Ein Volksbürger - Haus der Bundespressekonferenz Berlin
Der Aufhaltsame
28. September 2024. Das Haus der Bundespressekonferez im Berliner Regierungsviertel wird zur Feier seines 75-jährigen Bestehens zur Bühne für das Musiktheater-Kollektiv Nico and the Navigators. Und die haben einen Theater-Star im Gepäck: Fabian Hinrichs spielt einen Volkstribun, der längst seine weit weniger amüsante Entsprechung in der Wirklichkeit hat.
Von Frauke Adrians
27. September 2024. Das ist ja alles irre, sagt Mathis Feldhoff, Chef der Bundespressekonferenz. Das denke ich nicht nur heute Abend, erwidert Stückautor Maximilian Steinbeis nach der Premiere. So klingt es, wenn die Wirklichkeit die Fiktion überholt, wenn das Theater nicht mehr mitkommt. Der Alterspräsident eines Landtags ignoriert Geschäftsordnung und Abgeordnetenrechte, kostet im Auftrag seines rechtsextremen Parteichefs seinen Hindenburg-Moment aus, bis das Ganze vorm Landesverfassungsgericht landet.
Realität schlägt Fiktion
In einem anderen Freistaat verwehrt die neue Landesregierung Flüchtlingen sämtliche Rechte und verweigert sich jeder Prüfung durch Bundesbehörden, bis Berlin zur Wiederherstellung verfassungsmäßiger Verhältnisse das noch nie angewendete Mittel des "Bundeszwangs" ergreift; die Regierungssprecherin dementiert, dass es im Freistaat zu bürgerkriegsartigen Szenen komme. Welches der beiden Szenarien ist Realität, welches hat sich ein fantasiebegabter Autor bloß ausgedacht? Und wie weit ist die Fiktion von der Realität entfernt?
Gar nicht weit – das bezeugt Maximilian Steinbeis. Als Jurist, Journalist und Gründer des "Verfassungsblogs" hat er in seinem "Thüringen-Projekt" durchgespielt, was wäre, wenn. Das, was die AfD am 26. September im Thüringer Landtag inszeniert hat, konnte ihn nicht überraschen. Es ließ sich – das machte er im Gespräch mit Mathis Feldhoff klar – voraussehen, sofern man sich fragte, was passiert, wenn eine mächtige Partei alle parlamentarischen und rechtlichen Normen verlässt. "Damit lässt sich eine Menge Missbrauch betreiben."
Fortwährende Pressekonferenz
Das Stück "Ein Volksbürger", eine Weiterentwicklung von Steinbeis‘ fünf Jahre altem Text "Ein Volkskanzler", ist bei aller Ernsthaftigkeit des Themas auch eine Farce. Das Publikum erlebt in Nicola Hümpels Inszenierung über zwei Stunden eine fortwährende Pressekonferenz mit wechselndem Personal – vom biederrassistischen Landrat ("Verstehen Sie mich nicht falsch, wir haben nichts gegen Ausländer") bis zum besorgten NGO-Sprecher. Fabian Hinrichs brilliert in der Rolle des freistaatlichen Alleinherrschers Dominik Arndt, der das Parteikürzel seiner "Demokratischen Allianz" den eigenen Initialen abgeformt hat, mit Haifisch-Charme und nimmerversiegendem Redeschwall. Als geschickter Populist changiert der egomanische "DA"-Chef zwischen Biederkeit und unverhohlener Drohung, seine Spezialität ist die unterschwellige Aggressivität; meisterhaft, wie er durch Ausbooten der Pressekonferenz-Chefin (Klara Pfeiffer) die Machtergreifung schon mal in der BPK übt – für später.
Während die fragenstellenden und zwischenrufenden Journalisten im Saal Klischeefiguren bleiben, überzeugt Annedore Kleist als Regierungssprecherin, die sich im Zweifel auf Stanzen zurückzieht und die eigene Hilflosigkeit mit süffisantem Lächeln zu kaschieren versucht. Einen schönen Gastauftritt als Theo Koll hat Theo Koll; interessanterweise strahlt er in seiner Eigenrolle mehr Ernsthaftigkeit aus als im Korrespondentenalltag. Mag sein, dass unter dem Druck jüngster Landtags-Wahlergebnisse selbst einem langgedienten ZDF-Anchorman das Augenzwinkern vergeht.
Schrecklich lächerlich
Tröstlich geradezu, dass sich der Aufstieg des Diktators zumindest in diesem Stück als aufhaltsam erweist: Dominik Arndt flieht in "ein Land, wo die Zitronen blühen" und zitiert von dort aus in erwartbarem Größenwahn nicht nur Goethe, sondern auch Kant. Dass sein Pathos dem von Björn Höcke ähnelt, ist keineswegs rein zufällig. Und wenn er am Ende Puccinis "Nessun dorma" kräht – vincero, vincero-ho! -, bleibt die Hoffnung, dass er irrt: Diese schrecklich lächerliche Gestalt wird nicht siegen.
Oder doch? Wer weiß das schon – nach dem 26. September in Erfurt.
Ein Volksbürger
von Maximilian Steinbeis (Idee und Text) und Nico and the Navigators
Regie und künstlerische Leitung: Nicola Hümpel, Dramaturgie: Andreas Hillger, Raumkonzept und technische Leitung: Oliver Proske, Tontechnik und Soundeffekte: Sebastian Reuter, Licht: Torsten Podraza, Kostüme: Belinda Masur, Piano: Matan Porat, Schlagzeug: Lucas Johnson, Trompete: Paul Hübner.
Mit: Fabian Hinrichs, Martin Buczko, Ekaterina Bazhanova, Martin Clausen, Morgane Ferru, Annedore Kleist, Stefan Merki, Antonia Mohr, Klara Pfeiffer, Patric Schott, Ted Schmitz, Frederik Schmid, Matthias Zera, Theo Koll.
Uraufführung am 27. September 2024
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
www.navigators.de
Kritikenrundschau
Der Abend sei schon ein bisschen erwartbar, dennoch sei das Gedankenspiel des Textes schon sehr interessant, so Tobi Müller auf Deutschlandfunk Kultur (27.9.2024). Der künstlerische Höhepunkt sei die Arie am Ende, "alles andere wurde leider mittler-weile von der Realität eingeholt".
"Die Inszenierung von Nicola Hümpel und der Gruppe "Nico and the Navigators" legt Wert darauf, ein realistisches Szenario darzustellen – inklusive Namensschilder und Wasserflaschen für die Gesprächspartner. Trotzdem spielt der Abend auch mit der politischen Farce, Fabian Hinrichs überzeichnet und ironisiert – was dem zweistündigen Spiel durchaus guttut", so Barbara Behrendt vom RBB (28.9.2024). "Ein Theaterabend, der weniger im Dienst der Kunst steht als im Dienste der politischen Aufklärung - wogegen nichts zu sagen ist. Dass sein Inhalt weniger wachzurütteln vermag, als er beabsichtigt, liegt schlicht daran, dass die Realität noch gruseliger ist als die Fiktion."
"Fabian Hinrichs spielt den Ministerpräsidenten hingebungsvoll und authentisch. Er schafft es, die ambivalente Ausstrahlung solcher Personen zu imitieren, die sich sympathisch und nahbar präsentieren, um ihre eigentlichen Absichten zu kaschieren", so Kira Fasbender von der Berliner Zeitung (28.9.2024). "Weniger überzeugend sind manche Fragen der Journalisten, die sich sehr nach Theatersprache anhören."
"Ein Volksbürger" versuche, mit maximal authentischer Simulation das Szenario durchzuspielen, dass eine Partei an die Macht kommt, die den Rechtsstaat verachtet, so Eva Marburg im Freitag (30.9.2024). "Tatsächlich ist der Abend ein gelungenes Beispiel von Aufklärungstheater im besten Sinne." Und er sende auch eine beruhigende Botschaft: "keine Angst, es gibt Mittel und Wege, die der Rechtsstaat besitzt, um sich zu schützen."
"Fabian Hinrichs spielt diesen Machtmann eher als impliziten Usurpator", so Simon Strauß in der FAZ (1.10.2024). Um das Adjektiv "demokratisch" gehe es im Verlauf dieses Theaterstücks, "das erst etwas schirachhaft daherkommt, aber dann für den staatsrechtlichen Laien doch interessante Antworten gibt auf die gerade überall debattierte Frage: 'Was, wenn die Populisten an die Macht kommen?'" Der Abend stelle nicht nur eigene Vorurteile in den Raum, sondern buchstabiere aus, welche Eskalation möglich wäre, und "Nico and the Navigators und Fabian Hinrichs präsentieren einen politischen Nachhilfeabend in Sachen Demokratiegefährdung".
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Der Populist Dominik Arndt radelt breitem, schmierigem, selbstgefälligem Grinsen zur Pressekonferenz nach seinem Wahlsieg im Freistaat. Er gibt sich im Interview mit Ex-ZDF-Hauptstadtstudio-Chef Theo Koll als Versöhner und Zentrist, spießt all die Alltagsprobleme auf, die jeder von uns kennt: die schleppende Digitalisierung, die Funklöcher im Netz und die Papierflut der Ämter, wenn man überhaupt einen Termin ergattert. Doch hinter der lächelnden Fassade setzt er einen Kurswechsel in der Migrationspolitik um. Eine engagierte Journalistin (Morgane Ferru) stellt mehrfach Nachfragen, da sie hinter einer bedenklichen Häufung vermeintlicher Einzelfälle ein Muster entdeckt hat, wie die populistische Regierung Standards schleift.
Im Lauf eines Jahres tritt Arndt alias Hinrichs immer wieder vor die Pressekonferenz und lässt alle Kritik wie Teflon an sich abprallen, teilweise sekundiert von einem hemdsärmeligen Landrat, der die Integrations-Nöte vor Ort schildert (gespielt von Stefan Merki aus dem Ensemble der Münchner Kammerspiele, wohin diese Vorstellung auch live gestreamt wurde). Verwaltungsgerichtsurteile ignoriert er und macht sich einen Spaß daraus, die Vorsitzende der Pressekonferenz (Klara Pfeiffer) und die sich hinter Floskeln verschanzende, hilflos um Geduld werbende Sprecherin der Bundesregierung (Annedore Kleist) feixend vorzuführen.
Eine Lehre dieses Gedankenexperiments ist, wie hilf- und ratlos das Establishment wirkt, wenn sich Populisten grinsend über gewohnte Spielregeln hinwegsetzen. So interessant und diskussionswürdig das hier entwickelte Szenario ist, hat der Theaterabend doch eine entscheidende Schwäche: in den knapp zwei Stunden wiederholt sich zu oft ein hölzernes Frage- und Antwortspiel, gespickt mit juristischen Paragraphen. Der Volksbühnenstar Hinrichs darf als rhetorisch überlegener Volkstribun glänzen, die von Schauspieler*innen gespielten, im Publikum verteilten Journalist*innen sind meist nur Stichwortgeber. Ihren Fragen fehlt die Doppelbödigkeit und Raffinesse ausgebuffter BPK-Veteranen, die ihre Köder auslegen, in denen sich auch ein Medienprofi vom Schlage Dominik Arndts verfangen könnte.
Fragezeichen hinterlässt auch der Schluss: nach einem Jahr ist der Spuk vorbei, der „Volksbürger“ ist „ins Land, wo die Zitronen blühen“ geflohen. In einer letzten Videoschalte meldet er sich zu Wort, seine Rede trieft vor Goethe-Zitaten und Pathos, mündet in eine ironisch geschmetterte „Nessun dorma“-Arie: Ein Kabinettstückchen des Volksbühnenstars, aber diese Volte fügt sich nicht schlüssig in die bisherige Charakterisierung der Figur ein.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/09/29/ein-volksbuerger-bundespresskonferenz-kritik/