Saint François d’Assise - Staatsoper Stuttgart
Gnadenfülle in Frühlingshülle
12. Juni 2023. Der 1992 gestorbene französische Komponist Olivier Messiaen war gläubiger Katholik – und zutiefst naturverbunden. In seiner Oper über Franz von Assisi führt er Religion und Umwelt zusammen. Anna-Sophie Mahler und die Staatsoper Stuttgart haben eine mitreißende achtstündige Reise durch Stuttgart daraus gemacht.
Von Verena Großkreutz
12. Juni 2023. Er entsagte allem Materiellen, suchte das Göttliche in der Natur, sprach mit den Vögeln, schrieb mit dem "Sonnengesang" die schönste aller Schöpfungspreisungen: Franz von Assisi, radikal und visionär, wäre jetzt vielleicht genau der Richtige, um alle Klimaaktivist:innen dieser Welt zu vereinen.
Angst vor dem Verlust der Natur
Der größte komponierende Vogelkundler aller Zeiten, Olivier Messiaen, hat dem charismatischen Ordensgründer und katholischen Heiligen seine dreiaktige einzige Oper gewidmet, die 1983 in Paris uraufgeführt wurde: "Saint François d’Assise". Ein Werk, das in acht locker gereihten, handlungsarmen Szenen die "zunehmende Gnadenfülle in der Seele des heiligen Franziskus offenbaren" soll, so der tiefreligiöse Komponist. Am Anfang seiner Oper steht die Angst. Eine sehr heutige Angst: Die Angst vor dem Verlust der Natur, die unseren eigenen Tod bedeuten könnte.
"Saint François d’Assise" kann man jetzt an der Stuttgarter Staatsoper erleben – in einem mutigen, risikofreudigen, ja spektakulären Projekt, das die implizierte Form des Stationendramas unterstreicht und in einem aufwändigen Stadtraumkonzept aufgehen lässt (Bühne und Raumkonzepte: Katrin Connan). Inszeniert hat es Anna-Sophie Mahler, die an experimentellen Formen des Musiktheaters ein besonderes Interesse hegt. Themagerecht geht es dem Produktionsteam darum, die Trennung zwischen Kunst und Natur aufzuheben. So spielen der erste und der letzte Akt im Opernhaus. Dazwischen begibt sich das Publikum in Grüppchen per U-Bahn auf eine kleine "Pilgerreise" zum Naturpark Killesberg auf der anderen Seite Stuttgarts, wo man beim Lustwandeln über MP3-Player die vierte Szene "Der wandernde Engel" hören kann. Danach geht es in die dortige kleine Arena, wo unter freiem Himmel die Szenen "Der musizierende Engel" und "Die Vogelpredigt" aufgeführt werden. Der Wechsel der Spielorte kostet viel Zeit. Die ohnehin schon vierstündige Oper dehnt sich so auf acht Stunden.
Zum Heulen schön
Messiaen war ein gläubiger Katholik, seine ausführlichen Regieanweisungen stecken voller Kreuz- und Christus-Symbole. Anna-Sophie Mahler verzichtete darauf, deutete um, setzte auf die Natur als Mittlerin des Mysterium Gottes – und ist damit nicht weit entfernt von pantheistischen Ideen. Großartig die Wirkung beim ersten Erscheinen des Engels: im farbig funkelnden Kostüm einer Gottesanbeterin, darüber riesig projiziert ein echtes Exemplar. Und dann die Sopranstimme von Beate Ritter! Nicht ganz von dieser Welt, und doch von menschlich-anziehender Wärme, wunderschön. Ein magischer, sehr berührender Moment, genau getaktet mit der Musik, die hier ihre ganze irisierende Schönheit entfaltet.
Es gibt viele solcher Momente in dieser Produktion, die zum Heulen schön sind. Die musikalische Qualität ist durchweg hervorragend, Michael Mayes als Franz eine Sensation. So warm, so mitfühlend, mit so großer Leichtigkeit singt er die schwere Partie. Großartig auch Bariton Danylo Matviienko als ängstlicher Bruder Léon oder Tenor Elmar Gilbertsson als Bruder Massée. Das Herz berührt auch Moritz Kallenberg, der als Aussätziger in einem gräulich-qualligem Beulenmonsterkostüm steckt und durch die Liebe Franz’ geheilt wird, der wiederum in dieser Liebe seine Angst verliert. Auch das Hässliche gehört zur Schöpfung.
Künstliche und echte Vögel im Dialog
Und da ist das Staatsorchester, dessen über 100 Musiker:innen im ersten Akt auf der Bühne positioniert sind, erst im letzten im Graben. Titus Engel als musikalischer Leiter fordert ein präzises, transparentes Klangbild ein. Mitreißend gelingt der Sog aus statischen, in sich kreisenden Fortschreitungen, aus bis zur Ekstase gehender rhythmischer Energie. Das Orchester schillert in all seinen Klangfarben samt der fremdartigen Stimmen gleich dreier Ondes Martenots.
Grandiose spirituelle Leuchtkraft entfaltet auch der Chor, der – wie auch Franz und seine Ordensbrüder – in Kutten steckt, die aus abgelegten, von Stuttgarter:innen gespendeten Hoodies geschneidert wurden. Messiaen hat dem Chor die gewaltige bis gewalttätige Stimme Christi verliehen. In Stuttgart wird sie als großes goldgelbstrahlendes und funkelndes Pilzgeflecht visualisiert, das sich vom Bühnenhimmel herabsenkt und Franz langsam in sich aufnimmt: der Beginn einer Metamorphose, aus der der Sterbende im Schlussbild als weiß schimmernde Libelle hervorgehen und langsam gen Himmel fliegen wird – ein hübsches Auferstehungsbild. Zur bombastischen Erlösungsmusik Messiaens konnte man zuvor auf den Gazezwischenvorhang die Entpuppung einer echten Libellenlarve betrachten.
Den künstlerisch eindrucksvoll umgesetzten Naturbildern auf der Opernbühne wird die echte Natur in der Freiluftarena gegenübergestellt. Im Mittelpunkt: die instrumentalen Vogelkonzerte, in denen Messiaen kongenial die Gesänge von 41 Vogelarten miteinander verwob – in all ihren feinsten Tonabstufungen, melodischen Varianten, in ihrer schier unendlichen Vielfalt an Rhythmen. Die Vögel waren für den Komponisten eben etwas Metaphysisches, die direkte Verbindung zu Gott. Besonders berührend also, dass an diesem Abend die komponierten Vogelgesänge von den echten Piepmätzen im Park beantwortet wurden. Ganz bestimmt: Da hörte man ein Rotkehlchen und eine Amsel mit den künstlichen Kolleg:innen kommunizieren. Auf die Mönchsgrasmücke, die in dieser Oper namensgemäß eine besondere Rolle spielt, wartete man allerdings vergebens.
Saint François d’Assise / Scènes franciscaines
von Olivier Messiaen
Oper in drei Akten und acht Bildern
Libretto vom Komponisten in französischer Sprache
Musikalische Leitung: Titus Engel, Regie: Anna-Sophie Mahler, Bühne und Raumkonzepte: Katrin Connan, Kostüme: Pascale Martin, choreografische Mitarbeit: Janine Grellscheid, Video: Georg Lendorff, Licht: Bernd Purkrabek, Dramaturgie Ingo Gerlach, Chor: Manuel Pujol.
Mit: Michael Mayes, Beate Ritter, Moritz Kallenberg, Danylo Matviienko, Elmar Gilbertsson, Gerhard Siegel, Marko Špehar, Elliott Carlton Hines, Anas Séguin. Staatsopernchor, Extrachor und Statisterie der Staatsoper Stuttgart, Staatsorchester Stuttgart.
Premiere: 11. Juni 2023
Dauer: 8 Stunden, mehrere Pausen
www.staatsoper-stuttgart.de
Kritikenrundschau
"Was man hier in Stuttgart erlebt, ist die aufwendige Kapitulation vor dem Unbegreiflichen, die als pädagogische Ermächtigung getarnte Flucht vor der Erfahrung, mit leeren Händen dazustehen", schreibt Jan Brachmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.6.2023). Aber Titus Engel als Dirigent des Staatsorchesters Stuttgart schaffe es, "die mosaikartig zersplitterte Musik Messiaens nicht nur zu koordinieren, sondern sie leuchten zu lassen in ihrer extremen Farbigkeit, in Zartheit und Schrecken, auch in ihrer zuweilen peinlich sprudelnden Fröhlichkeit, und sie zu fügen zu einer Erzählung, die das Spektakel überspannt", so Brachmann: "Es ist diese ungebärdige Musik, die uns nicht im billigen Trost der Überlegenheit zurücklässt."
"Die Regisseurin Anna-Sophie Mahler möchte in Theaterproduktionen die Trennung von Kunst und Natur auflösen – und das ist ihr wunderbar gelungen, unter beispiellosem Aufwand", schreibt Jürgen Kanold in der Südwestpresse (13.6.2023). Das Konzept, welches die Zuschauer:innen nach draußen, ins Grüne führt, gefällt dem Kritiker sehr, genau wie die Leistungen Akteur:innen. Das Staatsorchester spiele an diesem Abend "herausragend". "Zu herrlichsten, leuchtenden Musik fährt Franziskus in den Bühnenhimmel auf, insektenbeflügelt", beschreibt der Rezensent das Finale des Abends. Um Viertel nach zehn sei das Publikum "erschöpft, erlöst – erfüllt von einem großen theatralischen Erlebnis".
Der Regisseurin gelinge "etwas ganz Erstaunliches, eine Befreiung von der Last des Katholischen - bis sie am Ende der eschatologischen Wucht des Stücks machtlos gegenüber steht", findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (13.6.2023). Das Staatsorchester sitze auf der Bühne und vollbringe "Wunder", der Chor fülle die Ränder des Zuschauerraums und tue es den Instrumentalisten gleich. "Was musikalisch hier passiert, ist von allergrößter Großartigkeit", schreibt der Rezensent begeistert. "Titus Engel dirigiert dieses hochkomplexe Konstrukt mit stupender Selbstverständlichkeit. Und Michael Mayes ist ein Ereignis. Sein François glüht, betört, die Stimme ist wundervoll lyrisch, aufbrausend, gleichzeitig hell und baritonal zornig."
Anna-Sophie Mahler inszeniere "zu Messiaens gewaltiger Auferstehungsmusik, diesem Putsch Gottes gegen die natürliche Ordnung, das Gegenteil: braven Biounterricht", schreibt Martin Mezger in der Stuttgarter Zeitung (14.6.2023), bezeichnet die Inszenierung aber immerhin als "musikalische Sensation".
"Kultur und Natur wieder stärker zu verbinden, wie die Regisseurin im Programmheft erklärt, ist eine nette Idee. Dass die menschliche Kultur selbst seit der Industrialisierung die größte Bedrohung für die Natur darstellt, gerät bei diesem Konzept – bis auf einen Absatz hinten im Programmheft – völlig ins Hintertreffen", schreibt Hannah Schmidt in der Zeit (14.6.2023) und fragt: "Wo bleibt nur der Kontext, wo bleibt das Politische in all dem Naturgenuss?" Immer wieder entstünden mit wenigen gezielten Handgriffen, einer klugen Licht- und Personenregie im Opernhaus ästhetisch beeindruckende Momente: "Und trotzdem – auch wenn die Inszenierung auf den ersten Blick eine Öffnung versucht, blendet sie doch vieles aus", so Schmidt. "Man geht zwar hinaus in die Stadt, verlässt aber, so schnell es geht, den schäbigen Schlossgarten mit seinen Trinkern und Bettlerinnen und fährt mit der Bahn lieber zum schicken Park im schicken Norden der Stadt. Und die Einzelnen mit ihren Kopfhörern und Libretti in der Hand bleiben vom Außen hübsch abgeschottet. Vor der Freilichtbühne werden die Bändchen kontrolliert, das Opernpublikum bleibt auch hier unter sich. Und während sich in Bonn gerade Expertinnen und Wissenschaftler bei der Climate Change Conference der UN die Köpfe über die Zukunft des Planeten zerbrechen, tut die Württembergische Staatsoper so, als sei unser Verhältnis zur Umwelt vor allem eine Mindset-Sache."
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