Die Seuche - Theater Freiburg
Die Stunde der Schwarzseher
von Jürgen Reuß
Freiburg, 3. Juli 2021. "Ihr seid im Arsch!" Mit diesen ersten Worten ist im Grunde schon sehr viel von dem ausgedrückt, was Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani in ihrer Überschreibung von Albert Camus Roman "Die Pest", die als "Die Seuche" im Kleinen Haus des Theater Freiburg Premiere hat, sagen wollen. Es ist eine sehr freie Überschreibung, die Camus eher als aufgetupfte Grundierung nimmt.
Im Reich der Hobby-Virologen
So ist Panneloux, die den Eröffnungssatz spricht, kein Jesuitenpater wie bei Camus, sondern eine der vielen gut informierten Laien, die uns Covid-19 beschert hat, eine von den 82 Millionen Virolog:innen, von denen Leon Goretzka hoffte, dass sie sich wieder in die gewohnten 82 Millionen Bundestrainer verwandeln würden. Allein, Goretzkas mit seinen Bundeskickern gemeinsam entwickeltes Serum entpuppte sich in Wembley ebenso als zu schwach, wie das von Dr. Castel (Henry Meyer) im Freiburger Theater gegen die Seuche.
Für Panneloux (Anja Schweitzer) ist der Ausgang eh von Beginn an klar. So, wie die Menschen die Natur behandeln, wird sie zwangsläufig zurückschlagen. Und so verkündet sie es vom Balkon, der in der Pandemie ja zu einem der neuen Hauptschauorte avanciert ist. Vom Balkon aus werden Missstände weggeklatscht, wird mit Musik getröstet. Er ist überhaupt so etwas wie der Ausguck in der Pandemiehaltung, von dem aus der Kontakt zur Außenwelt gepflegt wird.
Koohestani hat zwei dieser Balkone auf der Bühne installiert. Sie rahmen einen großen ovalen Tisch, dem zweiten großen Corona-Schauplatz. Dort betreibt man Krisenmanagement und talkende Öffentlichkeitsarbeit. Hier steht er in einem Hotel und gibt dessen Manager (Tim Al-Windawe) die Möglichkeit, erst über die wirtschaftlichen Folgen der Seuchenmaßnahmen zu granteln und später die Tore für eine hilflose Hilfsaktion zu öffnen.
Karl Lauterbach trifft auf Springer-Journalismus
Über allem sind im Hintergrund Wäscheleinen gespannt. Mehr als die Laken, die dort aufgehängt werden, muss über Hygienemaßnahmen und Sterben nicht gesagt werden. Gelegentlich assistieren Videoprojektionen (Benjamin Krieg), die wie ein Namensrequiem über die Bühne wandern, bis sie im Retro-Nirwana einer vergangenen Schwarzweiß-TV-Ära ausflackern. Das ist alles sehr stimmig und stimmungsvoll und deckt mehr oder weniger den Ereignishorizont ab, vor dem sich die Seuche für einen städtischen Haushalt abspielt.
Auch was inhaltlich verhandelt wird, ähnelt dem, was in den verschiedenen Medienformaten seit Corona diskutiert wird. Dr. Rieux (Janna Horstmann) ist eine Art weiblicher Karl Lauterbach auf kommunaler Ebene, die zwischen Medizin und Politik jongliert, und Dr. Castel der kämpfende Virologe von der Seuchenfront. Was die mediale Verarbeitung angeht, machen Koohestani und Sadri eine interessante Setzung: Der Journalist Rambert (Moritz Peschke), der mit täglichem Podcast von der Seuche berichtet, kommt von einem rechten Blatt, beziehungsweise einem "neokonservativen", wie Rambert korrigiert, um damit die einschlägige Floskel von wirklich rechts zu erfüllen. Auch das Klischee, dass niemand die Zeitung kennen will, und doch alle sie lesen, wird gespielt.
Der Blogger vom Balkon
Ausgerechnet diesen Journalisten wählt Dr. Rieux aus, um der Öffentlichkeit die Wahrheit zu verkünden: dass es sich beim Rattensterben um die Pest handelt. Es ist die Wahrheit, die sie in ihrer politischen Funktion verschweigen muss. Ein Hinweis darauf, dass hier ein Meinungsdruck einer anderen Öffentlichkeit herrscht und die Wahrheit nun von rechts ihren Weg suchen muss? Ein überraschendes Diskussionsangebot. Dazu passt, dass einer der geheimen Leser von Ramberts Blatt, der illegale Hotelgast Tarrou (Hartmut Stanke), dem Journalisten und der versammelten Runde eine Lektion erteilt, wie Journalismus wirklich geht: "Wer als Journalist ersetzt werden kann, ist kein Journalist, sondern Beamter."
Anders als bei Camus ist Tarrou hier kein engagierter junger Mann, sondern ein finanziell unabhängiger Rentnerblogger. Auch er ist ein Balkonbewohner. Zusammen mit der fatalistischen Panneloux und dem suizidalen Ganoven Cottard (Martin Hohner), der in der Seuche seinen Lebenssinn wiederfindet, bildet er so etwas wie die Vox populi der neuen bürgerlichen Öffentlichkeit.
Am Ende sind sie alle tot, bis auf den Journalisten Rambert, dem sie auf einer gespenstischen Party für den Tod als Sieger über die Seuche das letzte Geleit ins Leben geben. Sehr gut gespielte anderthalb Stunden in einem sehr stimmigen Bühnenbild sind vorüber. Und was bleibt? Koohestani und Sadri haben Camus' Gedanken der Revolte in Schicksalsergebenheit gewendet; die Hoffnung der Öffentlichkeit kommt von rechts; es ist schön, sich im Helfen zu solidarisieren – aber am Ende sind wir alle tot. Vielleicht soll man es mit Panneloux halten: "Ich mag Leute, die für die Zukunft schwarz sehen."
Die Seuche
von Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani
nach dem Roman "Die Pest" von Albert Camus.
Regie, Bühnenbild, Textfassung: Amir Reza Koohestani, Kostüme: Lea Søvsø, Licht: Cajus Ohrem, Video-Design: Benjamin Krieg, Dramaturgie: Rüdiger Bering.
Mit: Janna Horstmann, Moritz Peschke, Tim Al-Windawe, Hartmut Stanke, Martin Hohner, Anja Schweitzer, Henry Meyer.
Premiere am 3. Juli 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theater.freiburg.de
Zuletzt legten Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani am Deutschen Theater Berlin Woyzeck Interrupted als Neufassung des Dramenfragments von Georg Büchner vor.
Kritikenrundschau
Regisseur Amir Reza Koohestani habe im Interview erklärt, dass er mit seiner Inszenierung unmittelbar an die Erfahrungen mit der Pandemie anknüpfen wolle, schreibt Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (4.7.2021) und meint: "Das gelingt – und auch wieder nicht". Zu unterschiedlich seien am Ende die Fokussierungen bei Camus und in der aktuellen Situation. Aber: Den "pointierten Dialogen" höre man gerne zu – auch, weil das Schauspielensemble sehr motiviert und konzentriert bei der Sache sei. Bewusst gesetzte Irritationen und Widersprüche sieht die Rezensentin an diesem Abend. Auch das Finale sei eine Irritation: "Dem Happy End ist buchstäblich der Stecker gezogen", schreibt sie. Und schließt ihre Kritik mit den affirmativen Worten: "Der Beifall hielt lange an".
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