Allwissen - Johanna Wehner inszeniert Tim Carlsons Überwachungsstaat-Stück in Konstanz
Gläserne Menschen
von Elisabeth Maier
Konstanz, 1. November 2014. Der Krieg frisst sich wie ein Krebsgeschwür in den Alltag der Menschen in Tim Carlsons "Allwissen". Einen alles verschlingenden Überwachungsstaat zeigt das Stück des kanadischen Dramatikers und Mitbegründers der "Western Theatre Conspiracy" in Vancouver. Vor zehn Jahren wurde es uraufgeführt, damals reagierte Carlson mit dem auf den ersten Blick simpel gestrickten Drama auf die massiven Einschränkungen der Bürgerrechte, die die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA und in Kanada nach sich zogen. Jetzt aber hat das dokumentarische Dialogstück seine wahre Aktualität gewonnen.
In Konstanz erkundet Johanna Wehner in ihrer Inszenierung nun die zertrümmerten Seelenlandschaften der Protagonisten. Die Regisseurin, deren Stärke eigentlich in der Komposition literarischer Textflächen liegt, entrümpelt es auch von seinem dokumentarischen Ballast. 2007 hat Isabel Osthues das Stück im Magdeburg zur deutschsprachigen Erstaufführung gebracht. Damals waren die Bilder der einstürzenden Zwillingstürme in New York noch präsenter. Der "Patriot Act" und der "Krieg gegen den Terror", mit denen sich die Amerikaner bis heute hysterisch abschotten, waren Gegenstand heftiger Diskurse. Heute ist der gläserne Mensch selbstverständlich geworden. Kaum jemand regt sich noch darüber auf.
Unter Staats-Diktat
Diese Gleichgültigkeit ist es, die Wehner fasziniert. Sie zeigt Carlsons Überwachungsstaat als geistiges Gefängnis. Nebelschwaden ziehen durch Cedric Kraus' Bühnenraum, der von Metallgerüsten eingegrenzt wird. Auf einem steht die Personalleiterin, im neuen Sprachgebrauch Wellnesschefin genannt, des Medienkonzerns Channel One. Das ist der erste Propagandasender im Staat. Jana Alexia Rödiger zelebriert die Corporate Identity ihrer Figur lustvoll. Ihre falschen Wimpern klimpern im Takt der Werbespots, die über die Leinwand flimmern. Leise Kaufhausmusik verbreitet Unbehagen. Der Staat diktiert das Denken. Und formt die Sprache: Performancestandards müssen eingehalten werden. Menschen werden rekonfiguriert.
Nach einem Terroranschlag auf Channel One wird die Führungskraft vom Geheimdienstagenten George Ellis verhört. Es geht darum, dass Warren verschwunden ist – ein Cutter, der an geheime Informationen kam, als er eine "Säuberungsoffensive" filmisch dokumentierte. Mit einer überdimensionierten Rechenmaschine will der Agent (Jürgen Bierfreund) an geheime Informationen kommen. Die Kunstfiguren, die den allwissenden Staat und ihre Repräsentanten verkörpern, zeigt Wehner als groteske Medienkonstrukte. Miriam Draxl hüllt sie in Kostüme in schrillen Farben und halbseidenem Glitter.
Zerfalls-Studie
Radikal psychologisch ist dagegen die Rollenkonzeption der Opfer. Thomas Fritz Jung, der den Cutter auf Wahrheitssuche spielt, treiben Angst und Verzweiflung an. Da lotet der Schauspieler Grenzen aus. Hilflos muss er mit ansehen, wie seine Partnerin vom posttraumatischen Stress zerstört wird. Die ehemalige Soldatin Anna hat ihre eigenen Leute mit einer Drohne getötet. Im rosa Jogginganzug und mit Ringen unter den Augen reibt sich Ines Hollinger an einer Gesellschaft, in der sie nur noch mit Tabletten und mit Alkohol überleben kann. Sehr sensibel legt die Schauspielerin die verletzlichen Seiten ihrer Figur offen. Ihre Anfälle, in denen sie Kampfszenen nachlebt, sind Hilferufe. Die Studie eines Zerfalls geht unter die Haut.
Die Regisseurin Wehner meistert den Spagat zwischen Groteske und psychologischem Drama über weite Strecken, aber nicht immer. Dann verpuffen die bemerkenswerten Leistungen der Schauspieler in Science-Fiction-Klischees. Dennoch ist ihr Zugriff auf den Text originell. Indem sie sich ganz auf die Kriegsschauplätze in den Köpfen konzentriert, tritt sie den Beweis an, dass Carlsons "Allwissen" mehr ist als ein amerikanisches Zeitstück von der Stange.
Allwissen
von Tim Carlson, Deutsch von Barbara Christ
Regie: Johanna Wehner, Bühne: Cedric Kraus, Kostüme: Miriam Draxl, Dramaturgie: Miriam Denger.
Mit: Ines Hollinger, Jana Alexia Rödiger, Jürgen Bierfreund, Thomas Fritz Jung.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.theaterkonstanz.de
"Auf die Bush-Ära einfach noch eins draufzusetzen reicht nicht", schreibt Maria Schorpp im Südkurier (3.11.2014) und findet, dass das Stück nicht aufs Heute passt. "So ist es nicht nur sehr schnell von der Wirklichkeit eingeholt worden, sondern stellt sich auch als nicht wirklich weitsichtig heraus." So erklären sich auch die Schwierigkeiten, die Johanna Wehner und ihr Ensemble am Konstanzer Stadttheater haben. "Da ist nicht eine Figur, die über kollektive Meinungsbilder hinaus etwas über unsere Wirklichkeit zu sagen hätte." Fazit: "So bleibt es denn bei Theaternebel, der wie die Schwaden von Gewalt und Zerstörung über die Bühne in den Zuschauerraum zieht. Den Kampf mit dem Stück hat Johanna Wehner jedenfalls verloren. Da war von vornherein auch nicht viel zu gewinnen."
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