Ultima Ratio - Nicole Oder inszeniert eine reale Fluchtgeschichte als Graphic Novel am Heimathafen Neukölln
Mehr als nur Nacherzählung
von Leopold Lippert
Berlin, 18. April 2015. Zu Beginn sitzt A. am hinteren Bühnenrand mit Mikrophon, Spickzettel und Übersetzerin aus dem Off. A., der in der Inszenierung Rooble heißen wird, bittet um Asyl für sich und seine Frau Aliyah. Die Geschichte, die er erzählt, ist ihr gemeinsames Leben, die Flucht aus Somalia nach Deutschland, über die Sahara, Libyen, Lampedusa. Es ist ein wohlformulierter Text, vom Zettel abgelesen und ins Präteritum übersetzt, der das nicht Nachvollziehbare rationalisiert, von "verhältnismäßig leichten Verletzungen" spricht, und nüchtern davon berichtet, dass Rooble und Aliyah wochenlang "unter Obdachlosigkeit litten". Es ist ein Text, wie ihn der Verwaltungsapparat vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge offenbar gerne hört, ein Narrativ, das ein Leben voller Gewalt und Angst logisch, präzise und klar strukturiert erscheinen lässt.
Kirchenasyl in Neukölln
"Ultima Ratio" handelt von einem realen Fall, in dem die Abschiebung eines somalischen Ehepaars durch so beherztes wie rechtswidriges Kirchenasyl einer katholischen Gemeinde am Neuköllner Reuterplatz (vorerst) verhindert werden konnte. Doch Nicole Oders Inszenierung im Heimathafen Neukölln ist mehr als die simple Nacherzählung eines Textes, den "die Wirklichkeit geschrieben hat", wie das Programmheft vollmundig verkündet. Ihr gelingt das Kunststück, ein emotional berührendes "Schicksal" zu dramatisieren und zugleich auf die Unmöglichkeit jeder kohärenten biographischen Erzählung hinzuweisen, sei sie nun technisch-unterkühlt wie im Asylantrag, oder sentimental wie im Theater.
Während Roobles Auftritt auf die ersten fünf Minuten beschränkt bleibt, breiten in der folgenden Stunde ganz unterschiedliche Autoritäten ihre Narrative über der meist stummen Aliyah (Tanya Erartsin) aus, die in ihrem weiß-transparenten Ganzkörperanzug zwar immer auf der Bühne präsent ist, aber keine Stimme hat, die ihre eigene ist. Alle wollen sie ihr Leben erklären und dabei immer schon eine simple Bewertung vornehmen: Aufenthalt oder Abschiebung.
Schöne Verfremdungen
Da ist die Psychologin etwa, deren wortreiches Narrativ aus dem Off Aliyahs emotionalen Zustand konsequent im Konjunktiv wiedergibt und dabei nicht mit Details spart. "Im Alter von fünf Jahren sei sie beschnitten worden", wird aus dem Protokoll zitiert, "was sie als sehr schmerzhaft erinnere." Da ist die mechanisch scheppernde automatisierte Computerstimme, die das ohnehin schon schnoddrige Beamtendeutsch des Asylverfahrens nur noch weiter verfremdet: Im Schnelldurchlauf spult sie einen absurden biographischen 24-Fragenkatalog ab, mit dem möglichst effizient über die Glaubwürdigkeit des Asylantrags entschieden werden soll.
Da ist die beflissene Pastoralreferentin Lissy (auch Tanya Erartsin), die mit ihrem Zettelkatalog hauptsächlich pragmatisch sein will, und die Kirchengemeinde um Couches und Ausgehbegleitungen für die Asylbewerber bittet. Und da ist schließlich Oders Pop-Theater selbst, das der Verlegung von Rooble und Aliyah in ein Erstaufnahmezentrum in Eisenhüttenstadt mit ironischer Zitierfreudigkeit begegnet: "Es gibt Länder wo richtig was los ist. Und es gibt Brandenburg."
Schicksal in Bildern
Das in Echtzeit entstehende Bühnenbild visualisiert die Vielschichtigkeit der biographischen Konturierung auf verblüffend simple Weise: Bente Theuvsen sitzt an einem altmodischen Overhead-Projektor, der auf die Rückwand projiziert, was sie unentwegt zeichnet. Erst wird schwarz grundiert, dann kratzt sie weiße Linien heraus, die den Klecksen Struktur verleihen und allmählich Gestalten sichtbar werden lassen, Personen, Muster, Details.
Theuvsens "Live Graphic Novel" verwendet Motive, die immer wiederkehren: Frauenfiguren im Wind, mit wehenden Gewändern, eine kleine Siedlung mit einfachen Häusern, ein Baum mit weit ausladendem Blätterdach, Menschenmassen, die nur langsam zu Individuen werden, und die Schutz versprechenden, abgerundeten Fenster der Neuköllner St. Christophorus-Kirche.
Zitat my Valentine
Und schließlich pocht da ein riesiges rotes Herz auf der Overhead-Folie, einen herzzerreißenden Moment lang, als Symbol einer Liebe, für die Aliyah keine Sprache zur Verfügung steht. Zu Paul McCartneys "My Valentine" performt sie stattdessen wortlos Gesten der Zuneigung, Verbundenheit und Dankbarkeit, für Rooble und für die Menschen, die sie aufgenommen haben. Dass diese stumme Choreographie nicht unbedingt auf die Sprachlosigkeit einer Somalierin in Deutschland zurückzuführen ist, die ihre eigene Geschichte nicht verständlich machen kann, sondern bloß ein Musikvideo mit Johnny Depp und Natalie Portman zitiert, bleibt eine schöne Pointe, die den Abend auf wunderbar sentimentale Weise kitschfrei hält.
Ultima Ratio
Ein Kirchenasyl-Fall in Neukölln als Live Graphic Novel
Regie: Nicole Oder, Idee: Lucia Jay von Seldeneck, Bühne und Dramaturgie: Julia von Schacky, Kostüm und Bühnenbildassistenz: Anna Lechner.
Mit: Tanya Erartsin, Bente Theuvsen, Britta Steffenhagen, und A.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.heimathafen-neukoelln.de
Mit einfachsten Mitteln werde Aliyahs Geschichte anschaulich gemacht, berichtet Inga Barthels in der tageszeitung (20.4.2015): "weißes Studio, Overheadprojektor, Licht und Musik". "Ultima Ratio" sei eine Live-Graphic-Novel: "Die Zeichnerin Bente Theuvsen schafft während des Stückes immer wieder neue grafische Hintergründe für das eindrucksvolle, oft stumme Schauspiel von Tanya Erartsin. Dazu erzählt Britta Steffenhagen Aliyahs Geschichte aus dem Off."
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