Presseschau vom 21. Oktober 2011 – Eva Behrendts Notizen über Heinrich von Kleist in der "Küsse und Bisse"-Reihe in der taz

Mit sich selbst bekannt gemacht

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Mit sich selbst bekannt gemacht

21. Oktober 2011. In der Reihe "Küsse und Bisse – Notizen zum Kleistjahr", die die taz anlässlich des Kleist-Jahrs noch bis zum 21. November bringt, schreibt Eva Behrendt heute darüber, wie das Unrecht und die Selbstermächtigung einem bei Kleist in vielerlei Gestalt begegnen.

"Die mal versteckte, mal explizite Gewalt und der Umgang mit ihr überraschen mich bei Kleist immer wieder. Kleists Erzählungen, Lust- und Trauerspiele wimmeln in Haupt- und Nebenhandlungen nur so von 'Sündenfällen' und sexuellen Übergriffen, während man nach erotischem Einvernehmen (fast) vergeblich sucht", schreibt Behrendt. Vielleicht war sexuelle Gewalt zu Kleists Zeiten, zumal zwischen den sozialen Schichten, noch viel alltäglicher. Aber man müsse sich nur die öffentlich diskutierten Fälle der letzten Monate anzuschauen, um zu ahnen, dass nicht alles Geschichte ist.

"An Kleists Figuren bewundere ich die Radikalität, mit der die Opfer ihre Schwäche in Stärke wenden, ohne dass damit das ihnen Zugestoßene verkleinert wird." Nachdem die Marquise von O. hochschwanger aus ihrem Elternhaus verstoßen wurde, aber gegen den Willen ihres Bruders durchsetzt, ihre Kinder mitzunehmen, schreibe Kleist den irren Satz: "Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor." – "Mit sich selbst bekannt gemacht, was für eine Wahnsinnsformulierung!"

Und zum anderem ist Behrendt von der Abwesenheit von Psychologie bei intensivster Gefühlsschilderung fasziniert. “Kleists Figuren sind immer bewundernswert konkret in dem, was sie tun und empfinden. Wenn Liebe, Hass oder plötzliche Begierde über sie kommen, ist Therapie zwecklos. Natürlich haben die Käthchen und Penthesileen auch gar keine Zeit, depressiv zu werden, weil sie für die eigene Gefühlssache - sei es Scham, Liebe, Begierde - oder um ihre soziale Existenz kämpfen müssen." Der Gedanke, dass im Gegensatz zur demütigenden Erinnerung aktive Verdrängung befreien und ein neues Leben in Würde ermöglichen kann, ist gerade in der Therapiegesellschaft interessant.

(sik)

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