Hörbild des geborstenen Ich 

von Wolfgang Behrens 

Berlin, 23. November 2007. Die "Winterreise" ist ein Problem. Nicht in philologischer Hinsicht, nein!, an Schuberts Musik gibt es nichts zu deuteln, und selbst der oft bekrittelte Text Wilhelm Müllers bereitet in seiner künstlich hergestellten Volksliedhaftigkeit nicht eigentlich Schwierigkeiten. Ein Problem stellt vielmehr dar, wie dieser Liederzyklus, der längst zum Inbegriff deutscher Innerlichkeit geworden ist, angemessen dargeboten werden kann.

Idealerweise stellt man sich einen sinistren, liebeskranken Pierrot vor, der die Lieder, im vollmondbeschienenen Zimmer in die Klaviertasten greifend, in die einsame Nacht hinauskräht. Die musikalische Praxis sieht natürlich anders aus: ein Podium, ein Flügel, ein befrackter Sänger, ein befrackter Pianist, Licht an, los geht's. Vor einem großen, vorzugsweise bürgerlichen Publikum wird die aufs Intimste gestellte Innerlichkeit vergemeinschaftet, die Katastrophe eines zerbrechenden Ichs wird sauber und ordentlich – im Frack halt – zelebriert.

Ein Häufchen Elend im Theaterschnee
An ebenjenem Frack mag sich Michael Thalheimer gestört haben, als er auf die Idee verfiel, die "Winterreise" vom Konzertsaal (und von der heimischen Stereoanlage, Fischer-Dieskau abnudelnd) auf die Bühne der Kammerspiele des Deutschen Theaters zu versetzen. Und steckt seinen Sängerdarsteller, den Tenor Daniel Kirch, in einen weißen Anzug. Und da der Mann, den Kirch singt und spielt, verzweifelt ist, wird er irgendwann sein Jackett ablegen und zum Schluss – beim "Leiermann" – sogar völlig nackt und bloß als Häufchen Elend im Theaterschnee in der Bühnenmitte kauern. Und das ist auch fast schon alles.

Thalheimer geht bei seiner Bebilderung des Zyklus so sparsam vor, dass sich irgendwann wie von selbst die Frage aufdrängt, ob hier etwas erzählt wird, das zwei gute Musiker in der konventionellen Konzertsituation nicht auch erzählen könnten. Die Bühne ist mal wieder leer (und wie in ähnlich gelagerten Fällen zeichnet für diese Leere ein Bühnenbildner verantwortlich, diesmal Henrik Ahr), vorne rechts steht der Flügel, hinten ein Klavier (letzteres stellt sich später, wenn es beim "Leiermann" zum Einsatz kommt, als verstimmt heraus: offensichtlich das Hörbild des geborstenen Ichs), von vorne links sorgen einsame Scheinwerfer für caravaggeske Beleuchtung.

Krokodilstränen und Schluchzer
Der Sänger steht drei Lieder lang still. Beim vierten setzt er sich zu den Worten "Mit meinen heißen Tränen" in Bewegung, er geht auf die Scheinwerfer zu und wirft einen langen, langen Schatten schräg über die Bühne. Es schneit. Ja ja, tiefstehende Abendsonne im Winter, sehr atmosphärisch, sehr ästhetisch, sehr nichtssagend. Kirch geht dann auch mal nach hinten, mal nach vorne rechts zum Pianisten, mal ganz nach vorne an die Rampe. Er wirft ein paar Blicke und beglaubigt seinen Schmerz durch zwei, drei Krokodilstränen und selbstverliebte Schluchzer – das war die schauspielerische Seite des Abends.

Trotzdem könnte sich das Ganze zu großer Intensität spannen, wenn der musikalische Teil zu überzeugen vermocht hätte. Doch der hält nicht stand. Kirch hat im Grunde zwar einen wohlklingenden, warm timbrierten Tenor, wenn er die Stimme entspannt führt. Zumeist aber forciert er auf unangenehme Art, vor allem in der Höhe, in der er sich kein Piano gestattet: Einige Phrasen geraten so in den oberen Regionen völlig aus dem dynamischen Gleichgewicht. Manche unsichere Intonation trübt die Darbietung zusätzlich ein.

Ein schöner Moment im Dunkeln
Dabei mangelt es nicht am Gestaltungswillen, der sich jedoch an seltsam herausgehobene Details verliert, ohne sich zu einem konsistenten Gesamtzugriff zu runden. Letzteres gilt in verschärftem Maße für die Begleitung: Jürg Hennebergers Klavierspiel bleibt an diesem Abend mitunter erschreckend grob und holzschnittartig, von irgendeinem interpretatorischen Ansatz teilt sich nichts mit.

Das Aufführungsproblem "Winterreise" haben Thalheimer und Kirch nicht gelöst. Doch Thalheimer wäre nicht Thalheimer, wenn ihm nicht doch wenigstens ein berührendes Bild gelänge: Im Lied "Der Wegweiser" fährt die Drehbühne – beinahe unmerklich in Gang kommend – den Sänger ganz, ganz langsam aus dem Scheinwerferlicht ins Dunkel der Seitenbühne. Zu den Worten "Eine Straße muß ich gehen, / Die noch keiner ging zurück" macht dieses schlichte Arrangement Eindruck und lässt einen für einen Moment die Luft anhalten. Dann aber geht der Sänger wieder zurück ins Licht. Und der Rest von Thalheimers "Winterreise" erzeugt weder Gänsehaut, noch macht er einem den Atem gefrieren – er lässt einfach kalt.


Winterreise
von Franz Schubert, Gedichte von Wilhelm Müller
Leitung: Michael Thalheimer, Raum: Henrik Ahr, Kostüme: Michaela Barth, Licht: Thomas Langguth.
Mit: Daniel Kirch, Jürg Henneberger.

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau 

In der FAZ aufgelöst, (26.11.2007) sinniert Irene Bazinger über die Vorteile des weißen Anzugs, den Thalheimers Winterreisender Daniel Kirch trägt: "Man denkt dabei nicht an die übliche Konzertsituation mit einem Sänger im Frack; er verfremdet beiläufig auch die tonangebende frostige Topographie, sein Träger erscheint dezent heutig; man sieht ihn auch im Dunkeln gut." Die klassische Konzertsituation erscheine bei Thalheimer "in seiner unspektakulär gelungenen Inszenierung so "klug wie sensibel""um Schuberts melodramatische Monologe als bewegte Miniaturen zu befreien. Wer Ohren hat, kann sehen, und wer sieht, muss fühlen, was er hört."

In der Berliner Zeitung (26.11.2007) fragt Dirk Pilz: "Aber wozu eigentlich die szenische Übersetzung? Erstklassige Musiker könnten auch durch die klassische Vortragssituation (schwarzer Frack neben schwarzem Flügel) herstellen, was Thalheimer mit seinem Augen- und Ohr-Theater veranstaltet." Immerhin sieht er in der "mit einem betont dünnen Pinsel" gearbeiteten Inszenierung eine "effektsichere Schwelgerei der gehobenen, feinen Machart". Wer jedoch "sängerische und pianistische Glanzleistungen" erwarte, werde "jedenfalls vorsätzlich enttäuscht". Offensichtlich seien Pianist und Sänger mithilfe einiger Grobheiten bemüht, "dem Schwelgen den Kitsch zu verbieten" bzw. "sich den Vorwurf des hemmungslosen Romantisierens nicht zuzuziehen".

FAZ-Feuilletonleiter Patrick Bahners schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (25.11.2007) höchstpersönlich und ausgiebig über die "Winterreise" am DT. Gleich der erste Satz ist ein erstaunlicher: "Wo 'Warten auf Godot' aufgehört hat, setzt Michael Thalheimers szenische Fassung der 'Winterreise' ein." Vom Klavier komme die für das Stück "gültige Regieanweisung, der Imperativ des Wanderns. Der Sänger bewege sich nicht von der Stelle. Dabei behauptet er, dass er unterwegs ist." Bahners schreibt, dass man sich zunächst "nicht in der Erwartung getäuscht sehe", dass die Liedmotive ins Bühnenbild übertragen würden – Dunkelheit, Licht, schwarzes Geäst. Man sehe auch ein Klavier, aber "nicht das Klavier, das unsere Ohren hören." Der Sänger trägt weiß. "Er kann in der Natur, die er als abweisende beschwört, nicht verschwinden." Vor allem aber sieht Bahners drei geniale Ideen bei Thalheimer, dem "Molekulartheaterküchenmeister": erstens "das Schneegeriesel" als "weißes Rauschen", dem "Gegenteil von Musik". Zweitens der Pianist, der "ungerührt weiter spiele", "wenn der Sänger verstummt ist". Die dritte will Bahners in der Liedzeile "will kein Gott auf Erden sein, / Sind wir selber Götter!" ausmachen. Alles in allem scheinen Bahners an dem Abend die Augen geöffnet worden zu sein.

Christiane Tewinkel resümiert im Tagesspiegel (25.11.2007): "All das – also: all das Wenige – stört diesen Zyklus nicht. Und ist daher gutzuheißen. Es fügt der 'Winterreise' allerdings auch nichts zu, und so ist man am Ende schon wieder so weit zu vermuten, dass dieses Werk die elegant rattenfängerische Veranschaulichung einfach nicht nötig hat." Es fange allerdings verheißungsvoll an, "nämlich in totaler Dunkelheit". Erst nach und nach werde der weiße Anzug sichtbar, in dem der Sänger Kirch steckt. Und den er am Ende ausgezogen hat, "als alles verloren ist: das Ich, der Lebensmut und jede schöne Nähe zu den Menschen." Gesanglich meistere Kirch den Abend ausgezeichnet, ein "hervorragender Interpret, den Henneberger am Klavier nur manchmal viel zu laut begleitet."

Manuel Brug (Berliner Morgenpost, 25.11.2007) findet Kirchs Tenor dagegen "angestrengt grell": "Da hört man nicht gern zu. Muss man aber. Denn zu sehen gibt es nicht viel." Denn der Abend biete "wenig Thalheimer, aber viel Prätentiöses, Minimalismuskitsch". Und was wurde mit dieser "Winterreise" unternommen? "Eigentlich nix." Thalheimer sei nämlich (hört! hört!) "viel zu werkgetreu auf den Schubert-Leim gegangen".

Laut Corina Kolbe (Netzeitung , 24.11.2007) stehe "eindeutig" die Musik im Vordergrund. Thalheimer verzichte auf "romantisierendes Dekor" und "visuelle Bezüge zur Gegenwart". Ein überzeugendes "Regieexperiment", meint die Kritikerin. Das "musikalische Erlebnis" sie allerdings "zwiespältig". Denn "Kirch – und das hört man deutlich – kommt von der großen Opernbühne her. Sein Vortrag ist zu extrovertiert und strahlend." Und auch "Pianist Henneberger, der sich vor allem als Experte für Neue Musik einen Namen gemacht hat, setzt bei seinem nicht immer ganz sauberen Spiel auf Showeffekte."

Kommentare  
Thalheimers Winterreise: ambivalent
Ein wahrhaft ambivalenter Abend: einerseits die Hoffnung, einmal eine Winterreise auch schauspielerisch dargeboten zu bekommen. Ich gebe dem Rezensenten Recht: da war nichts, bis auf ein berührender Moment, dem "Wegweiser". Andererseits die Tragik, die Winterreise - wenn schon nicht tauglich geregieheimert - musikalisch ausgewogen zu genießen. Daniel Kirch schien sehr nervös, er wird es in den nächsten Produktionen besser darbieten können, aber das Piano, hm. Aber: falls es die Idee Thalheimers gewesen sein sollte, dieses bisschen Regie bereits als Bruch mit den Musikaufführungstraditionen zu verstehen, dann habe ich das Konzept nicht verstanden. Zu wenig Schauspiel für ein Schauspielhaus, zu dürftige Musik im Vergleich zur zahlreichen Kammermusikkonkurrenz. Den Kauf einer Eintrittskarte ist die Winterreise vielleicht trotzdem wert, wenn man mit weniger Hoffnung die Kammerspiele aufsucht.
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