Fiddler! A Musical - HAU Berlin
Tacheles spielen
14. Dezember 2023. Wer eine Neufassung von "Anatevka" erwartet, ist hier falsch. Ariel Efraim Ashbel und seine Freunde wollten mit "Fiddler! A Musical" in einer Art Nummernrevue ihr zehnjähriges Bestehen als Künstlerkollektiv feiern – doch der 7. Oktober machte alles anders. Nun wird am Ende des Stücks zusammengepackt.
Von Frauke Adrians
14. Dezember 2023. Da fiedelt doch einer. Enervierende Arpeggios und Flageoletttöne füllen das Foyer; ein einsamer Fiddler – kein gutes Zeichen, wie wir aus Anatevka wissen. Gut drei Stunden später wird die Bühne leergeräumt sein, nicht mal ein Triangel bleibt zurück, zuletzt rollt der Pianist den Flügel raus. Der Fiddler auf dem Dach kündet von Vertreibung, im letzten Bild ist sie vollendet.
Dazwischen liegen drei Stunden – ja, was? Eine Loseblattsammlung zum Thema jüdische und jiddische Unterhaltungskultur? Ein Spaßprogramm für Eingeweihte? Fröhliches Stückwerk? Ein Musical, wie der Titel behauptet, ist das Ganze jedenfalls nicht. Nicht mal ein zusammenhängendes Stück, welcher Art auch immer. Und eine "berauschende Reise", wie der Ankündigungstext auf der Theaterwebsite verheißt, schon gar nicht. Aber "berauschende Reise" klingt ohnehin wie eine Formulierung, die aus der Zeit vor dem 7. Oktober übriggeblieben ist.
Dunkel überschattet
Von der "unfassbaren Brutalität in Israel und Palästina" seien sie erschüttert, schreiben Ariel Efraim Ashbel and friends, die mit "Fiddler! A Musical" ihr zehnjähriges Bestehen als Team und "transdisziplinäres" Künstlerkollektiv feiern. Die Massaker der Hamas in Israel und der Krieg im Gazastreifen haben dunkle Schatten auf diese Feier geworfen.
In dem lose gestrickten Programm sind sie zu spüren. Dabei enthält schon die Inspirationsquelle des Abends – das Musical "Anatevka", angesiedelt im zaristischen Russland – genug schreckliche Abgründe. Vom Holocaust gar nicht zu reden.
Und tatsächlich spricht "Fiddler!" nicht vom Holocaust. Er wird nicht erwähnt, nicht benannt. Ist nicht nötig, weiß ja jeder? Auf das Premierenpublikum trifft das sicherlich zu. Aber wenn man ein Programm über jüdische/jiddische Bühnenkunst in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts komponiert, muss man ihr brutales Ende dann nicht ausbuchstabieren – erst recht, wenn man sich so emphatisch an ein diverses, auch und gerade an ein junges und ein migrantisches Publikum richtet? Mindestens zu Beginn des 2. Aktes, in dem – interessanten, wenn auch maximal theaterfernen – bebilderten Kurzvortrag über "Anatevka" und seine Vorläufer und Verwandten im jiddischen Varieté und Vaudeville, wäre die Zeit dafür gewesen.
Musikalische Evergreens
Der erste Teil des Abends ist hemmungslos verspielt, geradezu albern. Das Ensemble fegt in schrillen Kostümen und Perücken über die Bühne, Zeit wird verplempert mit einer Hundetelepathie-Bühnennummer.
Eine queere schauspielende Person (Liz Rosenfeld) grölt sich artig durch den "Anatevka"-Evergreen "If I were a rich man" ("Wenn ich einmal reich wär'"; das Programm wird durchgehend auf Englisch gesprochen und gesungen). Teil 1 hat auch starke Momente – vor allem die von Efrat Aviv erzählte und anrührend gesungene Erinnerung an das nahezu vergessene jüdische Frauenfest Eid al Banat.
Verlorenes Vertrauen
Doch erst in der letzten halben Stunde kann "Fiddler!" wirklich fesseln. Da wird Tacheles gespielt, da ist das von Ethan Braun geleitete Streicherensemble "Kaleidoskop" dem Graben entstiegen, da schreit eine Sängerin in einer finsteren, rockigen Blues-Nummer wieder und wieder "We trusted you!" in den Saal – die Anklage könnte sich gegen die Regierung Netanjahu richten, aber ganz bestimmt gegen Deutschland mit seinem alten und neuen Antisemitismus.
Der Abend klingt mit einem "Gotham Lullaby" seinem Ende entgegen: Zu einer tröstlichen Klaviermusik umarmen die Darsteller einander. Zum Abschied. Denn in der Schlussszene wird gepackt und aufgegeben. Das Schtetl Anatevka ist nicht mehr.
Fiddler! A Musical
von Ariel Efraim Ashbel und Friends
Künstlerische Leitung: Ariel Efraim Ashbel, Musikalische Leitung & Komposition: Ethan Braun, Bühnenbild: Alona Rodeh, Lichtdesign: Joseph Wegman, Kostümdesign: Marquet K. Lee, Recherche & Konzept: Romm Lewkowicz.
Von und mit: Efrat Aviv, Jessica Gadani, Leah Katz, mma Kgosi, Peaches, Perel, Liz Rosenfeld, Tamara Saphir, Tatiana Saphir, Sarah Thom; Orchester: Solistenensemble Kaleidoskop.
Premiere am 13. Dezember 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.hebbel-am-ufer.de
Das Musical ist das ästhetische Sprungbrett, von dem aus die Reise durch die jüdische Performance-Kunst beginne, so Barbara Behrendt im rbb (14.12.2023). Das Ganze reibe sich stark am Begriff der Tradition: "Jüdische Tradition, was ist das? Was davon kann weg? Was ist Kitsch und Folklore? Was sind Rituale, die auch Identität stiften." Ariel Efraim Ashbel suche nach dem, was jüdische Kunst und das Jüdischsein ausmache und was es heute sein könnte. Eine ziemlich zusammengewürfelte Collage sei das Ergebnis, eine "Zitatensammlung, die aber doch in Nummern zerfalle". Bei der Erzählung über das Versöhnungsfest spüre man, dass Ashbel auch einen Raum der Trauer und des Trostes öffnen wolle. Die stärkste Szene sei am Ende die Performerin, die in einer Punk-Nummer singt "We trusted you" und sich alle auf der Bühne umarmen. Das sei aber doch zuwenig, im Vergleich überzeuge Yael Ronens auch vom 7. Oktober beeinflusstes "Bucket List" mehr.
Bis zur Pause habe ihn der Abend verärgert zurückgelassen, so Eberhard Spreng im DLF Fazit Kultur vom Tage (13.12.2023). Im zweiten Teil kommen sehr viel dichtere Bilder, man sei plötzlich wie in einem Broadway-Studio und erlebe, wie Musik hergestellt werde. Musikgeschichte werde erzählt, "das ist wunderschön und könnte länger dauern". Mit schönen einzelnen Bildern schließe der Abend, mit Bildern der Versöhnung.
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Es zeugt von der absoluten Vermessenheit der Autorin, dass einer ihrer zentralen Einwände gegen den Abend die fehlende explizite Thematisierung des Holocausts ist.
Jüdische Menschen müssen ihre Vernichtung auf der Bühne zur Schau stellen, damit ihre Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur als legitim anerkannt wird?
Das Problem ist doch genau das, was Ariel Efraim Ashbel sagt: In Deutschland wissen wir viel über jüdischen Tod, aber wenig über jüdisches Leben. Die Rezension belegt es: Eine Auseinandersetzung mit jüdischer Kulturgeschichte wird nicht als erfolgreich anerkannt, wenn sie nicht auch ihr brutales Ende mit thematisiert.
Und dazu noch der Seitenhieb auf das „junge, diverse, migrantische“ Publikum, das noch nie vom Holocaust gehört haben soll - absolut schamlos und daneben.
https://www.tagesspiegel.de/kultur/israelischer-kunstler-ariel-efraim-ashbel-in-deutschland-weiss-man-viel-uber-judisches-sterben-aber-wenig-uber-judisches-leben-9145782.html
Ich bezweifle, dass „wir in Deutschland“ so viel wissen über jüdischen Tod wie auch über jüdisches Leben. Dieses Wissen nimmt bei nichtjüdischen Deutschen offenkundig ab; wie sonst wären z. B. die als „Protest gegen Kolonisierung“ und „Unterstützung für Palästina“ stilisierten antisemitischen Ausfälle von UdK- und FU-Studierenden möglich? Und da muss ich von demonstrierenden Hamas-Fans in Neukölln, Düsseldorf, Essen und anderswo gar nicht erst reden. Ich nehme an, sowohl die Studierenden als auch die arabischen Migranten wissen vom Holocaust, wie sie auch vom 7. Oktober wissen. Und trotzdem verhalten sie sich so entsetzlich. Daran zu erinnern, ist weder schamlos noch daneben.
2) Interessanterweise kommt in der Replik der Kritikerin die AfD - oder allgemeiner: die deutsche Rechte - gar nicht vor. Antisemitismus ist in dieser Darstellung mal wieder rein ein Problem "arabischer Migranten" und von "Studierenden".