Presseschau vom 14. Juli 2011 – Die Zeit widmet sich in einem langen Text dem postmigrantischen Theater
Augen öffnen für das Naheliegende
Augen öffnen für das Naheliegende
14. Juli 2011. In der Zeit (14.7.2011) schreibt Kilian Trotier über das postmigrantische Theater, darüber, wie dieses Thema vibriert, "wie es Theatermacher und Schauspieler packt und durchschüttelt. Sie wollen alle weiter, und sie wissen: Wenn das Theater überleben will, muss es sich öffnen. Aber bei der Frage nach dem Wie scheren die Meinungen auseinander."
"Reden wir doch erst einmal übers Aussehen. Denn darum geht's doch, wenn man über Migranten am Theater spricht, oder?", fragt Trotier zu Beginn und lässt seinen Text mit der Schauspielerin Yvette Coetzee enden, die in Bremerhaven im Rahmen von "Odyssee: Heimat" auf der Bühne vom Niedergang deutscher Auswanderer-Tradition in Papua-Neuguinea erzählte. Coetzee "ist in Südafrika aufgewachsen und 2001 nach Berlin gezogen. Ihre Familie kommt aus Namibia, hat deutsche Wurzeln. Sie ist gleichzeitig Migrantin und Nachkomme von Ausgewanderten, eine Frau mit multiplen Identitäten. Nur ansehen kann man ihr das alles nicht."
"Ich freue mich jedes Mal, wenn ich mal was spiele, was nichts mit meinem Aussehen zu tun hat", wird Orhan Müstak zitiert, seit dieser Spielzeit Ensemblemitglied in Freiburg. Ob er oder der Regisseur Orhan Pamuk - "sie alle haben sich an den verdrehten Blick von außen gewöhnt. Aber irgendwann, so hoffen sie, wird sich niemand mehr darum scheren, wer da auf der Bühne steht".
Ein Ziel scheint in allen Gesprächen auf, die Trotier geführt hat: Normalität. "Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und es schwingt eine Angst mit, die vieles zunichtemachen könnte." Die, dass von der derzeitigen Euphorie wenig übrig bleibt. Drohe den Migranten dasselbe wie den Theater-Früh-Erziehungsprogrammen vor einigen Jahren? Vielleicht, sagt Roberto Ciulli, als Italiener lange Jahre der einzige Intendant mit Migrationsgeschichte, der ganz im Sinne von Mark Terkessidis sagt, "wir müssen endlich lernen, dass es keinen Unterschied zwischen Migranten und Nichtmigranten gibt, dass unsere Gesellschaft ihre Probleme nur auf die Gruppe der Migranten abschiebt, dass der Migrant, der von Lampedusa kommt, und der Hartz-IV-Empfänger in Deutschland dieselben Sorgen haben."
Für das Theater bedeutet das, so Trotier: "Es geht nicht darum, begierig nach Kopftuchfrauen im Publikum Ausschau zu halten oder alibimäßig jedes Jahr ein Stück über, nun ja, Ehrenmord zu machen, sondern darum, Geschichten von Fremdheit in unserer Zeit aus der Mitte der Gesellschaft zu erzählen, die Augen zu öffnen, auch für das Naheliegende."
(sik)
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