Die Welt als Illusion und Verstellung

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 17. Juli 2009. Wenn ein Zauberer eine Frau zersägt, ist das in unseren unzauberischen Zeiten höchstens langweilig. Wenn aber ein Illusionist sich selbst zum Verschwinden bringt, ist das mindestens philosophisch. Dramaturgisch betrachtet steuert der slowenische Theaterwaggon beim Orient-Express punktgenau auf das Verschwinden ohne Wiederkehr zu. Und das befreiende Gefühl, man würde sich gerade in diesem Augenblick seine eigene Existenz lediglich vorstellen.

 

Doch bevor der besagte Wunderheiler in seinem eigenen Schrankkoffer Adieu zur Welt sagt, trifft er ein paar traurige Lumpengesellen entlang der Gleise, die sich ihr Dasein auf konventionelle Weise zurechthalluzinieren. Sie träumen. Und hoffen auf eine lange Reise ins Glück, am besten mit einem dieser Züge, die täglich an ihnen vorbeirauschen und nichts anderes hinterlassen als ein wenig Müll, von dem das Chaoten-Quartett vom "Titanic-Orchester" leben muss.

Kollektive Weltflucht der Ich-Auslöscher

Doko, ein früherer Aufpasser im Bärengehege. Luko, der schmierige Bahnhofsvorsteher von einst. Lili, die bezopfte Bahnhofssünde. Und der schroffe Meto, der in Pyjamahosen Beethovens Neunte oder ein wenig Bach dirigiert. Als dann Harry, die alkoholisierte One-Man-Show, der einem verloren gegangenen Schrankkoffer entsteigt, die Regie bei der kollektiven Weltflucht übernimmt und eine tot geglaubte Bärin Fahrtickets verkaufen lässt, verwandeln sich die traurigen Träumer in eine apokalyptisch heitere Combo von "Freude schöner Götterfunken singenden" Ich-Auslöschern.

Offensichtlich behagt dem bekannten bulgarischen Autor und Kabarettisten Hristo Bojcev der Magische Realismus sehr. In Emir Kusturicas besten Filmen oder aber in der Prosa, beispielsweise in den Erzählungen von Gabriel Garcia Márquez, der in der Aufführung namentlich erwähnt wird, funktioniert das allmähliche Einsickern des Irrationalen mühelos, weil die vermeintlichen Absurditäten ohne Bohei einfach erzählt werden und daher alles andere als verrückt wirken. Aber wie soll man einen nicht vorhandenen Bären spielen ohne lächerlich zu erscheinen oder wenigstens wie ein Clown?

Die Antwort des Ensembles aus dem Nationaltheaters von Nova Gorica hat unter der Regie von Matjaž Latin keine durchweg zufriedenstellende Antwort gefunden. Man neigt allenthalben zu glupschäugigen Übertreibungen. Zu oft wird gesoffen, gelallt und herumgehampelt, zu sehr bleiben die Figuren Karikaturen ihrer Selbst, auf dass sie sich noch plausibel auf die Tricksereien dieses Harry einlassen könnten. Das Derbe und Schrullige übertüncht zudem die Beckettsche Grundierung im Text, die sich ebenfalls als Inszenierungsthese angeboten hat. Wohingegen der Katalysator Alkohol, der auch in der Vorlage von Bojcev zu sehr dominiert, alles immunisiert und motiviert. Immerhin, als es auf das Ende zugeht und einer nach dem anderen im Schrankkoffer verschwindet, gelingt das Leichte, erreicht das ausgenüchterte Spiel einen lakonischen Schwebezustand zwischen Wahn und Wirklichkeit.

Das System in Teufelsschwarz

Wesentlich entrückter, ja drastischer beginnt "Als ob" von Branko Dimitrijevič, der zweite Beitrag des Abends, der im Starkregen im Stuttgarter Hafen beinahe davon geschwommen wäre. Geradezu herzerweichend warm wird es dann, wenn man bei sibirischer Kälte zwei sich windende Kreaturen in einem Holzlattenkäfig erblickt. Darauf ein "Fragile" – zum Schutze eines nackten, menschlichen Knäuels. Unverdorben, sprachlos. Dann erscheinen die Herren, die Erzieher: das System in Teufelsschwarz. Ein gnadenloses Paar, das die Latten niederreißt und nach dem rosa Pärchen vor dem Sündenfall grapscht.

Die folgende Gehirnwäsche funktioniert prächtig. Sie lernen gut. Sich zu wehren. Andere zu bedrohen. Jemand zu betrügen. Als Erwachsene begegnen sich die beiden viel später erneut, auf einem Kongress. Wie zwei Hälften einer früheren Ganzheit entdecken sie einander. Alles wirkt rational, so heutig. Sie stehen mitten im Leben und Beruf, sie sind nicht mehr nackt. Sie sagt, sie promoviere über den Einfluss der Jeans auf die kommunistische Gesellschaft. Er nickt. Sie wollen sich lieben, "als ob" nichts gewesen sei. Doch dann stellt sich etwas zwischen die beiden: ihre anerzogene und unauslöschliche Vergangenheit.

Devotionalien beschädigter Biografien

Der Regisseur Predrag Štrbac greift bei der Textvorlage ähnlich hart durch wie die zwei Sozialisationstrainer. Ohne Scheu und Scham streicht er das Stück auf sehr schlanke vier Seiten zusammen, was auch den vermeintlich fehlenden Hinweis auf einen Dramaturgen im Programm erklärt. Statt Sprache setzt Štrbac, im Übrigen Hausregisseur im Serbischen Nationaltheater von Novi Sad, größtenteils auf ein Ballett der Gesten und Gebärden, untermalt von Trommelklängen. Manchmal stehen die Schauspieler minutenlang beieinander und versuchen sich an einem Kuss. Sie drangsalieren Stoffpuppen, die sie selbst darstellen. Oder sie packen ihre Koffer unentwegt aus und ein, schleppen die Devotionalien ihrer beschädigten Biografien sinnlos durch den Bretterverschlag.

Unterhaltsamer ist es dann doch, wenn in einer Bahnhofsszene wieder so etwas wie Dialoge zu vernehmen sind: das intellektuelle Paar wird beim akademisch-erotischen Geturtel von dussligen Alten heimgesucht, die immer lauter und vulgärer daherreden und jedes kultivierte Gespräch ersticken. Zum Schluss kriechen die zwei Unerfüllten wie anfangs auf dem Boden, nur diesmal als Schuldige. Alles ist ein Kreis und eben keine Gerade: Die Geschichte der Begegnung wird zu einem archaischen Reigen umgedeutet, der jedem Fortschrittsglauben durch zielstrebige Entwicklung die menschliche Verdorbenheit entgegensetzt.

Die Jeans (Kapitalismus) wie auch die Erziehung (Kommunismus) bedeuten ein und dasselbe: die Unmöglichkeit der Liebe. Ob der Autor mit dieser skeptizistischen Sparversion seines Stücke wirklich zufrieden ist, scheint zumindest fraglich. Und dennoch offenbart diese sehr kindliche und assoziationsreiche Variante einen meditativen Charme. "Als ob" man auf die vielen leeren Worte im Theater tatsächlich verzichten könnte.

 

Das Titanic-Orchester
von Hristo Bojcev
Regie: Matjaž Latin, Bühne: Đorđe Bjelobrk, Kostüme Matjaž Latin, Musik: Boštjan Gombač. Mit: Iztok Mlakar, Gorazd Jakomini, Branko Ličen, Mira Lampe Vujičić, Primož Pirnat, Bine Matoh.

Als ob
von Branko Dimitrijevič
Regie: Predrag Štrbac, Bühne: Vesna Štrbac, Kostüme: Marina Sremac.
Mit: Tijana Maksimović, Marija Medenica, Milan Kovašević, Nebojša Savić.

Slowenisches Nationaltheater Nova Gorica
Serbisches Nationaltheater Novi Sad
Orient Express Blog
www.staatstheater.stuttgart.de/orientexpress

 

Mehr lesen? Weitere Passagiere der Stuttgarter Orient Express waren das Rumänische Nationaltheater mit Occident Express und das Zagreber Theater der Jugend mit Sieben Tage in Zagreb von Tena Štivičić.

 

 

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