Wohin führt unsere Reise?

27. Januar 2024. Einen alten mesopotamischen Mythos nimmt Amir Gudarzi für sein Stück "Als die Götter Menschen waren" zum Ausgangspunkt, um über Unterdrückung und Befreiung in der Menschheitsgeschichte zu erzählen. Gestern im Zweistromland, heute im Amazon-Lager und morgen auf dem Mars.

Von Sarah Kailuweit

"Als die Götter Menschen waren" von Amir Gudarzi in Mannheim © Maximilian Borchardt

27. Januar 2024. Die langen schwarzen Fransen rascheln im Takt. Fünf Figuren steppen durch den schwarzen Raum. Die Hände stecken in Handschuhen mit jeweils drei Fingern und immer mal wieder strecken sie ihre Arme mit diesen drei-Finger-Klauen nach oben. Sie tanzen. Sie sprechen. Aber das hier sind keine Menschen. Es sind seltsam unbestimmte Wesen und gemeinsam sind sie vor allem ein lautes Rauschen. Aus ihrem Rauschen kommen an diesem Abend die Geschichten. Und die Geschichte der Geschichten.

Vom Arbeitssklaven zum Weltraumentdecker

Amir Gudarzi ist Hausautor am Nationaltheater Mannheim in der Spielzeit 2023/24 und für "Als die Götter Menschen waren" nimmt er einen der ältesten überlieferten Mythen der Menschheit zum Ausgangspunkt: das 1800 v. Chr. entstandene Atraḫasis-Epos. Darin geht es um die Erschaffung der Menschen, zunächst als Arbeitssklaven für die Götter; bald aber werden die Geschöpfe widerspenstig und fallen den Göttern zur Last. Motive aus diesem Mythos führt Gudarzi weiter bis in unsere Gegenwart und in Science-Fiction-Szenarien.

Der Abend wird durch die wiederkehrenden Tanzeinlagen des Ensembles rhythmisiert – gelegentlich zu Techno-Beats und Nebelmaschine. Die funktionieren dank der rauschenden Fransenmäntel zuverlässig gut. Für diese Kostüme voller Klang und Wandlungsmöglichkeiten ist Korbinian Schmidt verantwortlich.

Rauschender Chor: Shirin Ali, Larissa Voulgarelis, Jessica Higgins, Sarah Zastrau und Leonard Burkhardt © Maximilian Borchardt

Alles hat mit allem zu tun auf der reduziert ausgestatteten Studiobühne im Werkhaus des Nationaltheaters Mannheim, und aus dem Rauschen des Ensemble-Chors schälen sich immer wieder Figuren heraus. Dann wird der Fransen-Mantel abgelegt und plötzlich steht da Ištar in einem neonfarbenen Zweiteiler, den sie so auch auf der USS Discovery hätte tragen können. Ištar ist eigentlich Ingenieurin. Sie arbeitet bei Tesla im Brandenburgischen Grünheide. Aber nicht als Ingenieurin. Denn Ištar kommt aus dem Irak und in Deutschland wird ihr Studium nicht anerkannt.

Ištar muss also kämpfen – immer wieder und andauernd: um Anerkennung in Beruf und Alltag, auch später, wenn die Firma sie fast das Leben kostet. Kämpfen muss auch Mazlum, der Amazon-Pakete durch Altbau-Treppenhäuser hievt und sich mit Sendungstracking im Nacken durch den Großstadtverkehr drückt. Mazlum gibt alles und verliert dann trotzdem.

Geschichten von Unterdrückung und Revolution

Es sind Geschichten von Unterdrückung und Revolutionen. Erzählt werden sie fast monologisch – immer wieder unterstützt der Mantel-Chor das Geschehen vorne am Bühnenrand. Das sorgt dank parodistischer Einwürfe und Meta-Ebenen-Ballett für Amüsement und Lacher, auch wenn nicht alles gelingt. Während bei Leon Burkhart als Paketbote jede überzogene Pantomime trifft (und man nochmal genau hinschauen muss, um sicher zu gehen, dass er da beim Rauchen wirklich keine Zigarette zwischen den Fingern hat), wabert Larissa Voulgarelis manchmal etwas ziellos durch den Raum. Dabei sind ihre Erzählungen von digitalen Fluchtorten sehr präzise und stellen Fragen, die wir dank fortschreitender Digitalität sowieso früher oder später beantworten müssen.

Regisseur FX Mayr lässt auch Jessica Higgins als Eva im neonblauen Zweiteiler immer wieder in der Bühnenmitte von der Zukunft berichten, in der sie lebt: Eva, Nachfahrin der Superreichen, die sich die Reise zum Mars leisten konnten, als die Erde endgültig unbewohnbar wurde. Eva, die sich fragt, warum es im terrestrischen Internet so viele Katzenvideos gab. Jessica Higgins ist als Eva angemessen unnahbar und lässt trotzdem menschliche Fehlbarkeit in ihrer Figur zu.

Influencerin und Gottheit

Besonders eindrucksvoll ist es allerdings Shirin Ali in der Rolle der Mandana, die nicht nur mit dem Atraḫasis-Epos die zentrale Erzählstruktur immer wieder aufleben lässt, sondern mühelos in Sekunden komplett unterschiedliche Verhaltensweisen verkörpert. Sie huscht zwischen Influencerin, alter Gottheit und pathosgeladener Erzählerin hin und her, ohne jemals wahllos zu wirken. Und mit einem metaphorischen Augenzwinkern nimmt sie die so gegensätzlichen Rollen auch nicht allzu ernst.

Goetter2 1200 MaximilianBorchardtShirin Ali als Mandana © Maximilian Borchardt

Das Spiel mit den verschiedenen Entitäten und Identitäten der Spieler*innen und die Reise durch unterschiedliche Ebenen des Textes hat Regisseur FX Mayr sorgsam eingerichtet. Er schafft es, das Publikum in dem doch sehr großen Kosmos von Gudarzis Stück an die Hand zu nehmen und serviert eine ausgewogene Mischung an Realitätsohrfeigen und Situationskomik. Sehr gelungen ohne Einzelschicksale zu leicht oder die Geschichte der Menschheit zu schwer zu nehmen. So entsteht ein buntes Zeit(en)zeugnis. Und am Ende wiederholt sich die Geschichte. 

Als die Götter Menschen waren
von Amir Gudarzi
Uraufführung | Auftragswerk
Regie: FX Mayr, Bühne: Anna Wohlgemuth, Kostüme: Korbinian Schmidt, Musik: Martina Berther, Licht: Robby Schumann, Dramaturgie: Franziska Betz, Regieassistenz: Jonas Mangler, Francisca Ribeiro, Melanie Schmidt, Ausstattungsassistenz: Caroline Wolf, Soufflage: Eike Brand, Regiehospitanz: Daniela Geis.
Mit: Shirin Ali, Leonard Burkhardt, Jessica Higgins, Larissa Voulgarelis und Sarah Zastrau.
Premiere am 26. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

Kritikenrundschau

Autor Amir Gudarzi spanne den ganz großen Bogen, "verknüpft Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bezieht sich auf Mythen, Geschichte, aktuelle Politik und Katastrophen", schreibt Susanne Kaulich im Mannheimer Morgen (29.1.2024). Auf der Bühne sei das "abwechslungsreich, mitunter auch witzig". Überdeutlich werde das Anliegen, die Menschheits- und Wirkungsgeschichte über die Zeiten hinweg zu beleuchten. "FX Mayr animiert sein äußerst spielfreudiges Ensemble zu oft humoristischen Kabinettstückchen." Fazit: "Ein bisschen weniger Rundumschlag mit Zeigefinger und Katastrophendropping hätte aber nicht geschadet."

"Ein bitteres, anklagendes, stellenweise aber auch humorvolles Menschheitsdrama", so Marie-Dominique Wetzel im SWR Kultur (29.1.2024). Regisseur FX Mayr schaffe es, insgesamt einen guten Spannungsbogen zu halten und die Spielfreude des Ensembles sei groß! "Aber nicht alle der vielen Übergänge und Zeitsprünge sind wirklich geglückt." Besonders bewegend seien die Geschichten aus der Gegenwart und die Verweise auf unsere heutigen Plagen: die vielen Kriege und Umweltkatastrophen. "Das Stück macht wenig Hoffnung: wir scheinen in einer Loop fest zu stecken, der am Ende abrupt abreißt." 

"Soviel Gewinn an Wirkung in der Symbiose von Text und Inszenierung ist schon ein Glücksfall!", ruft Monika Frank in der Rhein-Neckar-Zeitung (30.1.2024) aus. Amir Gudarzi Werk, das eher "ein Lese- als ein Spielstück" sei und "ohne durchgehende Handlung, mit nur andeutungsweise skizzierten Figuren" daherkomme, versetze diese Inszenierung "einen wahren Adrenalinschub mitreißender Vitalität." Das Stück sei durch "kunstvoll miteinander verwobene Erzählstränge" gekennzeichnet; ihm eigne ein "leicht satirischer Charakter", der in der Inszenierung "ebenso feinsinnig mitschwingt".

"Die Inszenierung will offenbar hip sein und mutet doch oft ausgelutscht an", urteilt Björn Hayer in der taz (30.1.24). Die Aufführung wisse nicht, "was sie mit einem ambitionierten und vielschichtigen Drama anfangen" solle. "Umso mehr muss man sich an Gudarzis Text halten", so der Kritiker. Genau dann werde man der "existenziellen Aussage" des Werks gewahr: "Geschichte wiederholt sich, als endlose Verletzung."

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