Botschaften der Zerrissenheit

von Simone Kaempf

Bratislava, Juni 2014. Schließlich kam er doch. Fragte, wo er am Theater parken könnte, und erst damit war den Mitarbeitern des Slowakischen Nationaltheaters in Bratislava klar, dass Attila Vidnyánszky, Intendant des Ungarischen Nationaltheaters, tatsächlich an der Diskussion teilnehmen würde. Selbstverständlich war das für das Theater und das von ihm ausgerichtete Festival "Eurokontext" nicht. Denn als Vidnyánszky in diesem März nach Budapest zum Nationaltheater-Festival "M.I.T.E.M"- lud, hatte sein Kollege Roman Polák, Intendant des Slowakischen Nationaltheaters in Bratislava, eine Gastspiel-Einladung ausgeschlagen.

Weil das "M.I.T.E.M"-Festival im Vorweg der ungarischen Parlamentswahlen stattfand, von der Regierung Viktor Orbáns großzügig alimentiert, wollte Polák nicht in die Gefahr geraten, Teil einer Veranstaltung zu sein, die womöglich nur Ungarns Größe international demonstrieren sollte.

sndbratislava1 560 sikDas Slowakische Nationaltheater in Bratislava © sik

Offenbar kein Grund für Attila Vidnyánszky, nachtragend zu sein. Immerhin hat die von ihm angestoßene Debatte, wie Nationaltheater ihre Bedeutung als Träger und Förderer nationaler Identität besonders in Osteuropa behaupten könnten, nun Bratislava erreicht. Auch Roman Polák sieht die Notwendigkeit darüber zu diskutieren und hat das Thema in das neue "Eurokontext"-Festival des Slowakischen Nationaltheaters integriert. Bei seiner ersten Edition wurden Arbeiten aus Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei gezeigt, Ländern also, die im Spannungsfeld westlicher Öffnung und sozialistischer Vergangenheit in den vergangenen 20 Jahren eine vergleichbare Entwicklung durchlaufen haben.

Zwischen Transformation und Wiederkehr der Geschichte

Fragt man Polák nach dem Verhältnis von Theater und Staat und der noch jungen Erfahrung der Slowakei als unabhängige Nation lacht er und führt auf die Terrasse im obersten Stock des Theaters, wo man einen weiten Blick über das nächtliche Bratislava hat, mit dem illuminierten Schloss auf der anderen Stadtseite, schönster und wichtigster Bau aus der Habsburg-Zeit. Für Polák ist die Slowakei ein altes, gewachsenes Land, das in langer österreichischer und damit westlicher Tradition steht. Demokratie ist für ihn das wesentliche kulturelle Erbe, das es zu beschwören gilt.

romanpolak1 280 snd uRoman Polák
© Slowakisches Nationaltheater
In der Sichtachse zum Schloss liegt auch das graue Gebäude der Polizeidirektion, vor dem 1968 die Panzer des Warschauer Pakts auffuhren, als der Prager Frühling auch in Bratislava gewaltsam beendet wurde. Roman Polak war damals elf Jahre alt. Als junger Regisseur hat er nach dem Umbruch von 1991 die Versuche der Regierung Mečiar erlebt, Einfluss auf die Kultur zu nehmen. Viele Theatermacher sind damals, erinnert er sich, auf die Straße gegangen, bis mit dem Regierungswechsel 1998 ein anderer Kurs eingeschlagen wurde, den man erleichtert aufnahm. Lauter Erfahrungen, die Polák misstrauisch gemacht haben, wenn Politik sich zu sehr der Kunst zu bemächtigen versucht. Auch der Idee, dass ein Theater Werte erschaffen könne, steht er grundsätzlich skeptisch gegenüber: "Wir können als Theatermacher keine kulturellen Werte erschaffen, wir können nur mit ihnen umgehen, sie pflegen oder in Frage stellen."

Unordnungen des 20. Jahrhunderts

Zum "Eurokontext"-Festival am Slowakischen Nationaltheater haben er und die Dramaturgin Darina Abrahámová Inszenierungen eingeladen, die im weitesten Sinn mit Transformation und Wiederkehr von Geschichte umgehen. Spielort ist das Neue Theater, das selbst auch eine wendungsreiche Geschichte erzählt.

Bereits in den 1980er Jahren geplant, zogen sich die Bauarbeiten wegen immer neuer Probleme hin. Nach der Eröffnung 2007 stand das Gebäude dann schon bald wieder zum Verkauf, weil der damalige Intendant seinem Job nicht nachkam. Die Mitarbeiter kämpften dennoch für das Gebäude, das sie selber eigentlich nicht mochten. Erst seit ein noch megalomaneres Einkaufszentrum in direkte Nachbarschaft ans Donau-Ufer gebaut wurde, fühlt man sich hier wohler. "Jetzt finden wir es eigentlich ganz gemütlich", heißt es im Haus. Alles ist eben immer auch eine Frage der Perspektive.

Möglicherweise liegt es an der Atmosphäre des Baus, der zwar neu ist und doch postsowjetische Historie ausströmt, aber eben auch an den eingeladenen Inszenierungen, dass sich die Gespräche am Rande des Festivals immer wieder um die Geschichte des Landes und um die Un- und Umordnungen des 20. Jahrhunderts drehen. Auch mit dem tschechischen Regisseur, Autor und Filmemacher David Jařab kommt man darüber abends schnell ins Gespräch. Zwei Dokumentarfilme hat er über das Massaker im österreichischen Rechnitz gedreht, wo im März 1945 auf einem Schlossfest der Gräfin Margit von Batthyány-Thyssen 180 jüdisch-ungarische Zwangsarbeiter ermordet wurden.

Erinnerungsnähe schaffen

"Generell wurden die eigenen Verstrickungen hier lange verschwiegen, weil alle Schuld den Deutschen zugeschrieben wurde. Gegen eine solche Haltung muss sich Aufklärung erst einmal durchsetzen", sagt der 42-Jährige Jařab. Und ist sich nicht mal sicher, dass es nur am Sozialismus lag, der einen Schlussstrich unter die geschichtliche Aufarbeitung ziehen wollte. Jetzt sei die Zeit jedenfalls reif, die Dinge auf den Tisch zu holen, was er in seiner Arbeit forciert betreibt.

Seine Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück Rechnitz (Ein Würgeengel), die im vergangenen Sommer in der Studiobühne des Slowakischen Nationaltheaters entstand, bewegt sich zwischen sachlichem Bericht und aufgeladener Phantasie des Verhältnisses der Gräfin zur Waffen-SS, zwischen Realitätsnähe und Erinnerungsferne. Vorne auf der Bühne kommen in braunen Clubsesseln die gealterten Dienstboten mit ihren Kindern und Kindeskindern zusammen, drei Generationen, die unterschiedlich über die Mordnacht reden, zwischen Stolz und Sühne, Gegenwart und Vergangenheit mäandern.

rechnitz2 560 andrej balco uGeschichte hinter Glas: Szenenbid aus David Jařabs Inszenierung
"Rechnitz (Ein Würgeengel)"  © Andrej Balco

Was sich auf dem Schlossfest abgespielt hat, wird stumm hinter Glas in einem historischen Spielzimmer nachgestellt. Die Gräfin im Reitdress zielt mit den Gewehr auf Gemächte und Köpfe des SS-Gefolge, lässt sich entkleiden in erotisch grotesker Stimmung, in der sich das wahre Ausmaß dennoch andeutet, wenn in den Kasten Nebel einströmt und sich eine blutige Hand an die Glasscheibe krallt.

In Westeuropa ignoriert

Jařabs Arbeit ist eine ideale Festivalarbeit, dicht und kompakt auf 75 Minuten erzählt, die den historischen Stoff in seiner Vielschichtigkeit anpackt. Im Frühjahr sollte die Inszenierung im Rahmen der "Goldenen Maske"-Preisverleihung in Moskau gezeigt werden. Dann brach jedoch der Konflikt in der Ukraine aus, die Transporter mit dem Bühnenbild saßen an der belarussischen Grenze fest, zudem erkrankte eine der Darstellerinnen.

Dass die westeuropäischen Festivals die Inszenierung bisher ignoriert haben, scheint symptomatisch. Selbst im nur 55 Kilometer entfernten Wien wird weder das Festival noch das Theater in Bratislava wahrgenommen. Aus Wien ist einzig Walter Famler, Publizist und Journalist, angereist, der beschreibt, dass es historisch schon immer so war: Die Slowaken schauten zwar nach Wien, die Österreicher aber lieber nach Deutschland, die Tschechen wiederum nach Ungarn, Traditionen, die in die Gegenwart reichen.

Und glaubt man Polák, schauen besonders die Ungarn heute auch mit gewissen Ressentiments auf die Nachbarländer, die bis 1918 zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gehörten. Beim Publikumsgespräch nach dem Gastspiel des Budapester Vígszínház – "Suitcase Packer", ein Stück des israelischen Dramatikers Hanoch Levin, von Enikó Eszenyi inszeniert – ergreift Polák plötzlich das Wort, lobt die kulturelle Zusammenarbeit zwischen Ungarn und der Slowakei, betont Gemeinsamkeiten und beteuert, weiteren Austausch zu ermöglichen. "Spannung rausnehmen" nennt er das. Im Publikum sitzen viele Mitglieder der in der Slowakei lebenden ungarischen Minderheit. Laut über die nationalkonservative Regierung in Budapest nachzudenken sei, so Polák, kontraproduktiv und bringe an dieser Stelle nichts.

suitcasepackers1 560 daniel domolky uVom Trauern und Fortgehen: Enikó Eszenys Inszenierung "Suitcase Packer" von
Hanoch Levin  © Daniel Domolky

Auch Eszenyi, Grande Dame des ungarischen Theaters, verpackt in ihrer sehr stilisierten Inszenierung die Botschaft der Zerrissenheit zwischen Gehen und Bleiben eher vorsichtig. Es wird von einer vielköpfigen Dorfgemeinschaft erzählt, aus der der junge Elhanan weggehen möchte. Während er zu immer neuen wie vergeblichen Versuchen ansetzt, ziehen andere wirklich weg und es sterben die Älteren. Der Trauerzug hinter den Leichenkarren gerät immer kürzer, wie ein Countdown, bis Elhanan allein übrig bleibt, längst blind geworden für die Verhältnisse um ihn herum.

Neue Verhältnisse, neue Abhängigkeiten

Wie unnachgiebig Geschichte immer wieder durchlaufen werden muss, davon erzählt Michal Dočekals in seiner Inszenierung von Elfriede Jelineks Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, ein Gastspiel des Nationaltheaters Prag, in der die Hauptfigur zurück in die 1920er Jahre geschickt wird, in die Anfänge der Emanzipation und weiblichen Werktätigkeit. In einer an eine Fabrik erinnernden Bühne schraubt diese Nora wie an einem Fließband, nimmt für den neuen Mann an ihrer Seite marionettenhaft verschiedene weibliche Rollen an und erlebt die neuen Abhängigkeiten ungleich härter als zuvor.

nora1 560 lucie jansch u Anstrengende Emanzipation: Michal Dočekals Inszenierung von Elfriede Jelineks "Was
geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte" © Lucie Jansch

In Mehrzahl sind es jedoch die Arbeiten vom Slowakischen Nationaltheater selbst, die beim Festival ihr Heimspiel haben. Roman Poláks Adaption der Buddenbrooks, die sich ganz auf die Figuren konzentriert und ihre Gefühlsqualen inmitten der sich verändernden Verhältnisse lebendig werden lässt. Oder Beáta Mihalkovičovás Inszenierung von Jane Eyre, die als Kostümfest daherkommt, aber auch die Erzählung episch gelungen aufbricht und es tatsächlich schafft, am Freitag Vormittag um 11 Uhr den großen Saal mit 700 Plätzen zu füllen. Im Kontrast dazu die kleinen Arbeiten der Studiobühne, Jonathan Littells Die Wohlgesinnten und Leni eine kleine Serie zu Moral, Krieg und Verbrechen, die exemplarisch zeigt, dass es Polák im Theater darum geht, auf dem Weg über die Abgründe und Verwirrungen der Geschichte die eigene Identität zu befragen.

Role-model Nationaltheater?

Kann das Theater aber auch zur nationalen Identitätsbildung beitragen, zumal in Staaten, in denen der Sozialismus dieses Thema lange unterdrückt hat? Darum ging es auf der Podiumsdiskussion "Nationaltheater im Kontext des 21. Jahrhunderts", bei der neben dem ungarischen Nationaltheaterintendanten Attila Vidnyánszky auch Dariusz Kosiński, Leiter des Warschauer Theaterinstituts, Ján Tošovský, Dramaturg am Prager Nationaltheater und die slowakische Theaterwissenschaftlerin Lubica Krénová auf dem Podium saßen.

diskussionbratislava1 560 snd uPodium zum Nationaltheater (v.l.n.r): Ján Tošovský, Dariusz Kosiński, Attila Vidnyánszky,
Lubica Krénová und Roman Polák. © Slowakisches Nationaltheater

In den Theaterszenen dieser Länder stechen die Nationaltheater heraus, weil ihnen Größe und bessere finanzielle Ausstattung eine besondere Bedeutung verleihen. Doch auch für die Identitätsbildung spielten die Nationaltheater historisch eine wichtige Rolle. "In Tschechien gibt es das Bonmot, dass man sich ein Theater schuf als andere Länder ihre Parlamente bauten", begann etwa Ján Tošovský im Kurzreferat seine Positionsbestimmung, die sich in weiten Teilen mit den Schlussfolgerungen von Kosinski und Krénová deckte: Dass sich die alte Nationaltheateridee inzwischen überlebt hat, dass ein Nationaltheater heute weitgehend eine Organisationsform ist, die staatliche Finanzierung betrifft, sich jedoch über künstlerische Erfolge immer wieder neu legitimieren muss. Attila Vidnyánszky ging mit seinem Theaterbegriff einen Schritt weiter, demzufolge Nationaltheater mehr sein sollten als ein Ort, an dem Vorstellungen zu sehen sind. Darüber hinaus sollen sie kulturellen Werten und lokaler Identität in einer global immer ähnlicher werdenden Welt Schutz bieten. Vidnyánszky wünschte sich das Theater als nationales "role model", das nicht nur Altes bewahrt, sondern Neues schafft. Wie genau jedoch dieses Theater aussehen soll, blieb in Bratislava schwer zu durchschauen.

Doch auch die anderen Diskussionsteilnehmer bewegten sich in schwammigen Bereichen und ließen letztlich offen, wie die Bögen zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf der Bühne eigentlich geschlagen werden sollen. Und so konträr Roman Polák zu Vidnyánszky stehen mag: Kernpunkt ist auch für ihn die Frage nach der Identität, selbst wenn er sie nicht mit dem Etikett "national" versieht, sondern unter anderen Vorzeichen behandelt. In der nächsten Spielzeit wird er an seinem Theater fast ausschließlich slowakische Autoren spielen, die teils historische Stoffe behandeln. Patriotische Gefühle treiben ihn weniger an als der Wille, die eigene Herkunft besser zu verstehen. Selbstverständlich ist der Spielplan für das Theater allerdings nicht. Wie die Zuschauer reagieren werden, bleibt offen. Aber das ist ein anderes Thema.

 

Eurokontext Festival - Drama 2014
Slowakisches Nationaltheater Bratislava 13. – 25. Juni 2014

www.eurokontext.sk
www.snd.sk

 

Offenlegung: Simone Kaempf war auf Einladung des Eurokontext-Festivals vom 17. bis 20 Juni in Bratislava. Das Festival hat Reise- und Übernachtungskosten übernommen.

 

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