Dahin, wo's wehtut

17. August 2023. Die Theaterräume der Choreografin und Regisseurin Gisèle Vienne sind Kunstwerke aus Licht, Nebel und in Zeitlupe berstenden Körpern. Bei der Ruhrtriennale werden die Traumata ihrer Figuren auch diesmal schmerzlich greifbar. Wieder mittendrin: Frankreichs Schauspiel-Superstar Adèle Haenel.

Von Sarah Heppekausen

"Extra Life" in der Regie von Gisèle Vienne bei der Ruhrtriennale © Katrin Ribbe

17. August 2023. Der Nebel wabert bereits im Raum, schon vor Beginn der Inszenierung, und er wird die nächsten zwei Stunden weiterwabern, den kargen, steinigen Boden bedecken, Wolken bilden, Sicht verschleiern, die düster-schwüle Stimmung verstärken. Bis zwei Gestalten im schwarzen Auto sichtbar werden, dauert es eine Weile. Seelenseziererin Gisèle Vienne lässt sich Zeit – Zeit und Raum für Atmosphären und Bilder, die sich eingraben in die Netzhaut und tiefer, mitten rein in den Magen. 

2021 verdichtete die französisch-österreichische Choreografin und Regisseurin Robert Walsers prägnantes, beinahe mythologisch anmutendes Familiendrama "Der Teich" in eine kaum mehr aushaltbare Szenerie. Da täuscht der sich ungeliebt fühlende Sohn einen Selbstmord vor. Bei Vienne formulierten die Körper zurückgehaltene Gefühle, zelebrierten das Leiden, sie schrien in zäher Diskretion. Auch Inzest und Missbrauch deuteten diese Körper an.

Der wunde Mensch

Jetzt, in ihrer neuen Arbeit "Extra Life", die bei der Ruhrtriennale uraufgeführt wurde, ist der sexuelle Missbrauch von Kindern das zentrale Thema. Die beiden Gestalten im Auto sind Geschwister, die sich nach einer durchfeierten Partynacht treffen, Chips essen, Radio hören. Und die die Übergriffe ihres mittlerweile verstorbenen Onkels endlich als solche verstehen, begreifen können und müssen. So klar, wie es jetzt hier vielleicht klingt, ist die Situation allerdings nicht. Vienne erzählt keine (Lebens)Geschichte, sie macht Zustände, denen der wunde Mensch ausgesetzt ist, wahrnehmbar. Sie zeigt Körperexplosionen in Zeitlupe.

Ein Funken Hoffnung: Theo Livesey, Katia Petrowick, Adèle Haenel © Katrin Ribbe

Wie in ihren vorangegangenen Arbeiten bewegen sich die Darsteller*innen im Slow-Motion-Modus. Wenn Theo Livesey aus dem Auto steigt und verlangsamt durch den Nebel schreitet, wird der raue Nicht-Ort im Salzlager der Essener Zeche Zollverein zur Mondlandschaft und er zum "Captain", der sich aus dem grauenvollen Zimmer seiner Kindheit in einen intergalaktischen Ausflug mit Onkel Jacky flüchtet. Aber auch dieses Bild klingt schon wieder zu konkret. Vienne legt Psychogramme frei in all ihrer verstörenden Unfassbarkeit. Wenn Katia Petrowicks Bewegungen aus dem starren Roboter-Move umschlagen in geschmeidige, zügige Schritte, nur um schnell wieder zurückzufallen in die kontrolliertere Haltung, dann ist ihr Körper ein im Ablauf gestörter, ein zutiefst verletzter. Wenn Adèle Haenel – regelmäßige Vienne-Darstellerin und Frankreichs gefeierte Kino-Schauspielerin – am Boden liegt, den Arm über ihren Kopf gebeugt, lange, regungslos, dann hat sich ihr Körper ausgeschaltet, als müsse er dann nichts mehr spüren. Und wenn sich zwei der Darsteller*innen körperlich nähern, zögernd, zitternd berühren, dann ist dieser Schmerz in jeder Zärtlichkeit sichtbar.

Tänze zwischen Mauern aus Nebel

Jede Bewegung ist bei Vienne eine präzise choreografierte, jeder Schritt geplant, jeder Blick kontrolliert. Und genau abgestimmt mit der elektronischen Musik von Synthesizer-Komponistin Caterina Barbieri und einer Licht-Show aus Spots und Laserstrahlen, die Ebenen zeichnet und Räume erschafft. Mal erscheint ein Netz, mal tanzt Katia Petrowick zwischen grünen Nebelschwaden-Mauern.

Sprache verwendet Vienne sparsam. Aber Sätze wie "Er hat uns zerstört. Und wenn alle Kinder tot waren, durften wir unseren Lieblingsfilm gucken" reichen für ein ganzes Gefühlsuniversum, das auf der Bühne sicht-, hör- und auf erdrückend-beeindruckende Art spürbar wird. Wie eine zaghafte Befreiung wirkt zum Ende bloß der Tanz der drei zum "Lieblingslied" in ihren goldenen Tops und Discokugel-Glitzer-Jacken. Aber auch diese Bewegungen bleiben im Nebel.

 

Extra Life
von Gisèle Vienne 
Uraufführung
Konzept, Choreografie, Regie, Szenografie: Gisèle Vienne, Originalmusik: Caterina Barbieri, Sounddesign: Adrien Michel, Licht: Yves Godin, Text: Adèle Haenel, Theo Livesey, Katia Petrowick in Zusammenarbeit mit Dennis Cooper, Kostüme: Gisèle Vienne, Camille Queval.
Kreiert mit und performt von: Adèle Haenel, Theo Livesey, Katia Petrowick.
Premiere am 16. August 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.ruhrtriennale.de


Kritikenrundschau

"Mit galligem Humor setzt Gisèle Vienne ihr großes Thema: die Gewalt, oft eben auch sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, und vor allem: Was sie mit den Menschen macht", schreibt Nicole Strecker im Kölner Stadt-Anzeiger (19.8.2023). Der Albtraum lasse sich auf der Bühne Zeit, "alles vollzieht sich in Slowmotion, die Bewegungen der Performer genauso wie das fantastische Licht". Nach dem textlastigen Einstieg verliere sich bald schon die Sprache, und das Geschwisterpaar steigt aus dem Auto in eine eisig-graue Mondlandschaft. "Mühsam ist jeder Schritt, als hätten die drei Performer bleischwere Astronautenstiefel an." Vienne erzähle von der Weltflucht der Traumatisierten, von ihrem Abdriften in die Welt des Gamings, der Drogen. "Solche psychosozialen Analysen könnten platt wirken, würde Gisèle Vienne dem nicht ihre bewährte radikale Ästhetisierung entgegensetzen" .

"'Extra Life' adressiert nicht den Kopf, sondern Auge, Ohr, Bauch und findet darin eine sinnliche Wirkmächtigkeit, die von deutlichen Längen nicht geschmälert wird", schreibt Kai-Uwe Brinkmann in den Ruhr Nachrichten (18.8.2023). "Ein Drama gequälter Seelen zwischen Performance, Tanz, Schauspiel, in seiner technischen Umsetzung imponierend."

In der WAZ (18.8.2023) berichtet Pedro Obiera von einer "künstlerisch überragenden Kreation, die allerdings durch ihre überdehnte Länge und zu viele nebulöse Episoden an Wirkung und Spannung verliert".

In "Extra Life" begegnet Jakob Hayner von der Welt (21.8.2023) "nicht das Extraterrestrische, sondern das rätselhafte Unbewusste". Zu sehen sei unter anderem "der wohl herrlichste Trockeneisexzess seit Katrin Bracks 'Iwanow'". Die Arbeit ist für den Kritiker in seinem Überblickstext gleich anderen Stücken der diesjährigen Ruhrtriennale eine "bezaubernde Hommage an die Nacht und an die ambivalente Natur des Menschen".

 

Kommentare  
Extra Life, Wien: Ratlos glitzernd
Ein merkwürdiger Abend in 110 Minuten im Wiener Tanzquartier: ein Geschwisterpaar sitzt in einem Auto und redet und redet, es geht um den Kindesmissbrauch, eine Radiosendung lässt sie assoziativ das Thema umkreisen … die Übertitel sind nur auf Englisch … sie sind meistens im Nebel, dass nicht nur symbolisch da ist, sondern auch für die Lasershow, die sehr beeindruckend ist, genauso wie die Komposition und das Sounddesign … Tanz findet nicht statt, wenn man slow motion Bewegungen nicht als solchen bezeichnen möchte … und es zieht sich, leider … endet glitzernd …
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