Sieben Tage in Zagreb - Tena Stivicic tappt nicht in die Oberflächlichkeitsfalle
Repräsentanten eines Alptraums
von Tomo Mirko Pavlovic
Stuttgart, 10. Juli 2009. Spätestens so um die dreißig beginnt die eigene Welt zu hinken. Die Menschen, vielleicht fünf Zagreber, sehnen sich nach einer Hilfestellung, die sie wieder geschmeidig gehen lässt. Eine Krücke. Eine Lebensprothese. Oder besser: eine Lüge.
Danijel zum Beispiel. Hat fünf Millionen statt zwei Millionen Handys im abgelaufenen Geschäftsjahr verkauft, hat "Geld wie Heu", rasiert sein erfolgreich hervorstechendes Consultant-Kinn gleichzeitig in drei Zeitzonen und betrügt nebenbei noch seine schwangere Frau Tanja mit ihrer besten Freundin Natascha. Letztere, eine toughe Übersetzerin mit Sechzehnstunden-Schichten, entdeckt von einem Tag auf den anderen eine klaffende Sinnlücke im emanzipierten Akkord, die sie weder mit dem Labrador aus dem Tierheim noch mit Danijels pikantem Mitbringsel stopfen wird, einem wirklich nett gemeinten Anal-Dildo.
Fiese Kerle, hysterische Weiber
Glücklicherweise ahnt die kugelrunde Tanja nichts davon, die plötzlich im hormonellen Überschwang Mutter Natur spielt, Algen-Cocktails schlürft und von einer schmerzfreien Hausgeburt phantasiert, während Mustafa aus dem dritten Stock als Vorsitzender der Initiative "Vereinigte Nachbarn gegen Veränderungen" hartnäckig den paranoiden Unterschriftensammler und Blockwart gibt. Am Ende wird tatsächlich auch noch ein Kind in diese große Lüge hineingeboren, unwillig und mit irrem Geschrei, ein winziger Kroate, auf dem die trüben Hoffnungen einer Generation von Versehrten lasten.
Tena Štivičić riskiert was. Die Zagreber Autorin zeigt sich geradezu wagemutig, wenn sie für ihr schnelles und kurzweiliges Stück "Sieben Tage in Zagreb" jene Schublade voll der Stereotype aufreißt, die ansonsten vor allem von Kunsthandwerkern massentauglicher TV-Soaps und Telenovelas traktiert wird. Sex and the City and Desperate Housewifes and so weiter and so fort. Fiese Kerle. Hysterische Weiber. Mediokre Nachbarn.
Aber meistens kommt es anders, sind gerade die Stücke, die auf den ersten Blick mit komödiantischer Wonne in die Oberflächlichkeitsfalle des Politisch korrekten Theatermainstreams torkeln, die allerbesten, die allertragischsten.
Kreischende Crescendi
Denn Štivičić schwaches Heldenquintett darf sich einer höchst verräterischen Sprache bedienen, die alles entblößt, vieles analysiert, und dennoch gänzlich leicht und unprätentiös ins Ohr hüpft. Ihre Dialoge sind schlimmlustige und tieftraurige Duelle von Verzweifelten, kreischende Crescendi in einer stumm und kalt gestellten Gesellschaft. Man hat Angst: vor Kindern mit Pitbulls, vor Baustellen, vor Schmerzen. Und vor der Einsamkeit.
Immer wieder, wenn die Protagonisten am lautesten über Nichtigkeiten aneinandergeraten, brechen sie verbal aus, werden sie zu gefährlichen Repräsentanten eines Alptraums: Wenn Mustafa, der missionierende Nachbar gegen neue Nachbarn wettert, dann spricht er despektierlich von "Flüchtlingen"; und Danijel schießt sofort scharf zurück, indem er den "Ureinwohner" und "Faschisten" namens Mustafa an seine tendenziell eher unkroatische, unkatholische Herkunft erinnert. Jedes Wort, auch das harmloseste, kann augenblicklich zum Auslöser eines eloquenten Übergriffs werden, kann zur Ausweitung der Kampfzone führen.
Und das Ensemble hält die ganzen sportlichen sechzig Minuten lang die notwendige Spannung. Die kraftvolle Nina Violic packt ihre karrieristische Natascha, die Spezialistin für Fremdsprachen, in wundersam selbstzerfleischende, vulgäre Kommentare, die sich gallig über Tanja und Danijel ergießen, das Paar, an dem sie emotional hängt wie irgendso ein Hund, den ihr das Tierheim verwehrt. Alles ist deswegen "Votze", alles ist "Arsch".
Rüder balkanischer Jargon im Stuttgarter Hafenwind
Auch Danijel, gespielt von einem larmoyanten Frano Maškoviić, pflegt diesen balkanisch rüden Gossenjargon, weshalb er sinnigerweise seinen materiellen Ist-Zustand nicht mit "Geld wie Heu", sondern mit "Geld wie Dreck". Die deutsche Übertitelung gibt sich etwas zu brav. Die Haltung der Figuren hingegen ist stets unerbittlich: gegen sich selbst und die anderen. Herumpsychologisiert wird an keiner Stelle in der sehenswerten Inszenierung von Tijana Zinajić
Das gilt auch für Jadranka Ðokić wunderbares Muttertier Tanja, das seine krampfenden und kreißenden Monologe direkt ins Publikum gebiert, wild gestikulierend und alle umarmend wie einer dieser unsäglich politisierenden Taxifahrer vor dem Zagreber Hauptbahnhof. Die Bühne passt daher perfekt zum rauen Ton des Abends und kühlen Stuttgarter Hafenwind: der halbe Waggon des Orient-Express' offenbart vierzehn Plastik-Stühle eines anonymen Warteraums, wo eine Handvoll seltsamer Menschen sieben Tage lang etwas suchen: einen endgültig verpassten Anschlusszug.
Sieben Tage in Zagreb (Sedam dana u Zagrebu)
von Tena Štivičić
Regie: Tijana Zinajić, Ausstattung: Jasna Vastl. Mit Jadranka Ðokić, Ksenija Marinković, Frano Maškoviić, Sreten Mokrović, Nina Violić.
Zagreber Theater der Jugend
Orient Express Blog
www.staatstheater.stuttgart.de/orientexpress
Mehr lesen? Die in London lebende kroatische Dramatikerin Tena Štivičić gehört auch zu den Autorinnen, die das diesjährige Osnabrücker Erstaufführungsfestival Spieltriebe 3 im September 2009 im Rahmen des
europäischen Dramentransfers präsentiert. Hier ein Porträt.
Kritikenrundschau
Christian Tschirners Inszenierung "80 Tage, 80 Nächte", mit der der Theaterzug Orient-Express in Stuttgart einrollte, sei "eine völlig überdrehte, völlig durchgeknallte Globalisierungsfarce, deren enorme Spielgeschwindigkeit vermutlich schon das Publikum in der Türkei überfordert hat", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (13.7.). Tschirner lasse wirklich nichts aus: "Sein Tagesthemen-Theater geht eigentlich nicht, auch nicht als Parodie – und wenn, dann höchstens so furchtlos auf grelle Übertreibung und schrille Satire setzend, wie es Tschirner als Regisseur eben tut. Mit einigem Erfolg, denn wer die überstopfte Handlung halbwegs nachvollziehen kann, mag auch Gefallen finden an dieser turbulenten Inszenierung, die voll auf Speed zu sein scheint." Mit der "gekonnten Boulevard-Groteske" "Sieben Tage in Zagreb" von Tena Štivičić sei dann am nächsten Festivaltag auf den deutschen Brachialwitz "der balkanische Galgenhumor" gefolgt.
Auf Deutschlandfunk (11.7.) glaubt Christian Gampert noch sehr genau bemerkt zu haben, dass Tschirners "80 Tage, 80 Nächte" "Stück bislang im Lärm osteuropäischer Bahnhöfe aufgeführt wurde – so körperlich, lautstark, nach außen gerichtet ist die Spielweise". Das Ganze sei "zirkusartig und unterhaltsam aufgezogen, mit viel Musik, Bauchtanz und Typenkarikatur; Jahrmarkttheater zwischen Sozialmärchen, Kabarett und didaktischer Brecht-Attitüde". Und "die fünf Stuttgarter Schauspieler schmeißen sich mit Begeisterung in alle möglichen Sozialklischees". Am folgenden Tag habe das "Theater der Jugend" aus Zagreb mit Tena Štivičićs "Sieben Tage in Zagreb" "eine schwarze Satire über egomane Mittdreißiger" geboten, "die sich zwischen Affären und Kinderkriegen, knallharter kapitalistischer Karriere und eher traditionellen Wertvorstellungen nicht entscheiden können. Dabei erfuhr man auch etwas über den weiten Abstand zwischen uns und Osteuropa: Die Übersetzungsübertitel konnten den Wortwitz des Stücks nicht annähernd einfangen, über den die Stuttgarter Kroaten so ausgiebig lachten."
Die Reise der als Drogenkuriere wie als Kunstwerke missbrauchten Plüschtiere Tiger und Teddy aus Tschirners "80 Tage, 80 Nächste" karikiere "den Missbrauch des Ostens durch den Westen und des Ostens durch den noch östlicheren Osten", schreibt Ulrike Kahle-Steinweh im Tagesspiegel (13.7.). "Aufgeschnitten, halbiert, repariert, mit kläglich unpassendem Unterteil werden sie zu verfälschten Fälschungen. Ein freches, derbes Spektakel. Bei den Rumänen kam es hervorragend an. Verwandter Humor?" Eine "Überraschung für Ost-Unkundige" sei dann der kroatische Beitrag zum Orient-Express mit "Sieben Tage in Zagreb" von Tena Stivicic, Regie Tijana Zinajic, gewesen: "Wunderbare Schauspieler, ein bitteres Spiel um Leben und Wünsche im Postsozialismus, um Käuflichkeit und Ehebruch, um artgerechte Tierhaltung, Hausgeburt, ein Leben bitte ohne Ausländer und Arbeitslose nebenan. Die modische Dolmetscherin bekommt keinen Hund aus dem Tierheim, sie genügt nicht den absurden neuen Vorschriften, herrlich unbeteiligt heruntergerattert von der Tierheim-Besitzerin. Wie überhaupt die zwei Männer und drei Frauen fabelhaft spielen, im Handumdrehen neue Situationen herstellen, allein durch Umgruppierung der Plastikstühle."
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