Schwarze Minuten - Albert Ostermaier-Uraufführung bei den Schillertagen
Vom Reißbrett des Dramatikers
von Esther Boldt
Mannheim, 15. Juni 2007. Weil der Mensch des Menschen ärgster Feind ist, werden den Künstlern zum Schlussapplaus Spiegel überreicht. Auf ihnen steht das Motto der 14. Internationalen Schillertage, "Bestie Mensch", und das Theater als moralische Anstalt bleckt vieldeutig seine Zähne.
Themengemäß gab es zuvor auf der Bühne des Nationaltheaters Mannheim allerlei moralischen Kannibalismus zu sehen: Im Eröffnungsstück "Schwarze Minuten" geht Albert Ostermaier nicht gerade zärtlich mit seinem Helden um. Bei der Uraufführung reduzierte Burkhard C. Kosminski Stück und Held aufs Skelett.
Schöne Seele nach Schiller
Die Bühne dient als Observationsfläche, dem Publikum schräg entgegengekippt, auf der im Zwielicht die Versuchsanordnung stattfindet: Der Fall eines Unschuldigen, der zum Mörder wird. In einer Glaskabine über der Bühne sitzt ein Uniformierter, dessen Blick auf der Szenerie ruht, er dient als Richter und Gefängniswärter. Loup Swans Mutter sagt zu Beginn über ihn, er sei zwar hässlich, doch seine Seele sei schön. In diesem hellsichtigen Raum wird ihm die Schönheit ausgetrieben. Um die Liebe von Jeanne zu gewinnen, macht er ihr teure Geschenke. Um sich das leisten zu können, beginnt er zu stehlen. Auch Robert begehrt Jeanne, und im Wettstreit verpfeift er Swan mehrmals an die Polizei – bis Swan seinen Kotrahenten und Peiniger schließlich tötet. "Schwarze Minuten" bezieht sich frei auf Schillers Erzählung "Verbrecher aus Infamie". Schiller möchte darin eine Verbrecherkarriere nachvollziehbar machen, die Geschichte eines Mannes, der vom rechten Weg abkommt und nicht mehr zu ihm zurückfindet.
Auch Ostermaier zeichnet die Stationen des moralischen Verfalls nach: Erst die Verachtung seiner Mitmenschen und die Demütigungen im Gefängnis machen Loup zum Verbrecher. Schillers Figur beginnt als Wilddieb, Ostermaiers Loup klaut Schmuck und Autos. Die "Schwarzen Minuten" klingen mal nach Verbrechersaga, wenn das Schafott droht und Goldstücke verteilt werden, mal nach Gegenwartskritik, wenn Swan gegen den genetischen Fingerabdruck lamentiert. Zwischen Räuberpistole und Überwachungsstaat sprechen die Figuren recht lyrisch, Schiller wird ebenso zitiert wie Brecht und Foucault. Auf der Bühne gibt es zwei Swans, der junge Loup (Taner Sahintürk) und der alte Swan (Reinhard Mahlberg), doch das Wissen des Alten hilft dem Jungen nicht mehr. Die stark gekürzte Mannheimer Spielfassung verzichtet auf Darstellung der Verbrechen und verstärkt damit das Exemplarische des Teufelskreises. Ohne Textkenntnis sind die Stationen des Dramas aber schwer nachvollziehbar.
Analyse ohne Fleisch auf den Rippen
Auf der kargen Fläche bilden sich flüchtige Figurenkonstellationen, ihre Beziehungen sind geprägt von Macht- und Vermögensverhältnissen. Loup stielt, wandert ins Gefängnis, wird gedemütigt, kommt wieder frei, wird rückfällig, wird inhaftiert. Wie soll er sich bessern, deklamiert er einmal, wenn er in der Besserungsanstalt grausam behandelt wird? Sich Mal ums Mal ausziehen muss und schreiend im Bühnenhintergrund zusammenbrechen, während die Tonspur Stromstöße suggeriert?
Wie am Reißbrett werden Figuren und Situationen aufgezogen. Loups Mord an seinem Widersacher Robert lässt sich Kosminski nicht nehmen, doch die Kleinkriminalität reduziert er auf Andeutungen, auf die wiederholte Denunziation durch Robert. Sahintürks Loup gerät hilf- und antriebslos in Not, mit runden Schultern und zusammengesacktem Körper. Er befindet sich in einer permanenten Bedrohungssituation der Überwachung – denn das Gefängnis ist durch die Figur des Richters im Glaskasten omnipräsent – und des Verrates. Sie macht den schwachen Helden, der doch nur die Gaststätte seiner Eltern etwas größer aufziehen und ein Mädchen für sich gewinnen wollte, zum Mörder. Um dann, im Gefängnis, politisch sensibel zu werden. Hier greift der Autor offenbar den Fall Jacques Mesrine auf, den auch das Programmheft zitiert: Eines Algerienkämpfers und Verbrechers, der in den 1970er Jahren im Gefängnis seine Memoiren schrieb und die Haftbedingungen öffentlich anprangerte. In Mesrines Gefolge klagt Loup das Gefängnis als Schule des Verbrechens an, doch die Figur kriegt in diesem Observatorium kein Fleisch auf die Rippen. Hier soll keine Geschichte erzählt werden, sondern eine Analyse geliefert, doch diese wirkt dünn und etwas konstruiert.
Zu Beginn seiner Erzählung schreibt Schiller, der Leser müsse entweder warm werden wie der Held, oder der Held erkalten wie der Leser. Kosminski setzt lieber auf einen allmählichen Temperaturanstieg, bis am Ende die Plädoyers hitzig in den Raum schallen. Doch das Publikum hat sich unterdessen gänzlich verkühlt in diesem zwielichtigen Mischmasch.
Schwarze Minuten (UA)
von Albert Ostermaier
Inszenierung: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Ute Lindenberg, Musik: Hans Platzgumer, Dramaturgie: Ingoh Brux.
Mit: Jens Atzorn, Thorsten Danner, Ralf Dittrich, Tim Egloff, Michael Fuchs, Silja von Kriegstein, Reinhard Mahlberg, Jacques Malan, Peter Pearce, Hannah von Peinen, Ragna Pitoll, Sven Prietz, Taner Sahintürk.
www.nationaltheater-mannheim.de
Kritikenrundschau
dpa/lsw auf Stuttgarter Zeitung online (17.6.2007) verzeichnet Applaus und vereinzelte Bravo-Rufe, obwohl Ostermaiers Auftragsarbeit für die Schillertage "insgesamt nicht überzeugen" konnte. Man konnte "beklemmende Tropfgeräusche der Seele" hören, Kosminskis Inszenierung wäre "stellenweise langatmig" und Ostermaiers Versuch, in seinen Text aktuelle Beispiele von "Folterungsdarstellungen einzubauen", zeige, dass es schwierig sei für moderne Theaterautoren, "nicht als einfacher zeitgenössischer Abklatsch" zu wirken. Aber die Gefängnis-Atmosphäre im Technikhäuschen des Mannheimer Schauspielhauses sei "einschüchternd" gewesen.
Über einen "matt modernistischen Abglanz der alten Vorlage", seufzt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (18.6.2007), komme Albert Ostermaier mit "Schwarze Minuten" nicht hinaus. Ostermaiers Held habe die Parolen: "Das Gefängnis ist der Staat", er beherrsche die "Selbstmythologisierung": "Mein größter Ehrgeiz war: Unsterblich werden und dann sterben", trotzdem reite Ostermaier "Schillers Ambivalenz auf dem Rücken des RAF-Revivals in plakative Peinlichkeiten". Ein Regisseur, befindet Herr Boenisch, müsse diesem "gestelzten Szenenreigen" Kraft, Ideen, Tempo entschieden entgegensetzen. "Burkhard C. Kosminski verweigere all das. Selbst zur Steilvorlage Staatsfeind-Stilisierung falle ihm nichts Spannenderes ein, als von Mikroport auf Megaphon zu wechseln".
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (vom 17.6. und der FAZ vom 18.6.2007) ironisiert Martin Halter ganz wundervoll Ostermaiers Vorgehensweise. Wenn der Lyriker im Schafspelz des Dramatikers fragt: "Gibt es einen grausameren Tod als die Ehre zu überleben?", antwortet der Kritiker: "Doch, ja. Zum Beispiel als Kanarienvogel in den Händen eines unschuldig zudrückenden Kindes zu sterben ... Oder im Hochsicherheitsknast vom Wärter mit den Blättern erstickt zu werden, auf die man seine Lebensgeschichte schrieb, während in den Zellen ringsherum Selbstmörder und Onanisten heulten". Das alles kommt jedenfalls in "Schwarzen Minuten" vor, dem Auftragswerk, das Albert Ostermaier für die Mannheimer Schillertage geschrieben hat.
Ralf-Carl Langhals in der Frankfurter Rundschau (19.6.2007) bemängelt, dass Ostermaier zuviel von vielem bringe: "Film noir, Schiller-Original, den jungen und den alten Loup, den französischen Gewaltverbrecher Jacques Mesrine, Jean-Pierre Melvilles Film "Eiskalter Engel", den Freiheits-und-"Forellen"- Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart, Gefängniswärter, Journalisten, Gangster, Staatsanwälte, RAF-Terroristen ...". Dafür geht ihm dann fast alles flöten. Mehr als eine "poetische Zitatsammlung" zum Thema "Gegengesellschaft" und "hübsche Sätze" kämen dabei nicht heraus. Immerhin habe Kosminski mit der offenen Spielsituaion das einzig richtige getan, um das Werk nicht ganz zu vernichten.
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