zur Zoom-Session. "Deshalb haben wir ins Theater Fernsehstudios eingebaut. Und einmal im Monat hüpfen wir aus unseren Pyjamas und machen für Sie eine Show."
Krasnojarsk – Schauspielhaus Graz – Aus einem Endzeit-Stück von Johan Harstad wird Virtual Reality für daheim
Kreuzberg nach der Apokalypse
von Reinhard Kriechbaum
Graz, 12. Februar 2021. Der Fahrradbote klingelt – und er bringt ein ganzes Theater nach Hause, sprich: die deutschsprachige Erstaufführung von "Krasnojarsk" von dem norwegischen Autor Johan Harstad. Man bekommt, wohl verpackt in einer stoßsicheren Box, eine VR-Brille, einen Controller (eine Kreuzung aus Maus und Lichtzeiger zum Ans-Handgelenk-Hängen) und ein USB-Kabel zum Nachladen. Es könnte ja der Strom ausgehen, bevor man die Weltuntergangsgeschichte hinter sich oder, schlimmer noch, bevor man die Virtual Reality überhaupt ins Laufen gebracht hat.
Wasted – Landestheater Detmold – Magz Barrawasser zeigt mit Kae Tempest die Dürftigkeit der Generation Ü30
Koma to go
von Dorothea Marcus
Detmold, 11. Februar 2021. Erst eine Runde Schnick Schnack Schnuck spielen, dann losrasen, egal, wohin. In eine beliebige Lebenslotterie gewürfelt sind die Drei aus "Wasted", jenem ersten Theaterstück der britischen Ausnahmepoetin, die früher Kate Tempest war und sich heute non-binär identifizieren und Kae Tempest nennen. Gar nicht so einfach, das korrekt zu gendern, Tempest selbst jedenfalls wollen in der 3. Person Plural "sie" genannt werden, was sich grammatikalisch schwierig anfühlt, aber hiermit versucht wird.
Faust II – Theater Freiburg – Krzysztof Garbaczewski verlegt Goethes Tragödie in die virtuelle Realität
Homunkulus' schöne neue Welt
von Falk Schreiber
Freiburg / Online, 10. Februar 2021. Faust ist ein Wanderer. In "Der Tragödie zweitem Teil" wandert der Held durch Romantik und Klassik, durch deutschen Wald und griechisches Gebirge, durch Mittelalter und Moderne, durch Antike und Gegenwart. Bei Krzysztof Garbaczewski wandert Thieß Brammers Faust durch das Theater Freiburg: durch den leeren Saal, durch Pfützen auf der Bühne, schließlich über eine höhlenartig dunkle Hinterbühne und durch schmucklose Verbindungsgänge. Um irgendwann im virtuellen Raum zu landen, den man auch in Südbaden als pandemiesicheren Rückzugsort fürs Theater erkannt hat.
Flüstern in stehenden Zügen – Münchner Kammerspiele – Visar Morina inszeniert Clemens J. Setz' Callcenter-Tech-Nerd-Stück im Online-Theaterfilm zwischen Vollbild- und Stories-Format
Derselbe fucking Planet
von Martin Thomas Pesl
München / Online, 7. Februar 2021. Ganz richtig fühlt sie sich noch nicht an, die derzeitige Normalität, in der es möglich ist, in Wien an einer Premiere im Werkraum der Münchner Kammerspiele teilzunehmen. Es ist mind-blowing und verstörend und irgendwie auch Gegenstand jenes Stückes, das hier eigentlich zur Uraufführung kommen sollte, nun aber stattdessen vorerst gestreamt, verfilmt, verlivetheaterfilmt wird: "Flüstern in stehenden Zügen" von Clemens J. Setz handelt von diesen Firmen, die E-Mails mit bedrohlichen Szenarien – Stromabschaltung, Computerviren – und einer Telefonnummer verschicken. Die Nummer führt in ein Callcenter, wo sich jemand als "Ulrich Müller" vorstellt und in gebrochenem Deutsch oder Englisch die Behebung des Problems infolge einer monetären Transaktion verspricht.
Heldenplatz – Landestheater Salzburg – Alexandra Liedtke inszeniert Thomas Bernhards Skandalstück mit Starbesetzung
Weil der Nazigeist weiterlebt
von Thomas Rothschild
Salzburg / Online, 6. Februar 2021. "Am liebsten würden sie / wenn sie ehrlich sind / uns auch heute genauso wie vor fünfzig Jahren / vergasen / das steckt in den Leuten / ich täusche mich nicht". An diesem Satz muss nur die Zahl korrigiert werden. "Wie vor achtzig Jahren" muss es heißen. Ansonsten hat der Befund, den Thomas Bernhard seinem Professor Robert Schuster in den Mund legt und den eine beharrliche Konvention als "Übertreibung" zu relativieren versucht, nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt. August Zirner spricht ihn, die linke Hand in der Manteltasche, in der rechten ein verwelktes Herbstblatt, fast beschwörend zu seiner Nichte Olga, die auf der Straße bespuckt wurde, aber die Wirklichkeit nicht wahr haben möchte.
Challenge Accepted! Ich bin – Theater der Jungen Welt Leipzig – Jana Zöll hinterfragt auf Zoom in ihrer Lecture-Performance Kategorisierungen
Etwas ist faul am Status Quo
von Georg Kasch
Leipzig / Online, 5. Februar 2021. Kategorien, Einordnungen, Schubladen? Helfen kaum weiter, wenn es um Menschen geht. Und doch labeln wir alle, jeden Tag: unterscheiden zwischen Mann und Frau, groß und klein, hässlich und schön. Nach eigener Erfahrung, Prägung, Bauchgefühl. Und dann passiert es, dass wir zum Beispiel Menschen mit Behinderung entweder als unzulänglich entwerten oder als Helden mystifizieren. Weil sie im Rollstuhl sitzen. Weil ihr Körper nicht der Norm entspricht. Und weil sie "trotzdem" ihr Leben leben.
(R)EVOLUTION. Eine Anleitung zum Überleben im 21. Jahrhundert – Neue Bühne Villach – Michael Wegers Zweitaufführung einer Stückentwicklung von Yael Ronen und Dimitri Schaad
Die Sklaven der Dinge
von Christian Rakow
Villach / Online, 5. Februar 2021. Nach Kärnten bin ich nie gekommen. Und mithin nie zur Neuen Bühne im 62.000-Seelenort Villach. Erst dieser zweite Corona-Lockdown macht es möglich, jetzt da Theater in wachsender Zahl auf Onlinepremieren ausweichen: gestreamt aus leeren Sälen, für Zugeschaltete von irgendwo. In meinem Falle aus Berlin.
Die Verwandlung – Deutsches Nationaltheater Weimar – Juliane Kann inszeniert für den Onlinespielplan einen Lockdown-Kafka voller Pandemie-Stille
Gregor Samsa in Quarantäne
von Matthias Schmidt
Weimar, 4. Februar 2021. "Wie aber", resümiert Gregor Samsa, sich in seinem Käfer-Dasein langsam einfindend, "wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen sollte!" Man sitzt, statt im Theater, vor seinem Monitor und denkt sich, schöner als Kafka kann man es nicht sagen. Die Gewissheiten haben ein Ende. Vorübergehend, das ist die Hoffnung. Das dachten Samsas Eltern und seine Schwester allerdings auch …
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