Eurotopia - Acht Künstlerteams befragen in Freiburg das europäische Projekt
Potpourri der Fliehkräfte
von Jürgen Reuß
Freiburg, 4. März 2017. Gegen Ende der Ära Barbara Mundel wagt das Theater Freiburg noch einmal den großen Wurf. Mit Hilfe von acht internationalen Künstlerteams soll unter dem Titel "Eurotopia" untersucht werden, was von der Utopie Europa geblieben ist. Um dem Ganzen mehr Tiefgang zu verleihen, werden die Aufführungen in den kommenden zwei Monaten in vier unterschiedliche Themenblöcke eingebettet.
Für das Premierenwochenende galt das Motto "Europa der Städte", weshalb die Zuschauer schon am Nachmittag einem interessanten Bürgermeisteraustausch zwischen Freiburgs Dieter Salomon, Spiros Pengas aus Thessaloniki und Bart Somers aus dem belgischen Mechelen beiwohnen durften. Wer diese Diskussion als Opener für den Abend mitgenommen hatte, durfte sich glücklich schätzen. Detailliert und engagiert schilderten die drei Herren aus der Praxis die geduldigen Bemühungen, ihre Städte trotz steigender Fliehkräfte zusammenzuhalten. Ihnen war das Ringen darum anzumerken, wie Zusammenhalt mehr sein könnte als ein Verwalten monokultureller Enklaven.
Einer, der sagt, wo's langgeht
Der Inszenierungsreigen auf der Bühne startete dagegen zunächst mit großer Schaumschlägerkunst: Der seit den Gezi-Protesten im europäischen Exil lebende türkische Regisseur Memet Ali Alabora nahm sich den Europa-Mythos als Kurzoper vor. Im Großen Haus schält sich aus dem Weltall das Sternbild Stier, eine Karte wölbt sich zur animierten Landschaft, der schließlich Europa entsteigt, von ihrer Verwirrung kündend: Bin ich Ost oder West? Ein Chor neckischer Jungfrauen umspielt sie, und begleitet von gefälliger Musik und poesiealbumhaften Animationen kommt, was bei unsicheren Frauen offenbar bis heute immer noch kommen muss – ein Mann, der sagt, wo es langgeht. In diesem Fall Zeus, der leuchtet wie sonst nur noch die Jesus-Darstellungen bei den Mormonen. In dem Moment, wo Zeus und Europa sich kriegen, zerplatzt eine Art schwarze Pestbeule – und Schluss. Das klügste, was man dazu wahrscheinlich sagen kann, ist das, was der Regisseur dem Programmheft verrät: "I sometimes question the relevance of opera in today's world, then I don't care as long as I enjoy it." Egal, weiter geht's.
Europa – ein Sehnsuchtsort
Der belgische Theater- und Filmemacher Ruud Gielens hat in Kairo ägyptische Kinder und Flüchtlingskinder befragt, was sie sich unter Europa vorstellen. Herausgekommen ist eine Art unheimlicher Imagefilm für Europa. Klare Vorstellungen, was Europa ist, haben die Kinder nicht, aber eins wird deutlich: Europa ist mit einer Ausnahme ihr Sehnsuchtsort. Unheimlich ist der Film, weil Europa diese naive Sehnsucht vermutlich nicht als Kompliment und Verpflichtung stolz entgegennehmen kann, sondern eher als Drohung auffasst.
Während man diesen beiden Trugbildern Europas noch nachhängt, wird man auf die Hauptbühne gelotst und darf nun Jarg Patakis "Wiedergeburt Europas" folgen, bei der Leni Riefenstahl den Schnitt einer Doku über ein litauisches Dorf mit ihrer faschistischen Ästhetik kommandiert. Von der Tribüne aus schaut man auf die ausgebreiteten Drehbuchblätter wie Hitler auf den Reichsparteitag in Nürnberg. Hübsches Bild, aber schon kommen drei Schweizer Schamanen, schwören was Urschweizerisches. Kaum hat man sich damit abgefunden, kommt eine Vogelgestalt und singt ein jiddisches Lied. Ist das verdaut, kommen doch noch Lenis Nuba, ein afrikanischer Bilderbuchauftritt. Dann ist endlich alles finster. Ob es über die Peinlichkeit hinweghilft, dass die drei Nubadarsteller in der Schlussnummer aus dem Klischee des schönen, schwarzen Wilden heraustreten und die Identität als Freiburger Bürger einfordern, die sie tatsächlich auch haben?
Religiöse Säuberung und schwarze Lokalgeschichte
Felicitas Brucker und Arved Schultze Kinder nachsprechen, was jugendliche Häftlinge an der französisch-belgischen Grenze ihnen erzählt haben. Kleine, atmosphärisch dichte Miniaturen, angenehm zurückhaltend in Szene gesetzt.
Nach der Pause lassenEmre Koyuncuoglu spannt den Bogen wieder weiter. Für sie ist das entscheidende europäische Datum 1923, als mit dem Vertrag von Lausanne der (erzwungene) Bevölkerungsaustausch zwischen Türkei und Griechenland beschlossen wurde. Die hilflose Wut über diese religiöse Säuberungsaktion empfindet Koyuncuoglu als ihr Erbe. Die Schauspieler deklamieren fiktive Briefe, in denen die Regisseurin die damalige Situation mit der heutigen Lage in der Türkei kurzschließt.
Zum Schluss werden noch die "Freiburg Files" geöffnet. Der kongolesische Choreograph Faustin Linyekula gibt den People of Color in Freiburg ein Gesicht, eine Geschichte. Eine Kollektion verschiedenster selbstgeschreinerter Podien wird zu einer Tribunalrunde zusammengestellt. Den Vorsitz übernimmt Original Mystic Alpha und stellt die entscheidenden Fragen: Alle haben in Freiburg schon mal demonstriert, aber warum hat es noch nie eine Demo von Schwarzen in Freiburg gegeben? Was als Agitprop beginnt, mündet im konkreten Versuch, schwarze Geschichte in Freiburg sichtbar zu machen.
Der Wert der Heterogenität
Die Podien stammen übrigens von Ortreport & Meier / Franz, die in diesen Kulissen Schauspielerinnen berühmte europäische Reden nachsprechen ließen. Neben Milo Raus Civil Wars die zweite Installationsarbeit.
Was bleibt von so einem europäischen Potpourri? Das Beste ist wahrscheinlich der reine Handlungsaspekt: Acht heterogene Entwürfe teilen sich die Bühne, ohne sich gegenseitig das Licht zu nehmen. Und wir haben Bühnen, die das zulassen. Beides sind schon irgendwie europäische Werte. Dafür, wie man sie praktisch ausbaut, gibt es ja auch noch Bürgermeister. Warum übrigens keine Bürgermeisterin?
Eurotopia
Regie: Memet Ali Alabora, Felicitas Brucker & Arved Schultze, Ruud Gielens, Emre Koyuncuoglu, Faustin Linyekula, ORTREPORT & Meier/Franz, Jarg Pataki, Milo Rau.
Musikalische Leitung: Johannes Knapp, Ausstattung: ORTREPORT & Meier/Franz Sabina Moncys, Komposition: Evrim Demirel, Libretto: Meltem Arikan, Zeichnungen: Ludmilla Bartscht, Video: Simon Braun, David Gnad, Katrin Krumm, Jakob Schäfele, Künstlerische Mitarbeit: Hauke Lanz, Yasemin Nur, Elif Öner, Licht: Michael Philipp, Ton: Jonas Gottschall, Dramaturgie: Jonas Görtz, Viola Hasselberg, Jutta Wangemann.
Mit: Kirstie Angstmann, Arthur Anselm, Benjamin Bay, Lena Drieschner, Johanna Eiworth, Iza Gwizdak, Jürgen Herold, Maren Herten, Holger Kunkel, Friederike Mehler, Iris Melamed, Stefanie Mrachacz, Original Mystic Alpha, Shinsuke Nishioka, Pedro Ricardo, Sigrun Schell, Graham Smith, Lisa Marie Stoiber, Martin Weigel, Liying Yang, Musiker des Philharmonischen Orchester Freiburg.
Dauer: 3 Stunden und 30 Minuten, eine Pause
www.theater.freiburg.de
"'Eurotopia' ist das Gegenteil von Eurokalypse“, schreibt Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (6.3.2017). Im Film des belgischen Theater- und Filmemachers Ruud Gielens, der ägyptische Kinder über Europa befragte, "wird einem natürlich warm ums Herz, wenn die hinreißenden kleinen Protagonisten ihre Phantasien von einem Kontinent erzählen, den sie vermutlich nie sehen werden". In anderen Produktionen wie den Beiträgen von Felicitas Bruckers, Arved Schultzes oder Jarg Pataki "rätselt" die Kritikerin, was das mit Eurotopia zu tun haben könnte. Fazit: "'Eurotopia' kämpft auch im Freiburger Theater mit düsteren Aussichten."
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