Berlin is not Berlin Vol. 4 Wozzeck - glanz&krawall
Am Start ein armer Schlucker
26. August 2023. In spektakulärer Kulisse feiert das Musiktheaterkollektiv glanz&krawall bei seinem Opern-Festival Alban Bergs "Wozzeck". Auf der Trabrennbahn Karlshorst wird der Klassiker in den Performances diverser Berliner Gruppen liebevoll ausgemalt und kritisch kommentiert.
Von Sophie Diesselhorst
26. August 2023. Berlin is not Berlin, aber Woyzeck bleibt Woyzeck, der arme Schlucker. Zu dieser eher deprimierenden Schlussfolgerung bringen einen die ersten anderthalb Stunden dieses Spektakels auf der Trabrennbahn Karlshorst im Ost-Berliner Bezirk Lichtenberg. Für die vierte Ausgabe ihrer sommerlichen Opern-Dekonstruktions-Sause hat das gastgebende Musiktheaterkollektiv glanz&krawall, das noch einige weitere Berliner Gruppen dazugeladen hat, wieder einmal eine spektakuläre Kulisse gefunden.
Und dann geht über der Rennbahn die Sonne unter, die Karlshorster Einfamilienhäuser gleißen im letzten Tageslicht, und die Gastgeber kommen selbst zum Zug. Sie schenken dem armen Schlucker endlich ein bisschen Freiheit, ja gar: einen kurzen Moment des Triumphs. Streng genommen heißt er hier ja gar nicht Woyzeck, sondern Wozzeck wie in der Oper von Alban Berg, die den Grundstoff hergibt für alles, was an diesem Wochenende auf der Trabrennbahn, in ihrer Wetthalle und in ihrem Biergarten über die Bühnen geht.
Mietvertrag als Rennprämie
Im Haupt-Act des Abends lassen glanz&krawall nun also diesen Wozzeck Franz als einen von vier Kandidaten eines Wettrennens auf der Trabrennbahn antreten – wo an diesem Wochenende nicht Pferde, sondern Menschen laufen, "der Tierschutz sitzt uns im Nacken", begründet es Stadionsprecherin Gabi, mit rosa Sonnenbrille auf dem Pokerface. Das Szenario ist in einer nahen dystopischen Zukunft angesiedelt, in der eine heruntergekommene Souterrain-Wohnung in Karlshorst "in bester Rennbahn-Lage" 2000 Euro kalt kostet. Ein befristeter Mietvertrag für diese Wohnung ist die Gewinnerprämie für die Kandidaten des Rennens, aber vorsichtshalber läuft der Vermieter selbst auch mit, nichts für ungut.
Liebevoll werden die Figuren ausgemalt, die Vorstellung der Kandidaten fürs Wettpublikum gibt den souveränen Musiktheater-Performerinnen viel Raum, sich in ihre Backstorys zu vertiefen, und so laufen mit Hilfe von gut geführten Live-Kameras schnell mehrere Parallelhandlungen ab, will der Vermieter "Dr. Lanz" mit dem Verkauf seiner Autobiographie "Nachdenken und Reich werden" noch ein kleines Nebengeschäft machen, während Wozzecks Freund Andres für den Karl-Marx-Lesekreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung wirbt und Marie ihrem Baby eine blutige Gute-Nacht-Geschichte erzählt, die sich als prophetisch erweisen wird.
Für den Erhalt eines bunten Berlins
Indem sie ihn in eine imaginäre Karlshorster Umgebung einbetten, verschmelzen glanz&krawall den Stoff mit der Kulisse. In ihrer Liebe zum skurrilen Detail und dem Bekenntnis zur Anarchie des lebendigen Bühnengeschehens ist die Performance ein starkes Plädoyer für den Erhalt oder vielleicht besser: den Wiederaufbau eines bunten, gemischten, Künstler:innen anziehenden Berlins, das akut bedroht ist von den Entwicklungen auf dem Mietmarkt, die die Inszenierung ja nur leicht übertreibt. Berlin is schon länger not Berlin anymore.
Was glanz&krawall aber eben auch schaffen, ist es, mit den Klischees zu brechen, die an Woyzeck/Wozzeck kleben, diesem so faszinierenden wie überspielten Stück, das natürlich eine Steilvorlage ist für misery porn jeglicher Zubereitung. Wozzecks Würde wird hier unter anderem dadurch konsolidiert, dass Alban Bergs Musik ihm, beziehungsweise seiner Darstellerin vorbehalten ist – die anderen Figuren singen auch, aber sie singen Schlager oder Arbeiterlieder, machen eine gute Grundstimmung, die Wozzeck dann in ihren Auftritten transzendiert.
In letzter Zeit rückte zumindest im Sprechtheater das Ende des Stücks ins Zentrum, Woyzecks Mord an Marie. Es ist auch ein Stück über Femizid. Auch in "Showdown Karlshorst" gibt es einen finalen Gewaltausbruch, aber nicht gegen Marie, die hier ohnehin ihr eigenes Ding macht, sondern gegen die, die die Regeln bestimmen in dem abgefeimten Spiel.
Klischees frontal aufspießen
Musikalisch bemerkenswert ist auch der Beitrag des transkulturellen Babylon Orchestra, eine Art Kammeroper von Orchesterleiter Mischa Tangian nach Motiven von Alban Berg. Das Personal ist reduziert auf Marie und Woyzeck, der hier – passend zum Spielort, der Wetthalle der Trabrennbahn – noch zusätzlich an Spielsucht leidet. Durch das kunstvolle Verweben verschiedener musikalischer Traditionen bekommt die Geschichte einen noch universelleren Touch – auch wenn nicht zuletzt der brutale Showdown mit klassischem Femizid an Marie (in engem rotem Kleid und Highheels) nicht mehr nur Armuts-, sondern auch Opernklischees bedient.
Im Biergarten wird das Klischee indes frontal aufgespießt: In einer unterhaltsamen kleinen Western Show erschießen die ensemble-netzwerk-Gründer*innen vom Rumpel Pumpel Theater das Patriarchat, indem sie als abgehalfterte Schausteller in Cowboy-Kostümen (hier steckt der Link zu "Wozzeck" und der Jahrmarkt-Szene mit dem "Astronomischen Pferd") oder auch auf peinlichen Männlichkeitsidealen hängengebliebene Podcast-Dudes auftreten. Auch an Ryan Goslings Ken aus Greta Gerwigs "Barbie"-Film denkt man, wenn Johannes Lange in einem der Werbespots, die die magere Handlung ständig unterbrechen, für ein Management-Seminar mit Reitunterricht wirbt ("Pferde sind toll!").
Erbsensuppe zu fünf Euro
Auch wenn "Showdown Karlshorst" im Reigen der verschiedenen Darbietungen das unbestreitbare Highlight ist und die Inszenierungen vielleicht etwas mehr aufeinander hätten abgestimmt sein können, um besser als Module eines Theater- und Festivalerlebnisses zu funktionieren: Es macht Laune, die verschiedenen Wozzecks kennenzulernen und ihre Stimmen zu hören. Auch fürs leibliche Wohl ist übrigens stilecht gesorgt: Erbsensuppe gibt's zu fünf Euro.
In den vorigen drei Ausgaben des Mini-Festivals arbeiteten glanz&krawall sich stets an Wagner-Opern ab. Wagner als Feindbild vermisst man diesmal nicht (und auch der "latent misogyne" Alban Berg bekommt im Programmzettel sein Fett weg). Es ist zu wünschen, dass die Nachricht, dass der Eintritt für Menschen mit wenig Geld frei ist, die richtigen erreicht und die Veranstaltung übers herkömmliche Publikumsmilieu hinaus strahlt.
Berlin is not Berlin Vol. 4 Wozzeck
Showdown Karlshorst: Wer schneller rennt, ist früher tot.
Ein Rennbahnspektakel von glanz&krawall
Regie: Marielle Sterra, Dramaturgie: Dennis Depta, Bühne: Raissa Kankelfitz, Kostüme: Sophie Schliemann, Musik: Edgar Wiersocki, Sounddesign: Martin Lutz, Video: Micha Otto, Kamera: Lilith Kugler, Regieassistenz: Madeleine Behrendt
Mit: Dennis Depta, Edgar Wiersocki, Lisa Heinrici, Chrissi Hilkens, Manuela Langkowski, Rebecca Thoss, Martha Urbanek, Felix Witzlau
Alles Schall und Rauch
Babylon Orchestra feat. Wozzeck
Musik von Mischa Tangian und Motive von Alban Berg
Mit: Josefine Andronic (Violine), Stelina Apostolopoulou (Sopran), Valentina Bellanova (Ney, Blockflöten), Jörg Bücheler (Posaune), Deniz Mahir Kartal (Duduk, Kaval, Klarinette), Milad Khawam (Trompete), Peter Kuhnsch (Percussion), Valentin Link (Kontrabass / MOOG Bass), Nils Marquardt (Posaune), Nanaco (E-Violine 5 string), Peter Somos (Drums), Mischa Tangian (Violine, Nord Piano, Laptop / Leitung), Enrico Wenzel (Bass-Gesang), Azin Zahedi (Santoor / Querflöte), Alaa Zouiten (Oud)
Das Brandzeichen des astronomischen Pferdes: Eine Show von echten Männern
Konzept: Rumpel Pumpel Theater
Mit: Franziska Bald (Produktionsleitung), Kristin Buddenberg (Bühnenbild), Anne Eigner (Kostüme), Simon Hegenberg (Sound), Johannes Lange (Schauspiel), Pirmin Sedlmeir (Songtexte), David Simon (Schauspiel)
Weitere Beiträge von Lauratibor, 21Downbeat u.a.
Premiere am 25. August 2023
Dauer: 4 Stunden
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Diese hier https://berlinisnotberlin.de/ sollte funktionieren ...
Herzlichst ...
(Danke, Eric, ist korrigiert! Elena Philipp @Red)