Brillieren im Weltelend

von Anne Peter

Berlin, 2. Juni 2007. Adorno versuchte noch, das "Endspiel" zu verstehen. Auf nicht eben leicht verständliche Weise, versteht sich. Er diagnostizierte bei Beckett unter anderem die Depravation der von diesem selbst aufgebotenen Philosophie der Anspielungen und Bildungsbruchstücke zum "Kulturmüll".

Jan Bosse hingegen macht mit großen Teilen des Textes, was man mit Müll eben so macht: entsorgen. In seiner Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin streicht er Hamm so manche tragische Reminiszenz ("kann es überhaupt … er gähnt … ein Elend geben, das … erhabener ist als meines?"), kickt die Eltern Nell und Nagg ganz in die Mülleimer, um deren Rand sich die Hände der Alten im Stück noch klammern, und auch der schwarze Plüschhund muss dran glauben.

Gleißendes Scheinwerferlicht

Was bleibt, sind Hamm und Clov, Herr und Diener, Ulrich Matthes und Wolfram Koch. Zwei Großschauspieler, die zwei Schauspieler spielen. Die die letzten Menschen spielen. Ohne das Ende wär’s kein Spiel und ohne Spiel wär’s zu Ende. Und so nimmt Bosse, obwohl er Beckett viele Worte nimmt, letztlich doch beim Wort. Denn für den Autor will das Drama „bloßes Spiel“ sein.

Von Anfang an ist das Ganze ein dezidiertes Vorspielen und auch ein Heischen um die Aufmerksamkeit des Publikums. Doch das wird zunächst einmal geblendet, gleißendes Scheinwerferlicht schießt beim Einlass horizontal von der Bühne herunter – nicht gerade das, was man sich unter dem sonnenlosen Endzeit-Ambiente vorstellt. Dann hebt sich der eine riesige Scheinwerfer, wandert in den Schnürboden und lässt die Dahinterstehenden sichtbar werden. Sie warten schon auf ihren großen Auftritt.

Koch-Clov wendet den Blick nicht von den Zuschauern, während er das Tuch, mit dem Hamm sein Gedicht bedeckt hat, vorsichtig an einem Zipfel hebt. Er sagt seine berühmten Sätze vom "Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende" mit Pausen dazwischen, so als wolle er seinem Mitspieler jeweils nur das Stichwort liefern. Danach stampft er demonstrativ nach hinten, wo sich die imaginäre 3mal3mal3-Meter Küche befindet. Matthes-Hamm hat nur darauf gewartet, wirft die Arme aus – tataa! – zieht sich das Tuch vom Gesicht: "Ich bin dran. Jetzt spiele ich!"

Es glitzert und knallt

Hier herrscht kein karges Grau, hier glitzert und hier knallt es. Zumindest in den Kostümen von Kathrin Plath. Matthes blitzt als Showman im komplett paillettierten Anzug mit verspiegelter Pilotenbrille vor den blinden Augen (oder ist auch das Blind-Sein nur Pose?), Koch trägt hässlich-orangene Kittelschürze über Shorts und Latschen. Ein schrilles Paar, ein brillierendes Paar.

Wieder einmal setzt Bosse ganz auf seine Schauspieler. Lässt sie auf der leeren, schräg zum Zuschauerraum hin abfallenden Bühne von Stéphane Laimé die volle Bandbreite ihres Könnens vorführen. Die kahlen Holzbretter, in den pechschwarzen Rundhorizont gezimmert, sind ihre ganze Welt.

Aber sie wollen auf ihnen nichts bedeuten. "Wir, etwas bedeuten?" fragt Kochs Clov belustigt und kann da nur lachen. Er selbst deutet die Dinge an. Erspielt sie erst, peinlich berührt, mit unwilligem Augenverdrehen und der betont plumpem Gestik eines mittelmäßigen Pantomimen. Dabei legt Koch brillante Clownsnummern hin, wenn er die nicht vorhandene Leiter vor die nicht vorhandenen Fenster stellt und durch ein nicht vorhandenes Fernrohr durch die nicht vorhandene vierte Wand ins Publikum späht: "Ich seh ’ne begeisterte Menge." Die viel zu lachen hat an diesem Abend. Herrlicher Slapstick, wenn der wirkliche oder eingebildete und sowieso nur gespielte Floh, "die Mistbiene!", hysterisch mit Mehl bestäubt wird, das sich sein Wirt über Kopf und in Hosen schüttet und dann noch die vollen Schürzentaschen vergeblich auszuklopfen versucht.

Exzentrisches Egozentrum

Matthes, der als Hamm seinen Stuhl nicht verlassen kann, gibt das exzentrische Egozentrum, um das herum Koch seine Späße aufführt. Er hängt seine Arme lässig auf die Lehnen, überschlägt von Zeit zu Zeit ein Bein oder lässt die gelähmten zur Seite knicken. Von Statik im Schauspiel keine Spur, immer wieder findet er neue Posen, windet den Oberkörper, wenn die Visionen kommen (zusammen mit den Synthesizer-Auf-und-Abs von Arno P. Jiri Kraehahn). Ab und zu Choleriken, dann wieder schmierig-arrogantes Grinsen.

Wohl zum hundertsten Mal folgt der treue Schauspieldiener der Wunschinszenierung seines Herrn. Der braucht seinen Knecht vor allem als Zuhörer seiner Geschichte und als Ausführenden seiner wahnsinnigen Regieanweisungen. Er probt mit ihm das interessierte Nachfragen, lässt sich – "bohr doch weiter!" – vorsprechen, bis es sitzt. Clov rächt sich subtil, betont, dass ER ja was zu tun habe, verkündet stets schadenfreudig, dass es noch nicht Zeit sei fürs Beruhigungsmittel und als es Zeit ist, dass keins mehr da sei.

Ausbrüche aus dem Reigen des Aufgesagten, Eingetrichterten gibt es nur für Augenblicke: wenn Koch mit Matthes im Huckepack einmal ums weltliche Viereck galoppiert, von irrem Enthusiasmus getrieben. Als wäre das ein Aufbruch. "Warum dieses Theater, immer wieder, jeden Tag?", fragt Clov wütend – und stellt damit vielleicht die zentrale Frage des Abends. Die nach der Funktion des Theaters. Hamms zynische Antwort lautet bei Bosse einfach: "Routine".

Dieser Regisseur, der 2004 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg schon "Warten auf Godot" inszenierte, sucht nicht nach den endgültig letzten Dingen und allen Komplexitäten auf einmal. So holt er auch das "Endspiel" zu sich heran und zeigt mit der Reduktion des Personals und der Betonung des Theatertheaters selbstironisch auch auf die Hierarchien, die Herren und Diener im Theaterbetrieb. "Ich fühle mich etwas erschöpft", klagt Hamm, "die fortgesetzte schöpferische Bemühung." Der Diener ahmt den Herren nach, hat zum Sich-Setzen zwar keinen Stuhl, hängt in der Luft mit gleichfalls übereinander geschlagenen Beinen. Bosse setzt den Künstler, der schillert, wenn er sich im allgemeinen Weltelend wälzt, der schonungslosen Parodie aus. Die schöpferische Bemühung hat sich für diesmal gelohnt. Was für ein Spiel!

 

Endspiel
von Samuel Beckett
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno P. Jiri Kraehahn.
Mit: Wolfram Koch, Ulrich Matthes.

www.deutschestheater.de

 

{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=xeHBBKRMNP4}

 

Kritikenrundschau

Die Stuttgarter KritikerInnen, die Jan Bosse als "einen von uns" betrachten, haben ausnahmsweise bei einer Berliner Aufführung das erste Wort:

"Was für ein Paar", seufzt die völlig begeisterte Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (4.6.2007) angesichts von Ulrich Matthes und Wolfram Koch, "einer macht das Schwere leicht, einer macht das Leichte schwer". Bosse bringe Beckett zum "Swingen", im übrigen konzentriere sich der (Frau Golombeks eigenwillige Bezeichnung für den oft als Leichtgewicht verschrienen Bosse) "Literaturwissenschaftsregisseur" auf "Becketts Theaterkommentare und Passagen übers Schreiben und Erzählenwollen und nicht dazu kommen".

Michael Bienert schreibt in der Stuttgarter Zeitung (4.6.2007) das Streichen des Ehepaares Nagg und Nell sei der "fragwürdigste Punkt" dieser Inszenierung, weil dadurch "das bizarre Beziehungsgeflecht in Becketts Vorlage sehr viel ärmer" werde. Das jedoch wögen "die großartigen Schauspieler Ulrich Matthes und Wolfram Koch" auf, "ein federleicht agierendes Albtraumpaar: Matthes als Hamm ist die blinde Sonne in der Bühnenmitte und Koch als Clov ihr nervöser Trabant".

In der Süddeutschen Zeitung (4.6.2007) schreibt Peter Laudenbach, "Adorno und andere Beckett-Deuter" hätten die Sätze "zu Tode interpretiert". Jetzt aber habe er, Laudenbach, sie "wie zum ersten Mal" gehört: "Frisch, klar, entschlackt, frei von angeklebtem Tiefsinn und Stadttheater-Bedeutungsschwere."

Ernsthaft degoutiert zeigt sich Irene Bazinger in der FAZ (4.6.2007). Sie schreibt von "Bosses biedermeierliche Regie", die den "Schleichweg des geringsten formalen wie intellektuellen Widerstands" einschlage in Richtung "belangloses Geplänkel". Immerhin finden die Schauspieler Gnade in den Augen von Frau Bazinger: "Als bizarr komische Vögel machen Ulrich Matthes und Wolfram Koch aus diesem ewigen Zweikampf einen soliden, mitunter angestrengten Spaß auf beachtlichem handwerklichen Niveau. Ein Höhenflug über Leben und Tod, Freud und Leid wird daraus aber nicht".

Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (4.6.2007) schreibt: "Jan Bosse macht das "Endspiel“ zum – Spiel! Ob das im Sinne des Erfinders ist, spielt keine Rolle, es funktioniert prächtig. ... Matthes und Koch ... sind Entertainer, durch und durch. Als einmal das Wort "Routine" fällt, sind sie schier aus dem Häuschen. „Die alten Fragen, die alten Antworten, da geht nichts drüber", jubiliert Hamm. Wann klang ein Beckett auf der Bühne so entspannt!"

Wie Ulrich Seidler, der Kritiker der Berliner Zeitung (4.6.2007) die Aufführung beurteilt, - recht zu erfahren ist es aus seinem Text nicht. Er zieht sich weit aufs Sachliche zurück: "Das halbe Personal – Hamms unterleiblose Eltern Nagg und Nell - ist gestrichen, sowie das gesamte Inventar ... Bosse hat den antagonistischen Grundkonflikt aus Becketts "Endspiel" dynamisch durchkomponiert" um ihn "erst ins Nichtige und schließlich ins Nichts ausläppern und sterben zu lassen mit dem Abgang von Clov. Diese Inszenierung ist somit das naturgemäß bleiche Gegenstück zu Dimiter Gotscheffs grandiosen "Persern" ..."

Jörg Sundermeier in der taz (4.6.2007) hat sich angesichts der beiden "flapsig vor sich hin spielenden" Darsteller gelangweilt. Bosse lässt "Ulrich Matthes und Wolfram Koch sprechen, als handele es sich bei Beckett-Stücken um psychologisches Drama à la Arthur Schnitzler". Sie dehnen die Sätze, sie stottern, ... andererseits aber "gebietet" Bosse seinen Schauspielern, "die Sätze schnodderig auszusprechen, Wörter wie "Denkste" zu sagen, die der Kunstsprache Becketts eine menschliche Note geben. Wenn sich dann doch einer jener schönen, in der Alltagssprache aber ungewohnten Konjunktive aus Elmar Tophovens Übersetzung in Bosses Version erhalten hat, klingt das wie eine Fremdsprache. Matthes und Koch müssen, um in ihrer Rolle zu bleiben, die Konjunktive besonders hervorheben. Jeder Konjunktiv wird zum Lacher".

Wie gewöhnlich haben wir Peter Kümmels Artikel über Endspiel (und Lear) in der Zeit (6.6.2007) einige Einsichten zu verdanken. "Endspiel zeigt eine vom Hass längst entvölkerte Welt ... im Endspiel herrscht gespenstische Fröhlichkeit. Man hat über die Jahrhunderte gelernt, sich im Ende einzurichten." Für Herrn Kümmel sind Hamm und Clov in Bosses Version "Sitcom-Buffos, die sich die tote Zeit vertreiben." - "Nicht ist komischer als das Unglück", der Satz muss hier nicht eigens gesagt werden, er ist das launig anvisierte Erkenntnisziel der Inszenierung." - "Dies ist die Sisyphos-Legende, gespielt von einem Kunden und seinem Dienstleister - Als sei Clov ein Barbier und Hamm ein Mann, dem alle zehn Minuten der Bart nachwächst."

 

Kommentare  
Endspiel 1
Es ist schön, daß dieser Bosse das "Endspiel" verjuxt und kreativ verhunzt hat. Gibt es da mit den Beckett-Erben (Edward!) eigentlich keine Probleme?
Noch mehr hätte es mich gefreut,wenn Bosse Hamm und Clov gestrichen und es bei Nagg und Nell belassen hätte. Dieser Stück-Rest könnte gut implantiert werden in ein straffes Konzentrat von Lehárs "Die Lustige Witwe" mit Nagg als Danilo und Nell als Hanna Gla-wari. Wer will denn noch diesen freudlosen Beckett sehen?!- Offenbar ist dem Deutschen Theater wieder ein Event gelungen. Gut so. Weiter so. Wirklich: "Was für ein Spiel!"
Endspiel, Berlin: was fehlt
Wir haben das Stück gestern gesehen, bei einem Berlin Besuch mit Theater; die Kritiken der anderen Stücke z.B. Marat/Sade haben mich eher abgeschreckt. Leider hatte ich obige Kritik noch nicht gelesen. Ich habe mir die ganze Zeit überlegt, ob ich im falschen Stück sitze, da ich mich noch deutlich an die Lektüre des Stücks vor Jahren erinnerte und an die Eltern in der Tonne!
Die fehlen! Finde nicht, dass bei dem ohnehin konzentrierten Stück dieses durch das Weglassen dieses Teils gewonnen hat. I.G. Die schauspielerische Leistung in Ehren, aber diese sollte kein Selbstzweck sein, auch und gerade nicht bei Beckett. (Völlig unpassender Glitzeranzug)
Also rate ich deswegen vom Besuch ab. Lieber eine Theater-Verfilmung, die es gibt, und die ich in guter Erinnerung habe. Ja, leider muss man Autoren und ihre Stücke vor dem gegenwärtigen Theater und seiner „Kritiker“ in Schutz nehmen. Und auch Adorno vor denkfaulen Kritikern.
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