Standhaft in der Behördenhölle

30. November 2023. Gute Beine braucht man, und am besten auch eine privilegierte Identität: Dokumentartheatermacherin Christiane Mudra lässt für "Hotel Utopia" in einem Treppenhaus im ehemaligen Flughafen Tempelhof das Publikum mit Reisepässen spielen. Und der Amtsschimmel wiehert.

Von Janis El-Bira

"Hotel Utopia" von Christiane Mudra im Flughafen Tempelhof Berlin © Verena Kathrein

30. November 2023. Unter den vielen hässlichen Begriffen deutscher Asylbürokratie steht das "Flughafenverfahren" für einen besonders effizienzoptimierten Entscheidungsprozess: Kommen die Antragsteller an einem Flughafen an, kann eine Erstprüfung noch unmittelbar im Transitbereich vorgenommen werden. Ist das Asylgesuch "offensichtlich unbegründet", wird die Einreise schon an diesem Punkt verweigert. Hat es Chancen, beginnt das eigentliche Verfahren – und mit ihm in der Regel ein schier ewiger Kreislauf der Behördengänge.

"Da sind Sie bei mir falsch!"

An das "Flughafenverfahren" denkt man an diesem Theaterabend oft. Und das nicht nur, weil es einmal tatsächlich vorkommt. Vielmehr hat die Investigativ-Theatermacherin Christiane Mudra für die Berliner Premiere ihrer Anfang dieses Monats in München uraufgeführten Produktion "Hotel Utopia" den mutmaßlich perfekten Ort gefunden: In ein jüngst saniertes, monumentales Treppenhaus des ehemaligen Flughafens Tempelhof ist ihr "interaktives Gesellschaftsspiel über Grenzen, Bürokratie und den Wert von Pässen" eingezogen.

Kleine Kabuffs aus Computerbildschirmen, Flipcharts und Kaffeetassen mit sehr deutschen Sinnsprüchen stehen hier auf jeder der sechs Etagen. Sie tragen Hinweisschilder wie "Wohnen und Unterkunft", "Arbeit" oder "BAMF", also Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dahinter aufgekratzte Mitarbeiter*innen, deren Phrasen über die Gänge hallen: "Da sind Sie bei mir falsch" oder "Dafür müssen Sie zunächst…". Asylparcours im Miniatur-Format, Transitbereich ohne Vor und Zurück. Treppauf und treppab geht's trotzdem und das in wadenstraffender Unablässigkeit. Wer hier mitmachen will, muss gut zu Fuß sein.

Hotel Utopia 03 1200 Verena Kathrein uEinbürgerungstests und andere Schikanen: in "Hotel Utopia" wird das Publikum auf einen Parcours durch das deutsche Behördenwesen geschickt © Verena Kathrein

Mitmachen, das heißt an diesem Abend zunächst einmal: die eigene Identität und deren unzählige Privilegien ablegen und per Dokumentenmappe eine neue zugewiesen bekommen. In diesem Fall ist das Rami Al Ali, Palästinenser und damit staatenlos. "No passport" steht da paradoxerweise in dem ausgehändigten Pass. Fürs Spielelement aber fast noch folgenreicher: Rami ist minderjährig und als allein vorstellig werdender Minderjähriger geht bei den Behörden erstmal gar nichts.

Immer wieder muss ein volljähriger "Pate" unter den Mitspielenden und Zuschauenden herbeigeholt werden, damit Rami seine Stempel bekommt und zur nächsten Stelle geschickt werden kann. Zur Altersbestimmung oder zur Registrierung für eine Jugendunterkunft. Pässe mit anderen Identitäten bringen wiederum Probleme eigener Art mit sich und sorgen für ein schönes Gewusel unter den nach und nach eingelassenen Besuchern. Ein ausgeklügeltes Datensystem sorgt dafür, dass die ganz oben, im sechsten Stock, wissen, was die ganz unten bescheinigt haben. Fehlt etwas, geht's nicht weiter. Dann heißt es wieder: Schlangestehen, warten und erneut erklären, was man will.

Falscher Pass und Frontalunterricht

Und während man so wartet oder beim Sprachkurs Vokabeln wiederholt, macht "Hotel Utopia" etwas, was beim Spielen eigentlich verboten ist: Der Abend erklärt sich. Immer wieder springen die Performer*innen auf ein Signal hin hinter ihren Computern hervor, kommen auf den Treppenabsätzen und Zwischengeschossen zusammen und monologisieren oder duettieren über das sehr weite Feld von Ausgrenzung, territorialer Abschottung und das Unglück, mit dem "falschen" Pass durchs Leben zu müssen.

Und wo da überall hingedacht wird: Ins Frankreich des 18. Jahrhunderts und zum Beginn der biologistischen Verbrechensforschung, in die ehemaligen deutschen Kolonien oder zur Entwicklung des Antisemitismus. Es geht um die Ausbeutung der Goldminen in Burkina Faso ebenso wie um Staatenlosigkeit, Wahlrecht, Frontex, die Lager in Libyen und irgendwann auch noch um die Rassismen im Denken Immanuel Kants.

Müde Füße

Eine erschlagende Materialfülle, die zur Banalität des Behördenrundgangs etwas streberhaft draufgesetzt wirkt, vor allem aber den Eindruck einer Ebenenverwechslung erzeugt. Denn die vielen eingeschobenen Exkurse und Frontalunterrichte lassen das Spielelement leicht vertrocknen. Dann vollzieht man im erschöpften Schlangestehen und Stempelsammeln bloß noch symbolisch die Unmenschlichkeit eines Systems nach, das einem hier Mal ums Mal eh unmissverständlich ausexpliziert wird.

Bürokratiehöllen macht aber aus, dass sie sich gerade nicht erklären. Ihre zähen Strukturen verweisen immer wieder nur auf sich selbst. Vielleicht hätte das in "Hotel Utopia" erfahrbar werden können. So geht man trotzdem klüger in die Nacht, aber vom Schmerz in der für einen Abend adoptierten Biografie erzählen allenfalls die müdgelaufenen Füße.

 

Hotel Utopia
Konzept, Recherche, Text und Regie: Christiane Mudra, System-Architektur und Game Design: Markus Schubert, Raum / Requisite: Julia Kopa, Kostüm / Requisite: Sarah Silbermann, Lichtdesign und Technische Leitung: Peer Quednau, Video / Flyer: Yavuz Narin, Produktionsleitung: ehrliche arbeit – freies kulturbüro.
Mit: Meriam Abas, Sebastian Gerasch, Gabriele Graf, Melda Hazırcı, Ariella Hirshfeld, Richard Manualpillai, Waki Meier.
Premiere am 6. November 2023 (München), Berlin-Premiere am 29. November 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.ballhausost.de
investigativetheater.com

 

 

Kritikenrunschau

"Obwohl die schiere Menge an Informationen beeindruckt, wirkt die Inszenierung dadurch teils überfrachtet", findet Amelie Sittenauer in der taz (1.12.2023). Die vom Publikum gemachten Erfahrungen mit der bürokratischen Gewalt des Grenzregimes hätten die Thematik viel deutlicher und direkter vermittelt. "Denn angesichts der zahllosen Formulare, der Beamtensprache und der unverständlichen Regelungen kann man der Ohnmacht und Überforderung gar nicht entkommen."

Eine Lehre dieses hochimmersiven Abends sei: "Brav sein lohnt sich nicht. Frech kommt weiter. Ob es darum ging?", fragt Sabine Leucht nach der München-Premiere in der Süddeutschen Zeitung (8.11.2023). Mudra sei eine unermüdliche investigative Tiefenbohrerin. Ihr Material ufere in viele Richtungen aus. Das ermüde. "Und zwar auf andere Weise als intendiert. Hier entert das Elend der ganzen Welt mit Schaum vor dem Mund eine sehr konkrete Situation und hindert einen daran, sich richtig darauf einzulassen."

"Eine gewisse Überforderung gehört zu den investigativen Regiearbeiten von Christiane Mudra dazu, vor allem auch, was die Informationsfülle angeht", konstatiert auch Michael Stadler in der Abendzeitung (8.11.2023), findet aber, dass der Abend eine eindringliche, "mit aller immersiver Kraft vorangetriebene Einübung in Empathie und Solidarität" ist.

"Über die eigenen Privilegien nachzudenken, schadet bekanntlich nie", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (2.12.2023). Allerdings stellt dieser Abend ihn vor das Problem, "dass der Pass-Parcours seine kafkaeske Wirkung gar nicht entfaltet. Irgendwann werden einem die Dokumente halt in die Hand gedrückt, dazwischen ist viel dramaturgischer Leerlauf und Didaktik."

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