Vögel - Burkhard C. Kosminski startet mit Wajdi Mouawads Familien-Trägodie in seine Intendanz am Schauspiel Stuttgart
Die Macht der Gene
von Verena Großkreutz
Stuttgart, 16. November 2018. Am Anfang steht eine große Liebe, noch rein von den Schattenwürfen der Vergangenheit. Der Berliner Eitan liebt die US-Amerikanerin Wahida. Dass er jüdischer und sie arabischer Herkunft ist, spielt noch keine Rolle. Sie sind jung, intellektuell, modern. Alles ändert sich, als Eitans Familie ins Spiel kommt. Was der kanadisch-libanesische Autor Wajdi Mouawad in seinem Stück "Vögel" daraus virtuos erwachsen lässt, ist eine Katastrophe antiken Ausmaßes – geboren aus dem Zerbersten eines familiären Lügengebäudes. Darin ist nichts mehr so, wie es einst schien. Und Eitans Vater am Ende tot.
Spielplan kultureller Vielfalt
"Vögel" eröffnet in Stuttgart die neue Spielzeit. Nach Armin Petras leitet jetzt Burkhard C. Kosminski, zuvor Intendant in Mannheim, das Stuttgarter Schauspiel. Kosminski steht für Autorentheater. Während viele andere Häuser ihre Geschichten in Romanvorlagen suchen, die sie woanders nicht zu finden glauben, setzt er auf zeitgenössische Theatertexte. Der Spielplan steckt voller Ur- und deutschen Erstaufführungen. Aber Kosminski will auch kulturelle Vielfalt demonstrieren, bis ins Ensemble hinein. Und daraus erwachsen auch die positiven Energien des Premierenabends. In dieser Hinsicht sind die "Vögel" ein programmatischer Coup.
Wie bei der Uraufführung, die Mouawad 2017 an seinem eigenen Theater in Paris inszenierte, herrscht auf der Bühne Sprachenvielklang: Arabisch, Hebräisch, Deutsch und Englisch – ein Bild für die aufgefächerten kulturellen Identitäten der Protagonist*innen. Die jüdische Familie, aus deren Sicht der israelisch-arabische Konflikt beleuchtet wird, lebt verteilt auf drei Kontinenten. Es geht um Familientraumata, Generationskonflikte, Schuld. Deutsche Übertitel werden gut sichtbar auf die weißen Leinwandplanen projiziert, die der ansonsten kargen und nur minimalistisch möblierten Drehbühne ein bisschen Fassung von oben verleihen. Die Besetzung ist international. Man hat Muttersprachler*innen an Bord geholt.
Enthüllung des Familiengeheimnisses
Dass Eitan eine arabische Frau liebt, ist für seinen religiös-fanatischen Vater David ein absolutes Desaster. Da beißt Eitan auf Granit, da kann er noch so viel Argumente auffahren, von denen er als Biogenetiker genug auf Lager hat: "Unseren Genen ist unser Dasein egal. Die Traumata deines Vaters stehen in deinen Chromosomen nicht geschrieben. Auschwitz hat nicht in das geringste Gen eingegriffen, nicht in die kleinste DNA meines Großvaters." Aber da bleibt der Vater stur-autoritär: Abstammung, jüdische Tradition, die Schrecken des Holocausts – das sind seine Wahrheiten. Wolle Eitan Wahida wirklich heiraten, beginge er einen "Vatermord". Da findet Eitan bei seinem Großvater, einem Holocaust-Überlebenden, mehr Herz und Verständnis.
Auf einer Forschungsreise nach Israel, auf der Eitan Wahida begleitet, wird Eitan Opfer eines Terroranschlags und liegt in einem Jerusalemer Krankenhaus im Koma – ein dramaturgischer Kniff zwecks Familienzusammenführung, die die minuziöse, sich über Stunden hinziehende Aufdeckung eines bis dahin von den Großeltern gut gehüteten Geheimnisses initiiert, an deren Ende klar ist: Eitans fundamentalistisch jüdischer Vater ist eigentlich ein palästinensisches Findelkind, eine Erkenntnis, die diesem den Boden unter den Füßen wegzieht. Wahida derweil entfremdet sich mehr und mehr von ihrem Freund. Ein Besuch in Ramallah, im palästinensischen Autonomiegebiet, erweckt die arabische Seele in ihrer Brust, was am Ende zur Trennung von Eitan führt.
Wortgewalt, Witz und Poesie
"Vögel" ist sehr lang, und es wird sehr viel geredet, diskutiert, monologisiert, phasenweise auf ermüdende Weise. Trotz des schwerwiegenden Themas ist das Stück unterhaltend, dank Vermischung der Szenen mit Witz und Poesie. Eitans Mutter etwa, Psychoanalytikerin, erhält immer wieder Anrufe eines Patienten, eines Künstlers, der Bilder ausschließlich mit seinem Sperma malt. "Er holt sich dreimal täglich einen runter und sammelt seine Ergüsse in einem Töpfchen".
Pointenreich sind die Kommentare der politisch ziemlich inkorrekten Oma Eitans, eine israelische Dame mit derb-zynischem Humor, von Evgenia Dodina bodenständig gespielt, die sich gemeinsam mit dem Wärme verstrahlenden Dov Glickman als ihrem Ex-Mann und Eitans Großvater in die Herzen des Publikums spielen kann.
Regisseur Kosminski tut sich schwer, den Abend wirklich straff zu halten. Die Personenführung wirkt oft statisch, im Wortrausch der Protagonist*innen werden Zwischentöne gerne lautstark überdeckt – als äußere sich Verzweiflung immer nur polternd. Und das von Mouawad reichlich vergossene Pathos wird durch eine oft recht plakative Gestik noch unterstrichen. Silke Bodenbender als Eitans Mutter bleibt blass, Amina Merai als Wahida bedient sich einer fast durchgehend schneidenden skandierenden Artikulation. Martin Bruchmann als Eitan – ein zu Beginn herrlich verwirrter Verliebter – verleiht seiner Figur Dauerwut, was in diesem Falle immerhin passt. Itay Tiran als Vater David spielt sich frei – und immer intensiver in die Rolle des traumatisierten Sohnes hinein, legt dessen Ängste und Verletztheiten frei – bis zum finalen Wahnsinn.
Mit Leichtigkeit erzählt
Trotz Mängel ist der Abend lohnend. Wer schafft es schon, ein so brisant-aktuelles Thema mit so viel Leichtigkeit zu erzählen? Alles mündet in einem alten persischen Märchen. David trifft an der Schwelle zum Tod auf Al-Hasan Al-Wazzan (Ali Jabor), legendärer Konvertit, erst Muslim, dann Christ. Der erzählt David das Märchen vom amphibischen Vogel, dem Kiemen wachsen, als er in die verbotene Sphäre der Fische eintritt: "Der Vogel atmet! Und atmend schwimmt-fliegt er inmitten der gold- und jadeschuppigen Fische."
Vögel
von Wajdi Mouawad
Deutsche Erstaufführung
Regie: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Ute Lindenberg, Musik: Hans Platzgumer, Übertitel: Anna Kasten, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Ingoh Brux.
Mit: Hagar Admoni-Schipper, Silke Bodenbender, Martin Bruchmann, Evgenia Dodina, Dov Glickman, Maya Gorkin Ali Jabor, Amina Merai, Itay Tiran, Eduard Zhukov/Fathi Kösoglu.
Premiere am 16. November 2018
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Kritikenrundschau
Den Auftakt der Intendanz von Burkhard C. Kosminski beschreiben die beiden großen Stuttgarter Blätter ausführlich. Roland Müller freut sich in der Stuttgarter Zeitung (online 17.11.2018, 19:36 Uhr), dass das "Hauptstadt-Onaniertheater" nun ein Ende gefunden habe. Er wähnt dabei das Publikum als auch die aus Berlin gekommene Schauspielerin Silke Bodenbender auf seiner Seite. "Um sich selbst kreisende, sich selbst genügende Ejakulationskunst gibt es bei Kosminski nicht." Der fordere sein Publikum anders heraus, mit langer Spieldauer und "Sprachgewirr" sowie einer sich "entfaltenden Tragödie mit hoher Konzentration", in der es "um etwas geht", nämlich den Nahostkonflikt und "die Frage, wie das Beharren auf kulturellen, nationalen und historischen Identitäten eine Aussöhnung verhindert". Wajdi Mouawad gönne "den geliebten Figuren viele Selbsterklärungen" und ihren Tragödien "redselige Breite". Und obwohl Kosminski "zu viel Pathos und Melodram und überhaupt zu viel Demut vor den sich auftürmenden Textmassiven" walten lasse, wachse der Tragödie "doch Wucht zu". Zu verdanken sei das "auch dem auf striktem Realismus verpflichteten Ensemble". Das "analytische Drama" bewege sich zwischen "Märchen und Thriller"und sei als Statement gegen "modisch avantgardistische Trends" zu sehen. "Die neue Zeit hat begonnen."
Nicole Golombek schreibt in den Stuttgarter Nachrichten (online 17.11.2018, 18:00 Uhr): Der neue Hausherr bringe ein Stück auf die Drehbühne, das "Weltgeschichte und die deutsche stets gegenwärtige Vergangenheit zusammendenkt". Es handele sich bei "Vögel" um ein "Stück mit antiker Wucht". Die Inszenierung sei "äußerst texttreu" und frei von der Petrasschen Ironie und "eitler Selbstreflexion des theatralen Tuns". Kosminski zeige, dass es "manchmal" nicht mehr als "einen guten Schauspieler und gebannte Zuschauer" brauche. Allerdings seien die Schauspieler "öfter zur Bewegungslosigkeit verdammt", damit sie ihrem eigenen Text oder dem der Mitspieler, der im Hintergrund deutsch übertitelt werde, nicht im Wege stehen. Auch seien "einige Längen zu erdulden". Mouawad gönne jeder Figur Monologe, die "zuweilen gewollt poetisch, kitschig und redundant" gerieten. "Beherzte Striche hätten dem Text gutgetan", zumal Kosminski das Stück in einem realistischen Setting als konventionelles Konversationsdrama aufführe. Dieser Realismus funktioniere allerdings nicht für jede Figur. Sehr wohl aber bei der Liebes- und Leidensgeschichte, die die "grandiosen Gästen" Dov Glickman und Evgenia Dodina spielten. Das seien berührende Augenblicke und "großes Theater", entsprechend heftig der Applaus "für die starken Schauspieler".
Der Regisseur Kosminski ignoriere weitgehend die Komödie, die in Mouawads Figurenkonstellation und allerlei grotesken Wendungen steckt, findet Wolfgang Höbel auf Spiegel online (18.11.2018). "Stattdessen exekutiert er gemächlich ein gefühliges Lehrstück. Sämtliche Omas und Opas, Mütter und Väter und junge Liebende müssen in blumigen Worten aus ihren Seelen nacheinander ihre Lebenslügen herauskramen." Jeder dürfe in "Vögel" in schwülstigen Metaphern zagen, brüllen und heulen, als sei die Schauspielerarbeit ein Nervenzusammenbruchswettbewerb. Und "ein bisschen erwartbar verkünden der Autor Mouawad und der Regisseur Kosminski am Ende eine Versöhnungsbotschaft, die vom Stuttgarter Publikum jubelnd beklatscht wurde".
Christian Gampert in Kultur Heute auf Deutschlandfunk (hier der Audiotake, 18.11.2018): Wajdi Mouawad weite in "Vögel" eine "nette kleine Liebesgeschichte" zum Nahostdrama. Der "komplizierte Aufbau" sei "offensichtlich am Reißbrett entworfen", und das sei die Crux: "schwierig sind nicht die plakativen Charaktere, schwierig ist die Situation, in der sie leben. Problem-Bebilderungs-Theater." Viel zu oft redeten die Figuren "wie im Schaufenster und viel zu monologisch aneinander vorbei". Das sei "natürlich" alles schwer zu spielen. Doch blieben die Figuren gefangen in "einem vorgegebenen ideologischen Korsett". Salopp formuliert: "Ist das jüdische und palästinensische Leid erblich, oder kann es überwunden werden, politisch und vielleicht sogar durch Sex?"
Judith von Sternburg schreibt in der Frankfurter Rundschau (19.11.2018): Auf der Bühne entstehe durch die vier gesprochenen Sprachen eine "intensive und einleuchtende Authentizität". Kosminski bringe das Stück "zunächst wunderbar zum Laufen", auch mithilfe von Florian Ettis karg eingerichteter Drehbühne. Dass Autor Mouawad "seine Figuren (nach französischer Tradition) ziemlich viel deklamieren und poetisieren lässt", falle "im Getümmel" erst gegen Ende auf. Seien zunächst Menschen zu sehen gewesen, würden sie nun zu Typen. Mouawads "weitschweifende Gedanken" belasteten sie nun "zu sehr, um noch lebendig zu wirken". Zudem könne der Eindruck entstehen, dass Mouawad - und Kosminski geduldig mit ihm – offene Türen einlaufe.
"Vögel" sei "eine stark konstruierte Parabel über Religion und Herkunft", so Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (20.11.2018). Kosminski halte sich in seiner Regie auffallend zurück. "Dabei wären beherzte dramaturgische Eingriffe dringend nötig gewesen. Würde man die redundanten Dialoge entschlacken und das dick aufgetragene Pathos von den Texten kratzen, könnte 'Vögel' auf den Bühnen durchaus reüssieren."
"Liebe und Hass, Koma und Amok, Ausschwitz und Schatila, große Monologe und pathetische Gesten über drei Generationen, drei Kontinente und fast vier Stunden hinweg", so zählt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.11.2018) auf: "Kosminski unternimmt alles, um die bösen Geister der Ära Petras mit Erzähltheater ohne Videofirlefanz und Metaebene zu exorzieren." Mouawads Ringparabel allerdings wirke überkonstruiert und eindimensional, "zu glatt und platt".
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In diesem Bild verdichtet sich dieses Stück, das sich mir wie eine modere Variante von Lessings 'Nathan der Weise' aufdrängt; zutiefst desillusioniert zwar, aber wie könnte es auch anders sein. Die Vision einer aufgeklärten Zukunft, in der unsinnige Gegensätze im Lichte der Vernunft ausgeräumt werden, ist an der Realität der Shoa längst in Atome zertrümmert. Wajdi Mouawad will und kann nicht den kleinsten Lösungsansatz zeigen. Nur die Verzweiflung bleibt und das Wissen, dass alle Ausgrenzungen zutiefst falsch sind, seien sie religiös, politisch, genetisch oder sonst wie begründet. Dies durch die eigene Haltung zu dokumentieren und sich nicht zufrieden zu geben mit dem, wie es ist, ist das einzige was dem Einzelnen bleibt.
Währen Lessing das Gemeinsame hervorhebt, betont Wajdi Mouawad das Trennende. Sein besonderes Stilmittel dabei ist, dass die Personen in verschiedenen Sprachen sprechen. Jede Person kann sich mindestens in zwei Sprachen ausdrücken, je nachdem, welche Emotion vorherrschend ist. Es entsteht ein Sprachteppich, der durch die Länge des Stücks begründet (3 1/2 Stunden) eine eigene Realität erzeugt, in der es keine Muttersprache gibt, und ausgerechnet das schafft auf eigentümliche Weise etwas Verbindendes. Viele Sprachen stehen gleichzeitig und gleichberechtigt nebeneinander fast ebenso wie die drei Ringe der Ringparabel. Vielleicht ist ja der Geist der Aufklärung nicht ganz von der Bildfläche verschwunden - man möchte es sich wünschen.
Für die Zuschauer und für die Inszenierung ist diese Idee schon eine Herausforderung, da nicht jeder deutsch, englisch, hebräisch und arabisch versteht. Als Bühnenbild dienen großflächige Papierwände, die auf- und abgesenkt werden und als Projektionsfläche der Übersetzungen dienen. Die Einblendungen sind in die Szenerie eingebunden und ermöglich es ganz gut gleichzeitig zu verstehen und auch die handelnden Personen zu verfolgen.
Schauspielerisch am beeindruckendsten fand ich Dov Glickmann in der Szene, in der er seinem 'Sohn' David die Geschichte seiner Herkunft erzählt. Da ging ein Schauder durch das Publikum und man hatte das Empfinden mitten dabei zu sein. Am Ende viel berechtigter Applaus.