Milo Rau inszeniert "Die Moskauer Prozesse" - Theaterbrief aus Moskau
Rauer Wind für Kunst und Freiheit
von Stefan Bläske
5. März 2013. Es knirscht im Gebälk, es knirschen die Zähne, und es knirscht der Schnee unter den schweren Schuhen. Dass es kalt ist in Russland, sehr kalt, und ein rauer Wind weht, liegt nur zum Teil an Väterchen Frost. Vielmehr an der unheiligen Allianz zwischen autoritärem Staat und extremistischer Orthodoxie, die unter eifernden Bekenntnissen zu Gott und Vaterland dem "westlichen Liberalismus" den Kampf ansagt. Ein Jahrzehnt russischer "Kulturkampf" verdichtete sich am Wochenende in Milo Raus "Moskauer Prozessen", und so wäre es fast eine Enttäuschung gewesen, wenn die dreitägige Veranstaltung im Andrei Sacharow-Zentrum ohne Störungen und Schlagzeilen über die Bühne gegangen wäre.
Die Störung: Quod erat demonstrandum
Im Grunde wurde nur bestätigt, was aus westeuropäischer Perspektive keines neuerlichen Beweises bedurft hätte. Jedenfalls fügen sich die Vorfälle (unsere Meldung vom 3. März 2013) nahtlos in das Bild des lupenrein putinschen Russland: am dritten und letzten Tag der "Moskauer Prozesse", als der Casus Pussy Riot auf der Tagesordnung stand, wurde die Veranstaltung erst von Mitarbeitern der Migrationsbehörde unterbrochen, die nachzuweisen versuchten, dass Regisseur Milo Rau kein rechtmäßiges Visum besitze, dann von Kosaken, die Sorge trugen, hier würden ihre religiösen Gefühle verletzt.
Letztlich verliefen diese Zwischenfälle glimpflich, selbst die in Statur und Kleidung einschüchternden Kosaken zogen friedlich wieder ab. Immerhin haben sie neuerlich demonstriert, dass eine potentiell "kritische" Kunstveranstaltung selbst dann nicht ohne Einmischung von Staats- und Kirchenvertretern über die Bühne gehen kann, wenn sie – wie im Fall der "Moskauer Prozesse" – von mehreren Dutzend internationalen Journalisten gleichsam flankiert und geschützt ist, zugleich aber quasi in einem abgekapselten Raum ohne russische Öffentlichkeit stattfindet.
Die Moskauer Prozesse: Staat versus Mensch
Die dreitägige "Gerichtsshow" im Sacharow-Zentrum ist Teil des von Milo Rau groß angelegten Projekts "Die Moskauer Prozesse", das im Oktober 2012 mit einem Kongress am Nationaltheater Weimar begann. Dort wurde gleichsam Grundlagenforschung betrieben und die russische Tradition der Schauprozesse aufgefächert. Die interessante inhaltliche Auseinandersetzung mit Schau- und Gerichtsprozessen wurde damals leider in den Hintergrund gedrängt durch die mediale Aufregung um Breiviks Erklärung, die Milo Rau in diesem Rahmen uraufführte.
Die "eigentlichen" Moskauer Prozesse sind jene aus den Jahren 1936 bis 1938, der Anfangszeit des Großen Terrors unter Stalin. In vier Gerichtsverhandlungen, drei davon öffentlich, wurden hohe Partei- und Staatsfunktionäre wegen angeblicher terroristischer resp. staatsfeindlicher Aktivitäten angeklagt und verurteilt, die Hauptvertreter der Politikergeneration der Oktoberrevolution von 1917 liquidiert. Hinsichtlich der Verfahrensweise in derartigen Schauprozessen und dem Einfluss der Exekutive auf die Judikative machte der Kongress in Weimar die strukturellen Parallelen zur heutigen Situation in Russland deutlich.
Die Moskauer Prozesse: Religion versus Kunst
Bei den "neuen" Moskauer Prozessen handelt es sich zum einen um den weltweit Aufsehen erregenden Fall von Pussy Riot im vergangenen Jahr, die Verurteilung der Aktivistinnen zu zwei Jahren Lagerhaft – mit der Begründung, dass ihr Auftritt in der Moskauer Christi-Erlöser-Kathedrale, mit dem sie gegen den Schulterschluss zwischen Putin und dem Patriarchen demonstrieren wollten, die Gefühle Gläubiger verletze, eine gotteslästerliche Agitation und Rowdytum zugleich sei.
Mit Rowdytum hat auch ein Prozess neun Jahre zuvor zu tun, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. 2003 zerstörten orthodoxe Extremisten die religionskritische Ausstellung "Achtung, Religion" im Sacharow-Zentrum, verurteilt wurden absurderweise aber nicht die Zerstörer, sondern die Ausstellungsmacher. Ähnliches widerfuhr dem Kurator Andrei Jerofejew und dem Direktor des Sacharow-Zentrums Juri Samudurow drei Jahre später, als sie unter dem Titel "Verbotene Kunst 2006" jene Werke versammelten, die im Laufe des Jahres dem Publikum vorenthalten worden waren. Sie präsentierten sie hinter Stellwänden mit Gucklöchern. Gläubige (am vehementesten wie immer jene, die den Stein des Anstoßes gar nicht selbst gesehen haben) fühlen sich beleidigt, die "Volkskirche" hetzt, und im Prozess treten viele falsche Zeugen mit Spickzetteln auf. Das Buch Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung dokumentiert den Prozess mit schönen Schwarz-weiß-Zeichnungen von Wiktoria Lomasko und faszinierend schwarzem Humor.
Die Beteiligten: Miteinander gegeneinander
Diese drei Prozesse nun werden von Milo Rau noch einmal aufgenommen. Diesmal kein Reenactment, für das Milo Rau und Jens Dietrich mit ihrem "IIPM – International Institute of Political Murder" bekannt wurden mit Die letzten Tage der Ceauşescus und Hate Radio. Sondern eine neue Chance. Die Anklagen sind die gleichen, die verhärtet aufeinandertreffenden Positionen sind es auch. Die Situation indes ist eine seltsame: Einerseits ist es Spiel. Theater, Performance, Filmdreh (letztlich soll aus diesem Material ein Kinofilm werden). Es ist Kunst, konsequenzlos, insofern diese Prozesse keine rechtliche Wirkung entfalten, das finale "schuldig" oder "nicht schuldig" eher symbolische als performative Macht hat.
Trotzdem ist es ernst, insofern im Rahmen dieses Spiels Menschen und Positionen aufeinanderprallen, die einander aufs Heftigste bekämpfen. Darin besteht wohl die größte Leistung von Milo Raus Projekt: dass es erbitterte Widersacher zwar nicht an einen Tisch, aber immerhin in einen Saal bringt, dass hier auf die Macht von Sprache und Argument vertraut wird, dass sich hier Menschen argumentativ miteinander auseinandersetzen müssen, die sich sonst nur bellend ineinander verkeilen.
Insofern ist der Cast tatsächlich beeindruckend: Als Chefankläger tritt Maxim Schewtschenko auf, ein Medienstar im Staatsfernsehen. Seine Eloquenz und sein Charisma wirken, eingesetzt für die Belange extremer Orthodoxie und den gebetsmühlenartig wiederholten Schutz des "Sakralen", diabolisch gefährlich, zumal im Vergleich mit seiner scharfen Anklage die Verteidigung erschreckend blass bleibt. Erschreckend, weil Anna Stavitskaya nicht nur die Verteidigerin spielt, sondern auch in den realen Prozessen gegen die beiden Ausstellungen als solche auftrat – man mag hoffen, dass sie im Ernstfall stärker auftritt.
Die Experten: Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit
Die Fernsehmoderatorin Olga Shakina übernimmt die Rolle der Richterin und hat immer wieder Mühe, Ordnung zu wahren in den Duellen zwischen Anklage und Verteidigung, in den Kreuzverhören mit den geladenen Experten und Zeugen. Diese hat Milo Rau, so wirkt es, nach möglichst hohem Sprengstoffgehalt ausgewählt, wobei die Vertreter von Liberalismus und Kunstfreiheit, wie die Kulturwissenschaftlerin Elena Volkova oder der Philosoph Michail Ryklin (aus westlicher Perspektive gesprochen) sachdienlich auftreten, Werte abwägend, Rechtsstandards in einem säkularen Staat einfordernd.
Die Vertreter von Orthodoxie hingegen wirken teilweise wie rechte Gruselgestalten, Faschisten und orthodoxe Taliban, und wenn man sie, etwa den Historiker Roman Bagdasarov oder den orthodoxen Aktivisten Dmitry Enteo, reden hört vom Schutz ihrer "traditionellen Werte" und ihrem Hass auf zeitgenössische Kunst, Liberalismus, Homosexualität, von ihrem Recht, sich mit allen Mitteln gegen "den Teufel" zu verteidigen, wird einem Angst und Bange.
Jeder der Experten beginnt mit einem Schwur, "die Wahrheit" zu sagen "und nichts als die Wahrheit" – aber was kann das für ein Wahrheitsbegriff sein, wenn doch jeder nur seine eigene Wahrheit als solche akzeptiert, glaubend an die Allmacht Gottes oder die Freiheit der Kunst, an den russischen Bären oder den Osterhasen?
Ein Grundproblem der Prozesse besteht also darin, dass Schuld und Unschuld der Angeklagten daran gemessen wird, ob eine künstlerische Aktion "religiöse Gefühle" verletzt und "religiösen Hass schürt", und dass die Definitions- und Meinungsmacht im öffentlichen Raum darüber, was "religiöse Gefühle" sind und was sie provoziert, mehr und mehr in die Hand von militanten Orthodoxen ohne jegliche Toleranz gerät.
Das Urteil: Im Zweifel für die Angeklagten
Was also ist das Ergebnis des Prozesses? In dubio pro reo! Das Urteil der sieben Schöffen endet mit drei Ja-Stimmen, drei Nein-Stimmen und einer Enthaltung und bedeutet juristisch: Freispruch. Entgegen den Urteilen in den Original-Prozessen werden die Angeklagten nicht für schuldig befunden, "religiöse Gefühle verletzt und religiöse Feindschaft geschürt zu haben". Milo Rau kann am Ende der dreitägigen Prozesse verkünden: "Die Kunst hat gewonnen".
Akzeptiert man die Zusammenstellung der sieben Schöffen als einigermaßen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt durch verschiedene Alter, Religionszugehörigkeiten etc., zeigt das Urteil, so jedenfalls interpretiert der aufgebrachte Chefankläger Maxim Schewtschenko seine Niederlage, vor allem eine tiefe Spaltung der Gesellschaft. Einer der Schöffen weist auch darauf hin, dass das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn die drei Fälle nicht in denselben Topf geworfen worden wären, und es ist leicht zu erraten, dass die Ausstellungsmacher weit eher davongekommen wären als Pussy Riot.
Man kann die "Moskauer Prozesse" unter vielerlei Aspekten betrachten und bewerten: konzeptionell und darstellerisch, in Bezug auf ihre künstlerische, politische und mediale Wirkung. Man mag versuchen auseinanderzudividieren, ob der Schlussapplaus nach drei Prozesstagen inhaltlich dem Freispruch galt, oder formal den Teilnehmern für die engagierte Übernahme ihrer "Rollen". Ob man sich mehr Inszenierung oder mehr "Authentizität" gewünscht hätte. Ob man die drei Prozesse nicht doch lieber hätte getrennt beurteilen sollen. Und ob das Projekt gut daran tat, mit dem Casting eher dramaturgisch eine Zuspitzung auf radikale Positionen zu verfolgen als die Gelegenheit zu nutzen, mit moderateren Kräften zu einer Vermittlung beizutragen.
Die Lage der Nation: David gegen Gulag
Als stärkster Eindruck der "Moskauer Prozesse" blieb für mich das Gefühl einer Ohnmacht, einer erdrückenden Übermacht von Staat und Kirche. Der "geschützte Raum" Sacharow-Zentrum, die Vielzahl internationaler Pressevertreter und der "Freispruch", also die gleichsam "theatrale Revision" des realen Urteils boten zwar zwischenzeitlich Sicherheit und Grund zur Hoffnung. Das minderte aber nicht die Bedrückung angesichts der Aggressivität der Orthodoxie, und sie zerplatzen wie Seifenblasen bereits durch die rein physische Präsenz schon einer Handvoll Polizisten, schon einer Handvoll Kosaken.
Diese mächtigen Männer, bärenhaft in ihren Uniformen und Pelzen, benahmen sich dank Interventionen unter anderem auch von Maxim Schewtschenko zwar vergleichsweise handzahm, aber wie deutlich war ihr Machtanspruch, war ihre Verdrängung zu spüren. Daneben, dazwischen kaum mehr wahrnehmbar: die kleine, zierliche Jekaterina Samuzewitsch. Anders als ihre beiden Kolleginnen von Pussy Riot sitzt sie keine zwei Jahre Haft ab, sondern ist frei auf Bewährung. In den "Moskauer Prozessen" nun neuerlich auf der Anklagebank, tritt sie erneut an zu ihrer Verteidigung, im Raum hallt noch eine Extremistenforderung nach "200 Jahren Haft für Pussy Riot" nach. Mit welcher Ruhe Samuzewitsch nach vorne tritt, einsteht für ihre Rechte, für einen Rechtsstaat, das ist so beeindruckend, so berührend, so tragisch: sisyphusgleich wieder und wieder den Stein den Berg hinauf zu rollen, wieder und wieder anzureden gegen staatlichen und religiösen Militantismus, ... dies ist die eigentliche Kraft, dies ist für mich das eigentliche Ereignis der "Moskauer Prozesse". Dieser, und sicher noch einiger Folgender.
P.S.: In Moskau beginnt derweil der Kampf um die Deutungshoheit über das Projekt, die Vereinnahmung von verschiedenen Seiten für die jeweiligen Zwecke. Auf Anfrage nach dem Fortgang der Dinge schreibt Milo Rau aus Moskau, es sei ein Medienchaos ausgebrochen, inklusive kursierender Verschwörungstheorien, weshalb er – um die "versöhnliche Seite der Putin-Regierung zu zeigen" – zu einigen Talkshows regierungsnaher Sender eingeladen wurde, wo er auch wieder auf Maxim Schewtschenko treffe.
Einerseits erhalte er weiterhin Drohungen vom "Immigration Service" und Warnungen, der Staat würde für ihn noch ein "übles Nachspiel" bereithalten, am Sonntag sei er nur so glimpflich davongekommen, weil sich spontan zwei Anwälte und Schewtschenko für ihn eingesetzt hätten.
Andererseits werde er "absurderweise" gleichermaßen von der linken wie der rechten Presse gelobt: von Links für sein Engagement für "Meinungsfreiheit", von Regierungsseite für seine "Vermittlerrolle". Zahlreiche Künstler, staatsnahe wie staatsferne, haben sich in verschiedenen Schreiben hinter ihn gestellt.
Kann man alles richtig machen – im richtigen Land?
Stefan Bläske forschte und lehrte als Theaterwissenschaftler an der Universität Wien, schrieb als Korrespondent aus Wien und anderswo für nachtkritik.de und arbeitet derzeit in der Dramaturgie des Residenztheaters in München.
Mehr zu Die Moskauer Prozesse: alle großen deutschsprachigen Zeitungen hatten KorrespondentInnen nach Moskau geschickt. Was sie gesehen und gehört haben fassen wir in einer Presseschau zusammen.
Der Dokumentarfilm Die Moskauer Prozesse über die drei Prozess-Tage im Moskauer Sacharow Zentrum wird am 14. März in einer Preview in der Zürcher Gessneralleee gezeigt.
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Lieber Stefan Bläske, ist das ihr Ernst,...wollen sie uns ernsthaft die Pussy Riots, oder eines ihrer Mitglieder als klein und zierlich verkaufen?! Und stellen dagegen die bösen Kosaken, die sich zwar handzahm geben, aber aber aber...
Also in dem letzten Video von den Pussy Riots wurden großformatige Bilder von Putin verbrannt. Da muss man kein Kosake und kein Bär sein oder einen Pelz tragen, um zu der Meinung vorzudringen, dass es sich hier um extrem aggressive Frauen handelt.
Denken sie, wenn man den Richtigen bildlich tötet, sei man/frau schon im Recht?
(Sehr geehrter Herr Baucks,
Ihre Argumentation verstehe ich nicht: Was hat angebliche Aggression mit Körpergröße (Zierlichkeit) zu tun? Und davon, wer im Recht ist, ist in dem Absatz nicht die Rede. Vielleicht vertrauen Sie einfach den Schilderungen von Stefan Bläske, der ja immerhin vor Ort war. mw)
es ist schon merkwürdig mit welcher Vehemenz Sie immer wieder gegen die drei Frauen von Pussy Riot polemisieren. Es schlummert wohl auch in Ihnen ein kleiner Kosak, der sich hier in den Kommentarspalten seinen Weg nach außen sucht. Und über Kunst und im Speziellen über Kunstfreiheit in Russland sind Sie ja auch bestens informiert. Es scheint Ihnen einerseits völlig normal, dass selbsternannte Kultur- und Religionshüter wie die der wiedererstandenen Kosakenbewegung, sie hat in Russland regen Zulauf, bestimmen, was öffentliche Moral ist und diese auch unaufgefordert kontrolliert. Diese ultranationalistischen Freiwilligenkorps in der Tradition der „Weißen Bewegung“ aus dem russischen Bürgerkrieg tun dies auch noch mit staatlicher Billigung. Es handelt sich dabei nicht um harmlose volkstümelnde Musikvereine mit lustigen Bärten und Pelzmützen. Siehe die Zerstörung von Kunsträumen. Die Veranstalter der Ausstellungen wurden ebenso wie die Frauen von Pussy Riot wegen Schürens von religiösem Hass verurteilt. Urteile gegen Kosaken sind mir nicht bekannt. Dringt nun anderseits eine Künstlergruppe in einen öffentlichen und noch dazu geschützten religiösen Raum ein, um die Verquickung von Staat und Religion in Russland anzuprangern, stimmen Sie ein in den Chor der nationalen Moralisten. Bitte erklären Sie mir, warum religiöse Räume einen besonderen staatlichen Schutz verdienen, man jedoch unbehelligt jeder Zeit der Kunst in Russland ihre Räume nehmen darf, und sich dabei noch im Einklang mit den herrschenden Gesetzen und der öffentlichen Meinung glaubt. Dass Milo Rau nun diese drei Prozesse mit ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten zusammenführt, finde ich nahezu genial gedacht. Auch dass er hier unterschiedlichste Gruppen der tief gespaltenen russischen Gesellschaft für eine Kunstperformance zusammenbringt, ist schon allein eine Leistung, ohne genauer auf die Qualität der Aktion eingehen zu müssen. Die Kosaken und die Migrationspolizei hätte man nicht besser dazu bestellen können. Das bringt tatsächlich eine zusätzliche realistische Note in die Angelegenheit. Dass das Urteil der Jury fifty-fifty ausgegangen ist, beweist wie kontrovers das Thema in Russland diskutiert wird, und verdeutlicht die gerade auch für Künstler so weitreichende Brisanz solcher Gerichtsverhandlungen. Ein offenes Ende der Debatte, aber man hat sie geführt. Und mit Sicherheit freier als vor jedem echten Gericht in Russland.
(Anmerkung der Redaktion:
Der Kommentator Stefan ist nicht identisch mit dem Autor Stefan Bläske.)
Ich würde es anders formulieren:
"Es ist schon merkwürdig, mit welcher Vehemenz sich Herr Baucks immer wieder für Putin einsetzt."
Die Liebe zu den "starken" Männern ist unter Deutschen offenbar unausrottbar.
Ach.
Naja, weder setze ich mich für Putin, noch für die Kosaken ein. Ich habe nur Schwierigkeiten damit mir eine russische Punkband, speziell ein Mitgleid daraus als zierlich verkaufen zu lassen. Da werden Geschlechterklischees bedient und das Bild verrutscht so allmählich.
Am Ende sieht es immer so aus, als ob es eine politische Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau sei, eben auf der einen seiten die bösen, bärigen Männer und auf der anderen Seite die zierlichen Frauen.
Der Auftritt der Pussy Riots ist aber alles andere als zierlich ausgefallen. Und verurteilt worden sind sie von Richterinnen. Ich glaube, dass der Widerstand gegen eine solche Band ebenso von russische Frauen wie Männer herrührt.
Mehr wollte ich eigentlich nicht sagen, ich stolperte eben über diese Formulierung, der ich so nicht traue. Pardon.
Und: waren sie jüngst mal in Russland? Bei den Moskauer Prozessen? Wahrscheinlich nicht. Es geht leider in Russland sehr viel um Mann gegen Frau, auch wenn sie es nicht gern Glauben wollen.
Eben, Sie sagten es bereits, es geht hier doch gar nicht um Männer- oder Frauenrollen, sondern um das Politische. Es geht um einen Kampf gegen die Verweltlichung der Kirche, um einen Kampf gegen die Verschmelzung von religiöser und staatlicher Macht. Es geht nicht darum, alles Böse zu überwinden, sondern es geht darum, gemeinsam die Freiheit zu schaffen, es geht um den freien Willen eines JEDEN Menschen. Es geht um die Abkehr vom gebietenden und verbietenden Gott-Vater und - laut der Schriften von Pussy Riot - um die Hinwendung zur Jungfrau Maria. Es geht folglich nicht um Moral und Strafe, sondern um die all-umfassende bzw. das All/die Gestirne umfassende Liebe! Dafür kämpfen wir! Für eine Demokratie von unten!
(Werter Klaus,
Stefan Bläske war im Auftrag des Residenztheaters München in Moskau.
Wir haben ihn (als ehemaligen Autor von nachtkritik.de) angefragt, einen "Theaterbief aus Moskau" zu schreiben.
Beste Grüße aus der Redaktion,
Anne Peter)
Was kann man da falsch lesen?
Klein, zierlich, kaum mehr wahrnehmbar, klingt fast wie überfordert. Und eine Überforderung war es wahrscheinlich sie sich selbst spielen zu lassen.
Wie schwer sie es einem machen eine abweichende Meinung zu vetreten,fast als sei dies hier "klein Moskau".
Nun, ich bleibe dabei, der Auftritt in der Kirche trug andere Züge.
Wie verhält sich das zu einem Auszug aus Eduard Limonows Website, abgedruckt im Programm zu Castorfs "Die Wirtin"? Limonow schreibt zu "Pussy Riot": "Pussy-Pussy Riot. Der debilste Konflikt, den man sich nur vorstellen kann. [...] Im Verhalten der Träger des bürgerlichen Gedankens fällt die vollständige Verachtung desjenigen auf, was man das Volk nennt. Diese Verachtung erklärt sich dadurch, dass es bei uns keine freien Wahlen gibt. Wenn man gewählt werden müsste, würden die bürgerlichen Führer die Unterstützung von Pussy Riot fürchten (Pussy selbst - wer ist das schon? Dumme Mädelchen, ich spreche von der 'Sache Pussy Riot'). Sie würden sich deshalb fürchten, weil sie nicht von den Rentnern gewählt würden, nicht von den Armen, die noch ein traditionelles, ein wenig ängstliches, wenn auch distanziertes Verhältnis zur Kirche bewahrt haben und erst Recht würden sie nicht von den gläubigen Orthodoxen gewählt, sogar Moslems würden zögern, sie zu wählen, denn wenn einer die eigene Religion nicht ehrt, was macht er dann erst mit der Fremden!"
Ja, stimmt denn das?!
gegenüber dieser "Phalanx" himself, er bezeichnete Putin doch immer wieder als besten Politiker der Welt, und ich fürchte, er ist da im "westeuropäischen Raum" keineswegs allein. Gazprom heizt der Championsleague ein, und auch auf Schalke haben wir es schön warm; der Ex-Bundeskanzler Schröder legt schon rechtzeitig ne Schippe nach (vielleicht ja für das falsche Land ?), und Gerard Depardieu singt dazu
"Es gibt kein Bier auf Hawai". Wenn die Ultraorthodoxen schon Stimmung gegen das Westlerische machen, warum selbst quasi diese "Frontstellung" in den eigenen Aussagen bestätigen, übernehmen, kontinuieren. Wie gut laufen denn die westeuropäischen Investitionen in Rußland so, und wie stabilisierend, ja förderlich wirkt dies bezüglich der hier immer wieder zutage tretenden Übergriffigkeiten ??
Wie sehr haben die "westlerischen (!) Kriege" der geschichtlichen Vorzeit mit der Lage Rußlands heute zu schaffen ??? Gewiß sollte "uns" das nicht zu einem Relativismus gegenüber Menschenrechtsverletzungen verleiten, denn diese sind überaus konkretes Handeln und schaffen oft genug irreversible Tatbestände, aber von einem westeuropäischen Podest aus wird das kaum gehen..
es gibt eben eine sogenannte offiziell zu führende Debatte der staatssubventionierten Kulturbetriebe der BRD, und dann gibt es die kleinere Wahrheit der wirtschaftlich größeren Gewinne.
War es nicht immer so?!
Gerade in Moskau hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich durch die Einführung des autoritären Kapitalismus á la Putin extrem vergrößert. Und da ist jetzt die Frage, ob eine kleine Gruppe wie Pussy Riot die Opposition gegen diese staatskapitalistische Macht nicht eher schwächt als stärkt. Vielleicht haben Pussy Riot dem russischen Volk mit ihrem Protest ja auch einen Bärendienst erwiesen, indem sie Putin und den westlichen Investoren die Möglichkeit eröffneten, umso härter zurückzuschlagen.
Letztlich ist der Gerichtsprozess von Milo Rau ja auch 50 zu 50 ausgegangen. Zu simple bzw. einseitige Erklärungen sind hier also fehl am Platz. Und vor allem, was heisst denn jetzt eigentlich "religiöser Hass"? Wer glaubt denn jetzt wirklich daran, dass es Putin um den freien Glauben geht. Nee, dem geht's um was ganz anderes.
möglicherweise gab diese frau nach monatelanger maltretierung an diesem tag ja ein anderes bild ab, als bei ihrer politischen kunstaktion. und nun nehmen sie endlich mal zur kenntnis, das es u.a. eben genau darum geht: ein kampf der frauen gegen ein brutales und übermächtiges religiöses patriachat! ich bin überrascht, das sie den rest ihrer bisherigen argumentationskette vernachlässigen: das hätte alles genauso ja auch in köln passieren können, nicht war? nicht das ich den deutschen staat verharmlosen will, aber die art und weise, wie sie die russischen strukturen verharmlosen, ist einfach nicht hinnehmbar.
An Limonow hat Castorf immer nur seine Radikalität interessiert. Er spielt mit dessen Traum von einstiger russischer Größe. Aber auch der Nationalist Limonow, der übrigens nie wirklich links war, nur eben immer extrem und radikal gegen den Westen, hat an Einfluss verloren. Jeder zweite bedient sich heute in Russland ultranationaler Gedanken und Traditionen. So etwas wie Pussy Riot passt da nicht ins Bild. Limonow versucht von der Radikalität dieses Protestes zu profitieren, indem er sich dagegen ausspricht und ihn dumm nennt. Sie heben da nicht ganz zu Ende zitiert. Die Flucht des Russen in seine Tradition und Religion hat ja auch einen Grund, in einem Staat, in dem humanistische Werte nichts mehr gelten. Auch das versucht Putin für sich zu nutzen. Der Einfluss der Orthodoxie ist hoch und die Opposition im Lande sehr zerstritten. Nicht wenige sind gegen Putin, wissen aber nicht wirklich wofür sie sind. Das spült leider auch viele Extreme nach oben. Das kann man aus europäischer Sicht nicht verstehen. Die russische Geschichte kennt ganz andere Kämpfe und Kriege. Natürlich ist auch sie geprägt von Kolonialismus und Gewalt. Der Zerfall der Sowjetunion, die ja de facto noch in den Grenzen des alten Zarenreiches bestand, hat viele Russen desillusioniert. Dazu kommt die radikale Umwälzung der ökonomischen Basis des Landes. Das russische Restreich, wenn man es mal so bezeichnen will, ist immer noch riesig. Wo man auch steht, von welcher Seite man es betrachtet, man steht immer irgendwie hinter dem Ural, bildlich gesprochen. Heiner Müller sprach ja auch von der „asiatischen Zeitreserve Russlands“ als er über Sibirien flog. „Hinter dem Ural ist Nacht.“ (HM: Der Bau) Was nicht unbedingt das Klischee der anders tickenden Uhren bedienen soll. Man kommt dem eben einfach mit westeuropäischen Maßstäben nicht bei.
Vielleicht als Empfehlung einfach mal den russischen Dokumentarfilm „Zima uxdodi! - Winter, geh weg!“ ansehen, ein Diplomfilm von Studenten der Film- und Theater-Dokumentarhochschule unter der künstlerischen Leitung der Regisseurin Marina Razbezhkina. Gedreht während der Proteste gegen Putin im Wahlkampf 2011/12 gibt er einen guten Überblick über oppositionelle Kräfte in Russland und deren Zerstrittenheit. Limonow kommt dort auch zu Wort, oder der Ex-Schachweltmeister Kasparow. Aber auch ganz normale Menschen aus dem Volk. Ein anderer guter Tipp ist der eben auf der Berlinale gezeigte Spielfilm „Za Marksa - Für Marx“ der russischen Regisseurin Svetlana Baskova. Hier geht es um die Unterdrückung der sich gerade neu gründenden unabhängigen Gewerkschaftsbewegungen in Rusland seitens alter KGB-Kräfte in Fabrikleitungen und korrupter Kräfte in Provinzregierungen. Klassenkampf auf postsowjetisch, gemäß der Feststellung von Marx über die Wiederholung der Geschichte als Farce. Aber auch speziell um die Bildung der Arbeiter geht es, um Brecht, Godard, Gogols „Tote Seelen“ und die russische und sowjetische Filmgeschichte. Sehr radikal und interessant, unbedingt empfehlenswert.
(Anmerkung der Redaktion:
Der Kommentator Stefan ist nicht identisch mit dem Autor Stefan Bläske.)
Danke für den Filmtipp "For Marx". Den hätte ich mir beinahe auch auf der vergangenen "Berlinale" angeschaut.
Vielen Dank für Ihre (zahlreichen, berlinaleunterfütterten) Filmtips ! Stimme Ihnen im
Wesentlichen, soweit ich das überblicken kann, zu, zentral für diese Prozesse scheint es auch mir zu sein, wen sie schaffen da gemeinsam in einen "Gerichtssaal" zu bringen:
das ist allerhand und wagt zudem durchaus einen offenen Ausgang, 50:50.
Auch dachte ich mir sogleich "Kann Herrn Rau ja garnichts Besseres geschehen"
als eine solche Aktion wie sie von Migrationsbehörde und Kosaken hier offenbar ins Werk gesetzt (sic !) wurde. Allerdings ist das kein ganz harmloser, unverwickelter Gedanke, wie ich finde. Es ist schon merkwürdig, daß sich diese Organisationen eine solch tölpelhafte Blöße geben, welche Rau stante pede irgendwie ins rechte Licht
setzt; das klingt so befremdlich, daß man sich die Augen reibt und von wirren Zweifeln angeflogen wird, gebe ich offen zu. Wenn diese Organisationen so bedrohlich sind, dann verbietet es sich ja eher, diese Aktion als das "Bestmögliche" für Rau nachzuverhandeln; aber das nicht so recht abwehren zu können, gehört wohl gerade zur Qualität des Ganzen. Ich nannte mich "Karsamstag", weil mir ua. der Gedanke kam, daß eine solche Veranstaltung, zB. am Tag der Arbeit oder der "Deutschen Kapitulation" umgesetzt , eine ganz andere Reaktion heraufbeschworen hätte wohlmöglich. Jetzt aber fällt diese Aktion in die Fastenzeit der Orthodoxen, und es sieht für mich beinahe so aus, als mußten die Kosaken hier geradezu etwas unternehmen, um keinen "Gesichtsverlust" zu erleiden. Es würde mich schon interessieren, wie BeobachterInnen, die näher dran sind es einschätzen zB. mit den Wirkungen solcher Sachen zu anderen "Feiertags"-Terminen. Zur "westeuropäischen Perspektive" sollte man möglicherweise auch nicht außer Acht lassen, daß etwa die
"Breivik-Rede" genau diese nicht glimpflich befragen läßt, wenn wir sie als eine "Spitze des Eisbergs" auffassen. Auch der Gedanke, was hierzulande wohl so an Diskussion ausgelöst werden würde, ließe jemand, ein RUSSE gar, dergleichen wie die "Breivik"-Rede
an einer renommierten Bühne am 20.4. erstinszenieren, schwirrte mir im Kopf rum..
Da kann ja dann z.B auch Herr Baucks mal seine Russlandkenntnisse ein wenig auffrischen.
(Anmerkung der Redaktion:
Der Kommentator Stefan ist nicht identisch mit dem Autor Stefan Bläske.)
es wurden dort drei Prozesse gezeigt, wenn ich nicht irre. Einer aus der Stalin Zeit, einer das Sacharowzentrum und eine Ausstellung betreffend, und dann der Riots Prozess.
Damit wird nicht zwingend ein Zusammenhang zwischen den Prozessen hergestellt, aber man assoziiert eventuell. Vielleicht lesen sie den Artikel nochmals.
Denkt sich ein Regisseur, sagen wir etwa aus Georgien etwas Ähnliches für die BRD aus, welche Prozesse würde er wohl wählen?
wie Sie dem Text von Stefan Bläske entnehmen können, leiht sich das Projekt aus der Stalin-Zeit nur den Titel.
Die drei von Milo Rau neu verhandelten Prozesse sind:
1. Ausstellung "Achtung, Religion" im Sacharow-Zentrum (2003)
2. Ausstellung "Verbotene Kunst" im Sacharow-Zentrum (2006)
3. Pussy Riot (2012)
Beste Grüße aus der Redaktion,
Anne Peter
Nun ja, Rau sucht also bewußt nach Parallelen. Ich kann nicht erkennen, wo Bläske diese bewußt anspricht, und sie positiv oder negativ kommentiert. Stattdessen stosse ich auf die üblichen Klischees und Inga greift die ja auch dankbar auf. Mein Eindruck ist, Herr Bläske war mit der Veranstaltung etwas überfordert.
Ich wäre es in jedem Fall gewesen, wenn ich nicht vorher genau recherchiert hätte und die Veranstaltung in Weimar besucht hätte.
Bläske beschreibt Gefühle, Eindrücke, wie er die Kosaken wahrnimmt und und und...
Dabei gibt es eine interessante Parallele. Er empfindet, die Veranstaltung wird empfindlich gestört durch die plötzliche Anwesenheit dieser Männer. Zwar sind sie handzahm, ihm aber wird angst und bange.
Da werden Künstler in einem Kulturtempel bei der Ausübung ihrer "Glaubens-" Tätigkeit allein durch die Anwesenheit der Opposition gestört. Man möchte diese Gefühle ernst nehmen.
Ähnlich ergeht es Gläubigen in einer Kirche, wenn sie durch Punkgebete gestört werden.
Sicherlich, es ist eine schwere Lektion die Gefühle Andersgläubiger und Denkender zu verstehen und zu beachten. Aber eben auch eine notwendige und lohnenswerte Lektion.
Was die Ausstellungsmacher betrifft, ist die Sache ja recht einfach, es ist leicht sich auf ihre Seite zu stellen.
Was die Riots betrifft, da wird es erheblich schwieriger.
selbst zu denken, ruft uns der Sozialpsychologe Harald Welzer auf, sie unternehmen den Versuch unverkennbar.
Doch was anfangs tapfer und ehrenwert und absolut notwendig erscheint, wird auch bei Ihnen rasch zur Manier.
Zur Sache:
Sie zitieren Stefan Bläske wie folgt: "Hinsichtlich der Verfahrensweise in derartigen Schauprozessen und dem Einfluss der Exekutive auf die Judikative machte der Kongress in Weimar die strukturellen Parallelen zur heutigen Situation in Russland deutlich." Und fügen dann an: "Nun ja, Rau sucht also bewußt nach Parallelen. Ich kann nicht erkennen, wo Bläske diese bewußt anspricht, und sie positiv oder negativ kommentiert."
Nun ist es aber so, dass das was Sie einfordern - Belege für "strukturellen Parallelen" zu den Prozessen der 30er Jahre und den "Einfluss der Exekutive auf die Judikative", gleich im folgenden Absatz ausgeführt wird:
"Bei den "neuen" Moskauer Prozessen handelt es sich zum einen um den weltweit Aufsehen erregenden Fall von Pussy Riot ...", das lasse ich aus, weil Sie das eh nicht akzeptieren, weiter: "Mit Rowdytum hat auch ein Prozess neun Jahre zuvor zu tun (...) 2003 zerstörten orthodoxe Extremisten die religionskritische Ausstellung "Achtung, Religion" im Sacharow-Zentrum, verurteilt wurden absurderweise aber nicht die Zerstörer, sondern die Ausstellungsmacher. Ähnliches widerfuhr dem Kurator Andrei Jerofejew und dem Direktor des Sacharow-Zentrums Juri Samudurow drei Jahre später, als sie unter dem Titel "Verbotene Kunst 2006" jene Werke versammelten, die im Laufe des Jahres dem Publikum vorenthalten worden waren (...) Gläubige (...) fühlen sich beleidigt, die "Volkskirche" hetzt, und im Prozess treten viele falsche Zeugen mit Spickzetteln auf..."
Noch ohne auf den Gehalt einzugehen, wären das die Belege, die Sie fordern.
da haben sie mich falsch verstanden, ich frage mich, wo die Parallele zu den Stalinprozessen sein soll, denn mit den "derartigen Prozessen" sind offensichtlich die Prozessen 1936 bis 38 gemeint. Oder sehen sie das anders. Lesen sie etwas weiter davor.
Und hören sie auf sich immer so über mich zu beugen, ja...da ist keine Manier...,...ich schaue so gut es geht genau hin, habe aber auch noch viele andere Dinge zu tun.
Ich finde eben nicht, dass dieser Artikel gut verfasst ist. Man verläuft sich leicht in ihm, weil er unterschwellig ein klischiertes Russlandbild zeichnet, und wenig beachtet, wie fortschrittlich eine solche Veranstaltung eigentlich für Moskau ist.
Da wird leichtfertig bemerkt, die Berichterstattung über den Abend sei chaotisch, weil man eben mit Russland "Chaos" verbindet? Nur weil sowohl Lob aus der rechten wie linken Ecke kommt. Das ist schon Chaos?!
(Werter Martin Baucks,
da Sie ja genau hinschauen wollen: Die von Ihnen monierte Bezeichnung "Medienchaos" fällt innerhalb der Paraphrase einer Aussage von Milo Rau, die Stefan Bläske lediglich aufgreift. Da kann man ihm die Formulierung wohl kaum zum Vorwurf machen, oder?
Anne Peter / Redaktion)
aber man kann ja als Journalist, wenn man eine fremde Äußerung aufgreift trotzdem kommentieren. - Ich vermisse so schmerzlich das Interview, dass man eben hätte mit jenen Kosaken führen können, oder auch mit Maxim Schewtschenko, wenn man schon mal vor Ort ist, sollte man sich solche Möglichkeiten nicht entgehen lassen. Ich hätte auf jeden Fall auch versucht mit den Anwälten von Schwetschenk zu reden.
Ich interessiere mich stark für solche Menschen die dort in eine solche Veranstaltung eindringen, nicht weil ich mit ihnen symphatisiere, sondern, weil ich früher wahrscheinlich ebenso schnell meinen vorgefertigten Ansichten aufgesessen wäre, bis ich in einem komplizierten Prozess erlernte auf solche Menschen zuzugehen und mit ihnen zu sprechen, für kurze Zeit ihre Perspektive einzunehmen. Dabei verlor ich auch einige klassische Ängste und das war gut so.
Kommen sie, seien sie nicht so billig, ich habe etwas überlesen, weil mir der Artikel nicht gefiel, las ich ihn zunächst quer. Ich mag keine Artikel, wo schon vom ersten Satz an feststeht, was ich als Leser denken soll. Zudem liegt mein letzter Moskaubesuch gerade zwei Jahre zurück.
Bläske gibt sich als Lateiner und findet bewiesen, "was aus westeuropäischer Perspektive keines neuerlichen Beweises bedurft hätte."
Er streift den Breivik Abend, erwähnt aber nicht, dass dieser auch aus dem Weimarer Theater verwiesen wurde. Zudem, auch wenn ich etwas überlesen habe, soll doch mit diesen drei Prozessen eine strukturelle Ähnlichkeit zu den stalinistischen Schauprozessen 36/38 nahegelegt werden. Da bin ich doch sehr misstrauisch. Solch eine historische These müsste man wissenschaftlich belegen. Milo Rau könnte das wahrscheinlich, Bläske unterlässt es sich hierzu kritisch zu äußern. So entsteht unterbewußt der Eindruck es gäbe eine "lupenreine" Kontinuität von Stalin zu Putin, könnte man zumindest herauslesen. Solche steilen Thesen finde ich problematisch.
Ebenso problematisch finde ich, dass ich hier wohl der Einzige bin, der meint, sakrale Räume sollten vor Übergriffen geschützt werden. Dies hat ganz sicher etwas damit zu tun, welche Leser sich hier bewegen.
Zudem habe ich so ungefähr als erstes bei meinem Eintritt ins Gymnasieum 1971 gelernt, dass man als Demokrat niemals über zwei, oder drei Dinge gleichzeitig in einer Abstimmung abstimmen lässt. So ist mir von Anfang an das Urteil der Schöffen arg aufgefallen, denn sie stimmten über drei Prozesse in einer Wahl ab, ist es nicht so. Über zwei Dinge in einem Wahlgang abstimmen, diese Vorgehensweise schrieb mein Geschichtslehrer Hitler zu. Nun.
Zudem wird Yekaterina Samuzewitsch als eine Art Sysiphos überhöht, die die ganze Arbeit der Freiheit und Demokratie auf sich wälzt, die jedoch letztendlich in diesem Russland aussichtslos bleiben muss, eben eine Sysiphosarbeit. Ich halte mir aber immer noch die Option offen, das Frau Samuzewitsch einfach eine Frau ist, die auf Punk und Randale aus war und sich nun in einer anderen Situation widerfindet.
Es stellt sich aber die Frage, wo die russische Demokratie wirklich mit diesem Abend steht. Ist es ein Entwicklungsschritt einer noch jungen Demokratie, wie wir ihn auch aus den Siebzigern der BRD her kennen, oder schon ihr Endpunkt?
Aus jeder Pore dieses Artikels spricht die Haltung, Russlands Demokratie sei am Ende, dabei belegt gerade diese Vorstellung, dass mehr Bewegung möglich ist als manch einer denkt. Ich verstehe die Ängste von Herrn Bläske, teile sie aber nicht ungebrochen.
Und was die Kosaken betrifft, lieber Kosak, die wurden unter Stalin auch verfolgt und sie waren historisch gesehen nie eine komplett homogene Gruppe.
Ich verstehe auch die abschließende Frage von Herrn Bläske nicht. Aber gut. Ich finde es bemerkenswert das Rau einige Einladungen zu TV Sendungen erhielt, die man eher als regierungsnah bezeichnen kann. Ich hoffe, er nimmt die Einladungen wahr. Auch wäre begrüßenswert, wenn man den Abend am BE sehen könnte und nicht nur eine Fahne auf dem Dach.
Das es kalt ist, sehr kalt in Russland, legt uns Bläske nahe, und aus meiner Perspektive appelliert er schon mit den ersten Sätzen an die Ressentimens des kalten Krieges, ohne zu beschreiben, ob Russland von 1936 bis heute nicht doch einen erheblichen Qualitätssprung gemacht hat. Diesen sollte man ihm nicht leichtfertig absprechen.
Berichten sie doch ein wenig von ihren Eindrücken, und vor allem, wie und wo sich Putin selbst als Stalin outete. - Die "alte Westberliner Linke"...oh ha...haben die auch den sakralen Raum gegen kritische Übergriffe verteidigen wollen? Das wäre mir neu. Wo steht das geschrieben?!
Viele Grüße
m.baucks
Sie haben nichts zu berichten, das ist ihr Problem.
und ich habe nichts zu berichten. Darin sind wir uns einig.
Also lasst uns fröhlich nichts berichten. Und außerdem, ich bin nur an meiner Meinung interessiert, die ich nicht berichte.
natürlich reisen wir nicht alle nach Moskau, um die Veranstaltung zu sehen. Wir betrachten sie aus der Ferne, durch den Blick von Stefan Bläske. Wie wir aber seinen Blick empfinden und einschätzen, darüber kann man berichten und reden.
Bleibt zu hoffen, dass der Unaussprechliche vom BE den Abend einlädt. Das wäre er uns schuldig.
"Ebenso problematisch finde ich, daß ich hier wohl der Einzige bin,
der meint, daß sakrale Räume vor Übergriffen geschützt werden sollten."
Nun ja, so ganz stimmt dieser Befund glücklicherweise nicht. Es ist
bereits zu "Pussy Riot" in eigenen Strängen diskutiert worden, und da gab es auch keinen Mangel an solchen Stimmen. Nur bewegen sich hier auch LeserInnen, die vor allem zum Anlaß der Vorfälle um die Inszenierung Milo Raus sich hier -teilweise schlicht fragend, wie ich in § 19- zu Wort melden. Meine fragende Haltung (siehe Fastenzeit der Orthodoxen) ist durchaus als Nichtübernahme eines "westeuropäischen Standpunktes" zu lesen, die auch andere Erfahrungen mit der Orthodoxie und sogenannten "Orthodoxen Ländern"
gemacht hat, Putin und Orthodoxie, das reimt sich keineswegs automatisch zusammen, schon garnicht, denke ich, für die Russisch-Orthodoxe-Kirche im Ausland (ROKA), um nur ein Beispiel zu nennen.
"was dieser schweizer mit deutschen geldern da in russland veranstaltet."
Oops! Argumentieren wir schon wieder national?
Erinnert mich an Cosima Wagner, die Hermann Levi zwingen wollte, sich taufen zu lassen, da er als Jude den "Parsifal" nicht verstehen könne.
Will ich die Strukturen in Russland verharmlosen? Da bin ich mir gar nicht so sicher. Mir missfällt der Grundton von Stefan Bläske, der diesem Land so gut wie jede Chance abspricht und nur eine umfassende Ohnmacht gegenüber Staat und Kirche wahrnehmen will, obwohl er gerade in dem Moment Gast einer Vorstellung war, die etwas anderes abbildet. Eine handvoll Polizisten und Kosaken lassen jede Hoffnung wie Seifenblasen zerplatzen, sagt Bläske. Nun, da trau ich den Menschen in Moskau vielleicht etwas mehr zu, als diese vollkommen resignative Sicht. Mein Eindruck war, dass Herr Bläske unter dem Eindruck von Moskau, der winterlichen Kälte, dieser schroffen Stadt gleich in die Knie ging und überall nur "Väterchen Frost" sah. Wahr ist, es ist im Winter schwer sich mit dieser Stadt anzufreunden, auch wahr ist, dass wenn man schon im Sacharow Zentrum sitzt, man sich schon erinnern könnte, wie beispielsweise die Geschichte Sacharows verlief und das sie mit Gorbatschow einen Qualitätsprung machte. Ob dieser Qualitätssprung mit Putin nun endgültig aufgebraucht ist, daran zweifele ich und sage ganz schlicht, solange es noch solche Veranstaltungen gibt und sie breit diskutiert werden, ist da noch mehr drin als nur Hoffnungslosigkeit.
gedenk Lev-Platonovic Karsavin (ua. "Noctes Petropolitanae")), hier ein wenig
korrigieren. Ich war seinerzeit davon ausgegangen, daß das (bewegliche !) russisch-
orthodoxe Osterfest in etwa zwei Wochen auf das jetzige "westeuropäische" folgen
würde; allerdings fällt das Osterfest der Orthodoxen in diesem Jahr auf einen sehr späten Termin (der eine Inszenierung am "Tag der Arbeit" oder dem "Tag der deutschen Kapitulation" oder in der Karwoche halt sogar eher noch begünstigt
haben könnte), fällt zusammen mit dem 200. Geburtstag Sören Kierkegaards
(auf den 5.5.2013). Daß dies keiner bemerkt hat, zeigt einmal mehr, wie man hier so gelesen wird gelegentlich, wenn das überhaupt (noch) der Fall ist. Auch dieses "Klima", das mir jetzt speziell zu Ungarn wieder auffällt, dieser sofortige Reflex
"Kollaboration" etcpp., ist -gelinde gesagt- anstrengend. Aber, ich wollte schon gen Karfreitag für den Rest einer Spielzeit schweigen (dies werde ich nun auch tun; ehrlich gesagt, ich hatte dann nicht mehr mit Frau Slevogts Antwort auf einen Teil meiner Fragen im Nachbarthread gerechnet), mit der Einschränkung, daß ich mich auf der "Leserkritikenseite" (Bolzplatz) versuchen würde, gäbe es diese wieder
(in übender Vorbereitung für die eigene Seite). Allen ThreadteilnehmerInnen auf nk
eine fruchtbare Spielzeit und aufgeschlossenere Weisen, miteinander über Theater ins Gespräch zu kommen und sich auch Zeit dafür zu geben bzw. zu nehmen zu verstehen ! lg aus Kiel