Das schweigende Klassenzimmer - Mainfranken Theater Würzburg
Schweigeminuten für Alexej Nawalny
23. Februar 2024. Vor sechs Jahren wurde der Stoff als Film bei der Berlinale uraufgeführt, jetzt kommt er auf die Bühne: Eine DDR-Schulklasse der 1950er Jahre übt konsequent Widerstand gegen die SED-Diktatur. Was erzählt der Fall heute über Opposition an und für sich?
Von Wolfgang Reitzammer
23. Februar 2023. Am Anfang war das Ereignis. Eine Abiturklasse mit fünf Mädchen und 15 Jungen in der ehemaligen DDR, genauer: in der 5000-Einwohner-Stadt Storkow (Mark Brandenburg), entschließt sich Ende Oktober 1956 während des Geschichtsunterrichts zweimal zu demonstrativen Schweigeminuten für den Befreiungskampf der Ungarn gegen die sowjetische Besatzungsmacht. Dietrich Garstka (verstorben 2018) war einer dieser Schüler, er hat die ganze Geschichte mit ihren Folgen dokumentiert und 2007 veröffentlicht. Sein quellenreiches Sachbuch trägt den Untertitel "Eine wahre Geschichte über Mut, Zusammenhalt und den Kalten Krieg".
2017 stieß Regisseur Lars Kraume – bekannt durch zahlreiche "Tatort"-Regiearbeiten und durch die Produktion "Der Staat gegen Fritz Bauer" – auf den zeitgeschichtlich interessanten Stoff und machte daraus einen Film, der ein Jahr später bei der Berlinale seine Weltpremiere hatte.
In der Tradition des Dokumentartheaters
Längere Zeit hatte die Dramaturgin Barbara Bily das Projekt schon in der Schublade, nun kommen die Geschehnisse auch noch auf die Bühne – in einer Uraufführung des Mainfranken Theaters Würzburg, unterstützt vom Institut für Deutschland-Forschung der Ruhr-Universität Bochum und von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Bily und Regisseurin Anna Stiepani distanzieren sich allerdings deutlich von der stark ins Fiktionale driftenden Verfilmung und orientieren sich eher an den Traditionen des deutschsprachigen Dokumentartheaters, geprägt von Peter Weiss und Heinar Kipphardt. Das hat zur Folge, dass die Inszenierung an einigen Stellen etwas ins Genre Schulfunk und Bildungsfernsehen abrutscht, dass die Akteure viel mit Erzählerberichten und dem Verlesen von Dokumenten beschäftigt sind. Doch dann überwiegen die Momente der persönlichen Betroffenheit und der Nachdenklichkeit, etwa wenn Georg Zeies als Geschichtslehrer ganze fünf Minuten mit dem schweigenden Publi-kum konfrontiert ist oder Nils van der Horst als Schüler Dietrich verkündet: "Ich geh jetzt weg".
Auf der Probebühne herrscht zunächst sterile Labor-Atmosphäre, die aber bald durch nicht ganz zeittypische Overhead-Projektoren, durch rote Plastikstühle und ein antiquarisches Radiogerät, durch eine Wandkarte und sogar durch eine Tischtennisplatte zum Rundlauf aufgelockert wird (Bühne, Kostüme und Licht von Anna Wörl). Aus dem Lautsprecher kommen nicht nur RIAS-Reportagen mit Originalstimmen von Willy Brandt und Otto Suhr, sondern auch Traumwelt-Schlager der 1950er Jahre wie Freddys "Heimweh" und "Que sera" von Doris Day. Die maschinengeschriebenen Stasi-Protokolle werden am Ende ganz radikal von vier Laubbläsern durcheinandergewirbelt. Das sechsköpfige Ensemble agiert flexibel in wechselnden Rollen, immer wieder ordnen sie sich zum Gruppenbild vor dem Originalfoto der geflüchteten Abiturienten.
Systemrelevante Chefsache
Die Dramatik jenes Konflikts war nicht zwangsläufig. Wenn die SED-Regierung in Person des Volksbildungsministers Fritz Lange den Fall nicht zur systemrelevanten Chefsache gemacht hätte, wäre die mutige Aktion womöglich vom damaligen Schuldirektor als unüberlegter Lausbubenstreich abgetan und abgehakt worden. Lange wollte sozialistische Linientreue und Denunziation der Rädelsführer, bekam aber Klassen-Solidarität und entschloss sich, ein Exempel zu statuieren: Alle Schülerinnen und Schüler sollten vom Abitur ausgeschlossen werden. Das Ergebnis: Ein Großteil der Klasse nutzte die damals noch vorhandene offene Grenze und floh nach West-Berlin.
Im hessischen Bensheim an der Bergstraße machten sie leicht verspätet ihr Abitur, BRD-Außenminister von Brentano kam zur Abifeier, in der BILD-Zeitung wurden sie als Helden der Freiheit gefeiert. Zum Glück transportiert die Aufführung jenes Legenden-Gemälde aus der Schwarz-Weiß-Tube nicht unkritisch in die Gegenwart, vielmehr erlebt man ein ziemlich unterhaltsames Lehrstück über Solidarität und Widerstand in einer Diktatur und bekommt eine ganz neue Definition des Begriffs "revolutionäre Klasse" an den Kopf geworfen.
Treffliche Alternative zum Frontalunterricht
Dem Stück ist eifriger Besuch durch heutige Schulklassen zu wünschen. Die knapp 80 Minuten (entsprechend einer Doppelstunde im Schulfach politische Bildung und Zeitgeschichte) sind eine treffliche Alternative zum lehrerzentrierten Frontalunterricht. Vielleicht können dann in der Nachbesprechung noch ein paar aktuelle Fragen diskutiert werden: Wo liegen die Unterschiede zu den von Greta Thunberg inszenierten Schulstreiks für das Klima, die zur Bewegung "Fridays for Future" führten? Oder noch direkter: Wird es derzeit an Russlands Schulen auch Schweigeminuten für Alexei Nawalny geben?
Das schweigende Klassenzimmer
von Dietrich Garstka
Regie: Anna Stiepani, Bühne und Kostüme: Anna Wörl, Musik: Adrian Sieber, Dramaturgie: Barbara Bily.
Mit: Nils David Bannert, Nils van der Horst, Daria Lik, Isabella Szendzielorz, Eva-Lina Wenners, Georg Zeies.
Premiere am 22. Februar 2024.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.mainfrankentheater.de
Kritikenrundschau
Der Stoff ist auf der Bühne "weniger die emotionale Würdigung einer tapferen Schulklasse, sondern vor allem die aufschlussreiche Kurzvisite in einem Staat, dessen Gesinnungsterror schon sieben Jahre nach seiner Gründung auf Hochtouren läuft", schreibt Mathias Wiedemann in der Main-Post (24.2.2024). "Man merkt dem Stück an, dass es vor allem junge Menschen erreichen soll – der didaktische Ansatz ist unübersehbar, beispielsweise wenn Grundlagen wie die deutsche Teilung erklärt werden. Aber das macht nichts."
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