Selig ist die Armenpflege

19. November 2021. Das traurige Schicksal der "nicht standesgemäß" gebundenen Agnes Bernauer hat Franz Xaver Kroetz für sein gleichnamiges Drama in die Wirtschaftswunderjahre verlegt. Das war 1977. Am Residenztheater unterzieht Nora Schlocker den lange versunkenen Kroetz-Text jetzt der Haltbarkeitsprobe.

Von Sabine Leucht

"Agnes Bernauer" am Residenztheater München © Sandra Then

19. November 2021. Die Residenz-Verwaltung hat vergessen, dem Bayerischen Staatsschauspiel, das im Cuvilliéstheater nur Mieter ist, die Feuerwehr zu bestellen. Deshalb tritt Intendant Andreas Beck vor die Premierengäste und rät, noch ein wenig die Putti und Engel im Rokoko-Juwel zu bestaunen. Ohne Feuerwehr kein Theater. Ohne Feuer keine Anfahrt mit Blaulicht.

Also beginnt Nora Schlockers Inszenierung von Franz Xaver Kroetz' "Agnes Bernauer" eine halbe Stunde zu spät. Bei den 44 Jahren, die seit der letzten Aufführung des "bürgerlichen Schauspiels" vergangen sind, fällt das kaum ins Gewicht. Und gleich vorab: Allzu viel hat man in der Zwischenzeit nicht versäumt. Das Stück könnte kaum weniger mit unserer Zeit zu tun haben.

Wohlstand im Goldenen Käfig

Resi-Hausregisseurin Schlocker scheint das klar zu sein. Sie tritt beherzt die Flucht nach vorne, äh, hinten an und richtet das Personal des zwischen Lehrstück, Horváth'schem Untergeher-Drama und kroetz-eigener Schule der Empathie festklemmenden Stückes auf einer Art verschachteltem Sakral-Möbel an, auf dessen oberem Sims umlaufend das Ave Maria eingraviert ist. Marie Roth hat viel Detailliebe in die Holztäfelungen und die mit lila Vorhängen verhüllten Nischen und Durchbrüche gesteckt, die wie Mini-Guckkästen bespielt werden, in denen es den Schauspielern zu eng ist: Ein goldener Käfig für die in einem Schloss lebende Familie Werdenfels; ein mit übergroßen Perlen als Streu ausgelegter Pferch, in dem die Straubinger Heimarbeiter die Rosenkränze herstellen, mit denen die Werdenfelser handeln.

Agnes Bernauer3 c Sandra Then uRummelplatz der Wirtschaftswunder-Generation: Das Ensemble im Bühnenbild von Marie Roth © Sandra Then

Die leicht bewegten Miniaturen und grotesken tableaux vivants, die Schlocker darin arrangiert, gehören zu den Glanzpunkten der Aufführung, die mit einer sich emsig drehenden Bühne und vier tollen Musikern um Leo Gmelch an der Tuba einem toten Pferd Leben einzuhauchen versucht. Der Kadaver schaut auch hin und wieder ganz gut aus, zum Beispiel wenn Antonia Münchow als Agnes in einem plüschigen Engelskostüm steckend den unter einem Wolfskopf verborgenen Albrecht (Max Rothbart) kennenlernt, der sich in ihren traurigen Blick verguckt. Da alle in dieser launigen Kostümballszene komplett maskiert sind, wäre schon mal geklärt, dass man es hier nicht mit der Logik hat. Und mit dem historischen Vorbild hält es Kroetz ebenfalls nur am Rande.

Agnes, Engel von Augsburg

Im Jahr 1435 ließ der Bayerische Herzog Ernst die Augsburger Baderstochter Agnes in die Donau werfen und sicherstellen, dass sie dabei ertrank. Die "Bernauerin" war mit seinem Sohn Albrecht III. liiert; die Erbfolge war in Gefahr. Etliche Bearbeitungen des Stoffes folgten. Die Romantiker verklärten die tragische Schöne als "Engel von Augsburg". Friedrich Hebbel schlug sich 1851 auf die Seite des Systemerhalts. Kroetz, seit den siebziger Jahren in der DKP aktiv, stieß sich von Hebbel ab, holte den Stoff in seine Gegenwart und erfand eine gutherzige Naive, die sich von der faulen Tochter eines bankrotten Friseurs (Arbeiten? "Ich glaub nicht, daß ich was find, was mir eine Freud macht. Dann heirat ich eben einen reichen Mann."), die kurzzeitig den neuen Reichtum genießt, in eine mitleidige Seele wandelt, die sich freiwillig unter die Armen begibt.

Agnes Bernauer4 c Sandra Then uKennenlernen auf dem Kostümball: Antonia Münchow als Agnes und Max Rothbart als Albrecht © Sandra Then

Mehr Sorgfalt als den Motiven seiner Titelfigur hat Kroetz allerdings denen des Emporkömmlings Ernst Werdenfels und seiner von Caroline Conrad sehr verhärmt gespielten Frau Herma gewidmet. Und das ist die eigentliche Krux: Das 1977 in Leipzig uraufgeführte (und in demselben Jahr nur noch einmal in Wuppertal inszenierte) Stück ist von den wirtschaftlichen Verhältnissen bis zum Generationenkonflikt so tief und einzig in der Nachkriegszeit verwurzelt, dass man nicht versteht, weshalb es wieder ausgegraben werden musste. Der übersteigerte Stolz und die Durchhaltementalität dieser Trümmer- und "Wenn man zu was kommen will auf der Welt, muß man etwas aufbaun!"-Generation haben mit den Kapitalisten von heute wenig gemein.

Großzügigkeit ist Wahnsinn

Wenn Christoph Frankens Ernst seine bräsige Selbstgewissheit verliert, sein Gewissen anruft und Lohnerhöhungen erwägt, ist einem dieses aufgelöste Peter Ustinov-Lookalike auch viel näher als es die Armen sind, die Agnes auf dem Rummelplatz bis aufs Hemd ausziehen, weil sie ihre Großzügigkeit für Wahnsinn halten. Die Szene, in der Agnes Geld und "Schips" für Freifahrten unter die Leute bringt, ist schon rhythmisch komplett misslungen, und auch Kroetz' Kunstbayerisch geht erstaunlich vielen Schauspielern schwer von den Lippen.

Agnes Bernauer3 c Sandra Then uBei den tätschelnden Schwiegereltern: Mareike Beykirch, Antonia Münchow, Carolin Conrad, Christoph Franken spielen "Agnes Bernauer" © Sandra Then

Dafür steht Antonia Münchow engelhaft sanft (und selbstzufrieden) unter dem selbst verursachten Sterntalerregen aus "Schips", die die Arbeiter*innen so lange abfahren müssen, dass einer derweil ihr Kind verhungert. Passiv lässt sich Agnes hernach von einem Schausteller hinter dem wabernden Vorhang nehmen und anschließend von den Schwiegereltern den Babybauch tätscheln, bis sie sie anschreit: "Mörder!" Das ist natürlich ein wenig billig, auch wenn der alte Herr seine Leute mies bezahlt. Und fast ebenso unbefriedigend wie die Idee, Agnes könnte allein mit ihrem guten Herzen und der Arbeit ihrer ungelernten Hände dem Mann sein Musikstudium finanzieren, der die eine Stufe aus seiner Nische heraustritt, als müsse er auf einem wackeligen Seil einen Abgrund überbrücken.

Der heute 75-jährige Kroetz geht im Programmheft selbst mit seinem einstigen Idealismus ins Gericht: "Aus heutiger Perspektive würde ich davon ausgehen, dass Albrecht ein mentales Wrack ist und bleiben wird. Und Agnes sich ganz im Sinne eines kapitalistischen Systems entwickeln, die ältere Generation aus dem Betrieb hinausdrängen und den Konzern übernehmen wird." Im Cuvilliéstheater bleibt die Zukunft des Paares offen. Nach den Engeln und Putti im Zuschauerraum hat man ein teilweise hübsch eingerichtetes Museum der Ideologien von gestern geschaut.

Agnes Bernauer
Von Franz Xaver Kroetz
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Marie Roth, Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes, Komposition: Monika Roscher, Licht: Georgij Belaga, Dramaturgie Constanze Kargl.
Mit: Antonia Münchow, Max Mayer, Max Rothbart, Carolin Conrad, Christoph Franken, Mareike Beykirch, Sibylle Canonica, Lukas Rüppel, Massiamy Diaby und Niklas Mitteregger, Musiker: Leo Gmelch, Jan Kiesewetter, Josef Reßle, Alexander Vicar.
Premiere am 18. November 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Warum die Regisseurin Nora Schlocker dieses sechs Jahre vor ihrer Geburt uraufgeführte Stück für das Bayerische Staatsschauspiel im Cuvilliéstheater exhumiert hat, bleibt die große Frage nach der Premiere", schreibt Hannes Hintermeier in der FAZ (23.11.2021). Das Ergebnis falle "holzschnittartig" aus und bestehe den "Haltbarkeitstest" nicht. "Schlocker inszeniert eine neunzigminü­tige Nummernrevue des galoppierenden Elends, die Schauspieler stehen frontal zum Publikum auf der Rampe, selten gönnt ihnen die Regie den Blick ins Auge ihres Gegenübers, meist, wenn geschrien wird.“

Kroetz' Stück sei schlichte Propaganda "mit einem Schuss Brecht-Lehrhaftigkeit hier und ein bisschen Horváth-Naturalismus da“, so Mathias Hejny von der Abendzeitung (20.11.2021). "Regisseurin Nora Schlocker hat immerhin das Schlimmste verhindern können, indem sie den Schluss strich." Bis dahin mache die Inszenierung sogar immer wieder Spaß, denn sie versuche gar nicht erst, die Geschichte ins Heute zu holen. "Es tobt ein über weite Strecken krachert folkloristisches Theaterspektakel. Und doch kann man den Figuren – vor allem den dreien, die im Zentrum stehen – gerne und interessiert zusehen."

Von Nora Schlocker "kunstvoll komisch aufpoliert" komme das Stück wie ein vorweihnachtliches Geschenk daher, schreibt Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (20.11.2021). Schlocker inszeniere, glasklar und konzentriert, "eine Art Kirchenkabinettstück, eine Hyper-Parabel mit Hyper-Figuren, was dank der kurios formidablen Ausstattung und der vorzüglichen Schauspieler erstaunlich gut auf- und zu Kopf geht". Dössel schließt: "Ein Politmärchen. Sehenswert."

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