Schwarzes Gold, stumme Sonja

von Sophie Diesselhorst

28. Oktober 2019. Die Klimakrise scheint sehr weit weg in Baku. Die Hauptstadt von Aserbaidschan liegt auf der Absheron-Halbinsel am Kaspischen Meer, eine der erdöl- und erdgasreichsten Regionen der Erde. Überall Ölpumpen, der Meerblick mit einem Horizont aus Bohrinseln. In der Stadt findet einmal im Jahr ein Formel 1-Rennen statt; auf der Hauptstraße, die an der Bucht entlang fährt, ist die übrige Zeit Dauerstau. Hochhäuser und Baustellen für noch höhere Hochhäuser sprechen für einen ungebremsten Glauben an Rohstoffreichtum und Wachstum.

Es ist also Geld da – auch für Theater. Baku hat 2,2 Millionen Einwohner*innen und vier große und etliche mittelgroße und kleine Theater mit Ensemble- und Repertoire-Betrieb. Seit drei Jahren findet im Herbst außerdem das internationale MAP-Festival statt, zwei Wochen mit Gastspielen vor allem aus dem russischsprachigen Raum, die in den Stadttheatern gezeigt werden. Ausgerichtet wird das Festival aber nicht von einem der Theater, sondern vom Yarat-Zentrum für zeitgenössische Kunst, und wenn man die Organisator*innen fragt, was in den Theatern sonst zu sehen ist, rümpfen sie nur die Nase.

Theatraler Widerstand gegen den Mullah

Das Theaterpublikum in Baku sei, so Festivalleiter Kamran Shahmardan, sehr konservativ und vor allem Folkloristisches gewohnt – es müsse an zeitgenössisches Theater erst herangeführt werden. Und so fällt die MAP-Auswahl auch nicht mit der Avantgarde-Tür ins Haus, sondern kombiniert schwergewichtige Erfolgsproduktionen aus St. Petersburg mit kleinen pantomimischen und Figurentheater-Stücken.

Eroeffnung 560 sdApplaus für Kamran Shamardans MAP-Eröffnung im ÜNS Theater Baku © sd

Festivalleiter Shahmardan, der die Auswahl seinen Mitarbeiter*innen zufolge weitgehend alleine trifft, stammt aus Baku, lebt aber seit längerem in Finnland. Für seine Eröffnungsinszenierung des diesjährigen Festivals, die einzige MAP-Eigenproduktion, hat er eine Erzählung des bekannten aserbaidschanischen Schriftstellers Jalil Mammadguluzadeh adaptiert, dessen 150. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird. "Die Versammlung der Verrückten" handelt von einem ausländischen Gelehrten, der die Bevölkerung eines aserbaidschanischen Dorfs aus ihrer vermeintlichen Rückständigkeit retten und in die Zukunft führen will – und davon, wie die "Bauern" sich gegen ihn verbünden und ihren Widerstandsgeist behaupten.

Eigentlich hat das in der postkolonialen Situation der ehemaligen "Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik", in der Russisch neben (dem dem Türkischen nah verwandten) Azeri zweite Verkehrssprache ist, einen spannenden Resonanzraum – Shahmardan hat sich in seiner Inszenierung allerdings für eine andere Deutung entschieden und liest die Geschichte, die schon bei Mammadguluzadeh im (heutigen) Iran spielt, als innerislamischen Konflikt: Der böse Missionar ist ein Mullah, gegen dessen dogmatischen Islam die guten Dorf-Bewohner ihren Sufi-Mystizismus, einen spirituellen Glauben verteidigen.

Stanislawski unter den Flammentürmen

Tatsächlich sind (wie im Iran) schiitische Muslime mittlerweile die größte Glaubensgruppe in Aserbaidschan, aber der größte Feiertag ist kein islamischer, sondern Novruz, das Frühlingsfest: Es stammt aus dem Zoroastrismus, einem Feuer-Kult, der im heutigen Aserbaidschan nicht mehr viele Anhänger*innen hat, aber besonders auf der Absheron-Halbinsel symbolisch noch sehr präsent ist, mit dem zoroastrischen Tempel Atesgah und den (derzeit) höchsten Hochhäusern von Baku, den drei "Flame Towers", deren Flammenform nachts noch besser zur Geltung kommt, wenn sie aufwändig illuminiert werden.

FlameTowers 280hf sdBaku-Silhouette mit "Flame Towers" © sd

In einer Stadt mit so viel Bling-Bling nahm es nicht wunder, dass auch Kamran Shahmardans MAP-Eröffnungsinszenierung nicht mit Licht-Effekten geizte. Den ästhetischen Kontrapunkt boten an den folgenden Tagen die großen Gastspiele aus Riga und St. Petersburg, beide über zehn Jahre alt: Alvis Hermanis' Inszenierung der Erzählung von Tatjana Tolstaja "Sonja", und ein "Onkel Wanja" vom Maly Theater St. Petersburg, Regie: der legendäre Lev Dodin. Monatelang geprobte, jahrelang gespielte Stanislawski'sche Schauspielkunst in leicht angestaubten hypernaturalistischen Bühnenbildern, und während "Onkel Wanja" vom Publikum im "Nationalen Akademischen Russischen Drama Theater" in Baku mit rhythmischem Klatschen, Standing Ovations und Blumenbouquets für die Schauspieler*innen regelrecht abgefeiert wurde, gab es für Gundars Abolins als stumme "Sonja" den ein oder anderen etwas ungehaltenen Zwischenruf aus dem Publikum.

Die Geschichte der einsamen "alten Jungfer" Sonja, der eine Bekannte einen Streich mit einem falschen Liebesbrief spielt und der das Publikum also dabei zuschaut, wie sie sich in ihrem häuslichen Umfeld in falsche Träume hineinsteigert, ist natürlich auch nicht besonders aktionsreich – und Sonjas erbarmungswürdiges Schicksal als Durch-den-Kakao-Gezogene wird noch verschlimmert dadurch, dass sie in Hermanis' Inszenierung kein einziges eigenes Wort sagen darf.

Russlands kulturelle Hegemonie

Hier wird einem nun vom Regisseur selbst eine postkoloniale Lesart nahegelegt: Hermanis hat dem Vernehmen nach für die Rolle des Erzählers einen möglichst unerfahrenen russischsprachigen Schauspieler gecastet, um den Unterschied noch zu betonen zwischen dem vulgären Erzähler, der sich auf die Seite der bösen "Freundin" schlägt, und Sonjas träumerischer Zartheit, die Gundars Abolins so intim spielt, als wäre die vierte Wand nie auch nur in Frage gestellt worden. Es steht also auch die laute, grobe Sprache des manipulativen Strippenziehers, Amtssprache der "Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik" wie auch der "Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik", gegen Sonjas ausdrucksvolles Schweigen – und den lettischen Namen ihres Darstellers.

OnkelWanja 560 sdTschechow mit Samowar – Bühnenbild von Lev Dodins "Onkel Wanja" beim MAP-Festival © sd

Übt "Sonja" so vielleicht auch Kritik an Russlands kultureller Hegemonie, spiegelt das MAP-Programm insgesamt diese Hegemonie in der Kaukasus-Region getreulich wider – auch wenn es in der zweiten Festivalwoche noch Produktionen aus Spanien, Italien und Israel gab. Alle Gastspiele waren übrigens übertitelt auf Azeri, obwohl das bei den russischsprachigen Inszenierungen bestimmt nicht nötig gewesen wäre. Russisch als Theatersprache scheint sich zu vertragen mit dem aserbaidschanischen Nationalismus, der sich in Bakus Stadtraum vor allem in Heyder-Alyev-Denkmalen ausdrückt: Der autoritär regierende aserbaidschanische Staatspräsident Ilham Alyev hat 2003 die Macht von seinem Vater Heyder Alyev übernommen und ihm seither etliche Bauten gewidmet, am prestigeträchtigsten das "Heyder Alyev Zentrum" in Baku, eines der letzten Gebäude der Star-Architektin Zaha Hadid. Kritik an Alyevs Politik und der Macht-Vererbung ist nicht erwünscht, Aserbaidschan rangiert im "Reporter ohne Grenzen"-Pressefreiheitsindex auf Platz 166 von 180.

Zart erblühende Freie Szene

Vor diesem Hintergrund war das politisch brisanteste Gastspiel beim MAP-Festival wohl die St.Petersburger Inszenierung von Dmitri Danilovs "Mann aus Podolsk", das vom Mutwillen der Macht handelt. Das erste Theaterstück des Journalisten und Romanautors wird in Russland nach der Moskauer Uraufführung durchs teatr.doc gerade allerorten nachinszeniert. Danilov buchstabiert die kafkaeske Grundsituation eines Mannes aus, der von der Polizei festgenommen worden ist, ohne zu wissen warum. "Wir haben dich festgenommen um festzustellen, wer du bist", entgegnen ihm die (erstaunlich feinsinnigen und gebildeten) Polizisten, um ihm am Ende eines langen Verhörs seine kleinbürgerliche Mittelmäßigkeit als Straftatbestand vorzuwerfen; aber auch fehlenden Patriotismus, wenn der Mann aus Podolsk bekennt, dass ihn Amsterdam mehr reizt als seine Heimatstadt. Sie entlassen ihn trotzdem in die Freiheit – mit der Ankündigung, das Verhör "demnächst irgendwann" fortzusetzen.

ZoroastrTempel 280hf sdDer zoroastrische Tempel Atesgah auf der Absheron-Halbinsel © sdWie das beim MAP-Publikum ankam, war schwer zu ermitteln; Fragerunden oder Publikumsgespräche gehörten nicht zum Festivalprogramm. Für Studierende gab es aber Begleitveranstaltungen im Yarat-Centre. In den Vorstellungen saßen viele junge Zuschauer*innen, was Yarat-Kuratorin Ulvia Akhundova damit erklärt, dass es in Baku zwar eine Filmhochschule gibt, aber keine Filmindustrie; die meisten Filmstudent*innen orientierten sich deshalb schon während ihres Studiums in Richtung Theater. Das schlage sich, so Akhundova, derzeit in einer zart erblühenden Freien Szene nieder – die das Yarat Center mit einer "Open Stage" fördert, wo jede*r proben und seine Produktionen zeigen kann. Bühne, Technik und professionelle Beratung werden gestellt.

Das Geld übrigens, mit dem Yarat und auch das MAP-Festival finanziert werden, kommt weder vom Staat noch aus dem Öl, sondern von einem aserbaidschanischen Mobilfunkunternehmen. Sowieso stimmt es auf den zweiten Blick nicht ganz, dass man hier nur auf das "schwarze Gold" setzt, ohne daran zu denken, dass es in ungefähr 70 Jahren aufgebraucht sein wird: Man hat schon seine Erfahrungen mit versiegenden Rohstoff-Quellen gemacht, als die natürliche Flamme des zoroastrischen Tempels Atesgah Mitte des 19. Jahrhunderts einging – nachdem der Boden um den Tempel herum mit Bohrtürmen zugepflastert worden war. Anlässlich eines Zarenbesuchs wurde 1887 eine Pipeline gelegt, seitdem ist das Heiligtum wieder intakt mit drei, wenn auch künstlichen, Flammen. Aber man verlässt sich nicht mehr zu hundert Prozent auf die nicht regenerativen Energien: Zwischen den Ölbohrungen taucht bei der Rückfahrt nach Baku plötzlich ein großes Solarfeld auf.

3. MAP Festival
Baku, Aserbaidschan
10. bis 20. Oktober 2019

mapfestival.az
www.yarat.az

 

Die Autorin war auf Einladung des MAP-Festivals während der ersten Festivalwoche in Baku zu Gast.

Mehr zum Thema russische Theaterkultur:

Marina Davydova, Kuratorin und Kritikerin, über den Unterschied zwischen dem russischen Theatergutshof und der europäischen Theaterindustrie (6/2019)

 

 

 

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