Im Dissens vereint

8. Mai 2024. In Wien starten die Festwochen traditionell mit der "Rede an Europa", eine Tradition, die auch der neue Intendant Milo Rau nicht antastete. Allerdings spielte er mit den Emotionen – und es brach ein Sturm der Empörung über den Redner Omri Boehm herein. Zu Recht?

Von Gabi Hift

Proteste rund um die "Rede an Europa" bei den Wiener Festwochen 2024 © Gabi Hift

8. Mai 2024. Milo Rau, neuer Intendant der Wiener Festwochen, plaudert bei einer Pressekonferenz anlässlich der Rede an Europa, mit der die Festwochen traditionell schon vor der eigentlichen Eröffnung eingeleitet werden, aus dem Nähkästchen des professionellen Provokateurs: "'Omri Boehm?', habe ich gefragt, als ihn jemand vorgeschlagen hat, 'ist der nicht viel zu versöhnlich? Sollten wir nicht jemand mit einer fragwürdigeren Position einladen?'" Damit sorgt er für Lacher, denn die Empörungsmaschine läuft schon seit Tagen heiß. 

Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (JKG) behaupteten, der israelische Philosoph Boehm sei Antisemit und relativiere den Holocaust. Ihn ausgerechnet am Judenplatz, vor dem Mahnmal für die Opfer der Shoa, sprechen zu lassen, sei ein Affront. Als die Festwochen sich weigerten, den Ort zu wechseln, sprang der Hauptsponsor, die Erste Österreichische Sparkasse, ab. Das Jüdische Museum wollte auch nicht mehr mitorganisieren und hisste auf seiner Fassade ein Banner mit der Aufschrift: "Dämonisierung Israels ist Antisemitismus". Der frühere IKG Präsident Ariel Muzicant verkündete sogar über die Zeitung Kurier, dass er, wäre er dreißig Jahre jünger, bei der Rede mit faulen Eiern schmeißen würde.

Cancel-Debatte als Wiener Farce

Am Tag vor der Rede präsentierte Omri Boehm zusammen mit Daniel Kehlmann im knallvollen Wiener Volkstheater ein Buch, das die beiden gemeinsam verfasst haben: "Der bestirnte Himmel über mir. Gespräche über Kant". Zum Auftakt witzelte Kehlmann, in Österreich würden alles zur Farce, selbst die Cancel-Debatten. In Deutschland würde man sich wenigstens irgendwas aus einem Werk herauspicken, an dem man seinen Vorwurf aufhängen könne. Die Herren von der IKG seien hingegen auf typisch Wienerische Art ganz ohne Argument ausgekommen, hätten wohl nur irgendwo gehört, dieser Boehm sei "ganz ein Arger", das habe ihnen gereicht.

Bei der Buchvorstellung im Volkstheater bekommt man statt eines Skandals ein hochkomplexes philosophisches Gespräch geboten. Omri Boehm ist leidenschaftlicher Kantianer und führt in die "anarchistischen Kompromisslosigkeit" von Kants Gedankengebäude ein. Darauf begründet er seine Position des radikalen Universalismus. Sie geht davon aus, dass alle Menschen gleich geboren seien, "that all men are born equal" – daher wendet er sich grundlegend gegen jede Identitätspolitik, egal ob sie aus der rechten, nationalistischen oder aus der postkolonialen Ecke kommt.

Pressekonferenz Omri Boehm c Franzi Kreis 9Omri Boehm und Milo Rau bei der Pressekonferenz zur Eröffnung der Wiener Festwochen 2024 ©  Franzi Kreis

Für Boehm steht der Satz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar" im Zentrum seines Denkens. Und er folgt Kant, den "das moralische Gesetz in mir" ebenso mit Ehrfurcht erfüllte "wie der bestirnte Himmel über mir". Dieses moralische Gesetz hält Kant für a priori in allen Menschen gleichermaßen verankert, es bedeutet den Vorrang der Gerechtigkeit. Und dieses innere moralische Gesetz steht über jedem äußeren – auch göttlichen – Gesetz. Das ist das, was Hannah Arendt als "Pflicht zum Ungehorsam" bezeichnet.

Aus dieser Position hat Omri Boehm die Utopie für Israel entwickelt: keine Zweistaatenlösung, sondern ein einziger, föderaler Staat, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt zusammenleben. Er sieht das ausdrücklich als Utopie, aber als eine, die man als Vision vor sich haben müsse. Und ihm ist bewusst, dass daher die Anschuldigungen kommen, er stelle das Existenzrecht Israels in Frage.

Tumult am Judenplatz

Am nächsten Abend marschieren am Judenplatz Polizei, Soldaten und Verfassungsschützer auf und wappnen sich gegen einen Tumult. Der Titel von Omri Boehms Rede lautet: "Shadows of History, Spectres of the Present: The Middle East War and Europe's Challenge". Schatten der Geschichte, Geister der Gegenwart: Der Krieg in Nahost und die Herausforderung für Europa. Tatsächlich erscheinen Protestierende mit Plakaten. Es sind hauptsächlich junge Juden und Jüdinnen, sie halten ihre Plakate schweigend hoch und blockieren die Sicht auf den Redner. Es sind viele Plakate, die die Rückholung der Geiseln fordern. "Bring them home", "innocent life is non-negotiable".

Plakate vor Bohm CGabiHiftVerzweifelte protestieren, Plakate verbergen den Redner Omri Bohm ©Gabi Hift

Manche protestieren auch gegen die Einladung der Autorin Annie Ernaux, die den BDS unterstützt, und des Politikers Yanis Varoufakis, der gesagt hat, er könne "bewaffneten Widerstand gegen einen Apartheidstaat" nicht verurteilen. Beide sind von Milo Rau als Ehrenmitglieder in den "Rat der Republik" geladen, der die ganzen Festwochen über tagen soll. (Und der Verdacht, dass Raus Lust an der Provokation dabei zumindest auch eine Rolle gespielt hat, liegt nahe).

Die ernsthaften und verzweifelten jungen Menschen mit ihren Plakaten merken nicht, dass Omri Boehm in seiner Rede all ihre Forderungen unterstützt. Er sagt mehrmals zu ihnen: "Ich höre euch. Hört ihr mich?" Aber sie sind eingesponnen in die Protest-Aufgabe, die sie sich vorgenommen haben, und nehmen nichts wahr.

Das Sprechen über Geschichte verändern

Schwer zu sehen, aber gut zu hören, hält Omri Boehm eine enorm komplexe Rede, in der er im Licht seiner Utopie viele Positionen scharf kritisiert. Er hält den linken Kritikern der israelischen Politik vor, dass es nicht genügen werde, den Ministerpräsidenten Netanyahu zu kritisieren. Um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, müssten deren Voraussetzungen in Frage gestellt werden. Auseinandersetzung mit der Geschichte sei notwendig, aber nicht hinreichend für die Arbeit an der Zukunft. Der Philosoph, der für sein Buch "Radikaler Universalismus. Jenseits der Identität" kürzlich mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde, plädiert dafür, bestimmte Formen des Sprechens über historischen Kontext zu verwerfen. Abzulehnen sei die Instrumentalisierung der eigenen Geschichte als Grundlage für Gewalttaten.

In seiner Utopie eines föderalen Staates, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt zusammenleben, müsse es eine Anerkennung der Traumata geben, so Boehm weiter. Die Verleugnung des Holocaust von arabischer Seite wäre in einem solchen Staat nicht möglich, sie wäre ein Verbrechen. Gleichzeitig müssten die Juden das Trauma anerkennen, das die Nakba für die Palästinenser bedeutet.

Europa trägt Verantwortung

Dieser Gedanke hat Empörung bei Vertretern der jüdischen Kultusgemeinde ausgelöst, sie sehen darin eine Gleichsetzung des Holocaust mit der Nakba. Omri Boehm wendet sich scharf gegen diesen Vorwurf. Es müsse für das Zusammenleben eine Form gefunden werden, die eigene traumatische Geschichte zu thematisieren, ohne die Traumata anderer Gruppen zu verleugnen und ohne das Sprechen über die eigene Geschichte als Rechtfertigung für Gewalt zu nutzen.

Omri Boehm spricht von der Europäischen Union, die ein Vorbild für einen föderal organisierten Staat sein könnte, in dem Juden und Palästinenser zusammen leben. Europa müsse seine eigenen Ideale allerdings nicht nur nach innen propagieren, sondern sie universal ernst nehmen, so Boehm. Es dürfe nicht zusehen, wenn Länder ihre nationalen Interessen über die Menschenwürde stellten – Europa müsse sich für die Lage in diesen Ländern auf Grund der Geschichte verantwortlich fühlen und die Art und Weise, wie es mit der Verantwortung umgehe, permanent selbst hinterfragen. Europa trage Verantwortung dafür, die Widersprüche zu überwinden, die sich aus der Geschichte des Kolonialismus auf der einen Seite und der Geschichte der Vernichtung der Juden auf der anderen ergäben.

Moment kollektiven Denkens

Dieser wie auch andere Gedankengänge sind kompliziert, aber die Aufzeichnung von Omri Boehms "Rede an Europa" ist ab morgen auf der Seite der Wiener Festwochen nachzuhören. Wie steht es nun aber um den so umstrittenen Gehalt von Omri Boehms Rede? Viele seiner Ansätze sind tatsächlich kontrovers. Während man ihm zuhört, raucht einem das Hirn. Es ist aber keine Rede, die nach bedingungsloser Zustimmung verlangt. Sie regt zum eigenständigen Denken an, zum Ausstieg aus der Unmündigkeit als Anhänger vorgefundener Positionen – und folgt damit der Forderung Kants.

Omri Bohm CGabiHiftOmri Bohm bei seiner Rede auf dem Wiener Judenplatz © Gabi Hift

Während man zunächst vom Publicity-Aspekt der Provokation irritiert sein konnte, den insbesondere Milo Rau so offensichtlich genießt, so war es letztlich doch ein außerordentlicher Moment kollektiven Denkens. Es war auch berührend, den schweigenden Demonstranten gegenüberzustehen, die zwar nicht zuhören konnten in ihrer Anstrengung, aber eine ganze Stunde all den Menschen gegenüberstanden, die ihnen eigentlich wohl wollten – und einer sehr besonnenen, höflichen Polizei, die lediglich versuchte, der Fernsehkamera eine Gasse zu schaffen.

Den meisten auf dem Platz Versammelten muss zu Bewusstsein gekommen sein, wie privilegiert wir hier in Wien sind, wie sicher, und dass uns das tatsächlich verpflichtet, über unsere Verantwortung nachzudenken – auch, falls wir den Vorschlägen von Omri Boehm nicht oder nicht in allem folgen wollen. Damit hat die Veranstaltung viel erreicht, und das Zusammenspiel aus geplanter Provokation und reflexartigen Protesten hat tatsächlich für eine Stunde eine Art Gemeinschaft im Dissens hervorgebracht.

 

Gabi Hift studierte Schauspiel, Medizin und Psychologie, arbeitete am Psychiatrischen Krankenhaus Gugging und war Ensemblemitglied am Volkstheater Wien, Kleisttheater Frankfurt / Oder und am Staatstheater in Schwerin. Bis 2014 war sie Leiterin der Berliner freien Gruppe Hift&Niederkirchner. Gabi Hift schreibt Stücke, Drehbücher, Kurzgeschichten und Kritiken. Sie lebt als freie Autorin und Regisseurin in Berlin und Wien.

 

Kommentare  
Boehm bei den Wiener Festwochen: Presse-Artikel
Aus der Presse, Artikel von Florian Markl am 6.5.:
Unter der Intendanz von Milo Rau stellen die Wiener Festwochen unter Beweis, dass auch im österreichischen Kulturbetrieb Israel-Feindschaft zum guten Ton gehört.
(. . .) Nach dem Massaker am 7. Oktober hatte Varoufakis sich nicht nur nicht von der Hamas distanziert, sondern ausdrücklich festgehalten, dass er diese „niemals verurteilen“ werde.(. . .)Mit Blick auf Österreich und Deutschland behauptete Rau, „Kritik an der Politik Israels … ist in beiden Ländern per Parlamentsbeschluss verboten.“
Auch das ist nachweislich die Unwahrheit: Der deutsche Bundestag und der österreichische Nationalrat haben zwar die Israel-Boykott-Bewegung BDS – völlig zu Recht – als antisemitisch eingestuft und dazu aufgerufen, ihr keine staatlichen Mittel zukommen zu lassen, aber selbstverständlich gibt es kein Verbot von Kritik an der Politik Israels.(. . .)
Auftritt Omri Boehm
Eine Art von Israelis gibt es immerhin, die im Kunstbetrieb, und damit auch bei den Wiener Festwochen, wohlgelitten sind: solche nämlich, die in die Verdammung des jüdischen Staates einstimmen und den „Israel-Kritikern“, Terror-Apologeten und Boykott-Befürwortern genau das erzählen, was sie hören wollen. So jemand also wie der Philosoph Omri Boehm, der am Dienstag im Rahmen der Festwochen eine „Rede an Europa“ halten wird.
Boehm bringt alles mit, dessen es bedarf, um die Rolle des Kronzeugen bestens auszufüllen: Als „israelischer Jude“, wie Intendant Milo Rau betont, hat er seine ­„Israel-Kritik“ in Buchlänge ausgewälzt („Israel – eine Utopie“). Herausgekommen ist dabei ein typisches Beispiel für die „alternativen Fakten“, die unter Israel-Feinden gang und gäbe sind.
In Boehms Darstellung des palästinensisch-israelischen Konflikts tritt die arabische Seite als Opfer in Erscheinung, die Israelis dagegen fast durchgängig als Täter. Die arabischen Kriege gegen Israel, der arabische/islamische Antisemitismus, der jahrzehntelange palästinensische Terror gegen Israel, all das spielt für Boehm keine Rolle, der ganze Konflikt mutiert bei ihm zu einer Abfolge bösartiger israelischer Machenschaften gegen ganz und gar unschuldige und für nichts verantwortliche Palästinenser. Um eine derartig einseitige und verzerrende Geschichte erzählen zu können, bedient er sich einer Vielzahl von Manipulationen, Auslassungen und Umschreibungen der Geschichte.
„Holocaust-Messianismus“
Ein besonderer Dorn im Auge ist ihm dabei das Gedenken an den Holocaust. Dass Juden aus der systematischen Massenvernichtung den Schluss gezogen haben, einen eigenen Staat zu brauchen, der sie vor mörderischem Antisemitismus schützen kann, ist für Boehm geradezu die Wurzel allen Übels, Grundlage eines „angstbasierten mythologischen Holocaust-Messianismus“, als den er den Zionismus diffamiert.
Israel dürfte es Boehm zufolge jedenfalls gar nicht geben, zumindest nicht, solange es sich als Nationalstaat des jüdischen Volkes versteht. Genau das macht Boehm für Israel-Feinde und Boykottbefürworter so interessant: Ein Israeli, der behauptet, Israel sei ein Land der Täter und müsse „überwunden“, also beseitigt, werden, und statt über den Holocaust müsse viel mehr über den Kolonialismus geredet werden, was können sie sich Besseres wünschen?
Nur wenige Monate nach dem größten Massaker an Juden seit dem Ende der Shoah, inmitten einer erschreckenden Welle des Antisemitismus, in der Israel-Hasser weltweit für die Vernichtung Israels auf die Straße gehen, lassen die Wiener Festwochen am Judenplatz, an dem der Auslöschung der Wiener jüdischen Gemeinde im 15. Jahrhundert und der Opfer des Holocaust gedacht wird, jemanden eine Festrede halten, der gegen das Holocaust-Gedenken wettert und Israel beseitigen will. Mit dieser Art Offenheit stellen sie die Richtigkeit des Bonmots unter Beweis: Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht.(. . .)
https://www.diepresse.com/18438150/festwochen-israel-wird-zum-land-der-taeter-erklaert
Boehm bei den Wiener Festwochen: Gespenster
Ist das die offizielle Übersetzung von Boehms Rede? So oder so ist sie falsch: Spectres sind nicht Geister, sondern Gespenster. Ein Gespenst geht um in Europa, nicht ein Geist. Ist etwas anderes.
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