Wirkt auch bei Verstopfung

3. März 2024. Da bleibt keine Schüssel trocken: Regisseur Oliver Frljić hat Lewis Carrolls Nonsens-Klassiker mit viel Gebrüll, Gewusel und fontänenartigen Darmentleerungen auf die Bühne gehievt und politisch aufgemotzt. Die Frage nach dem Warum: Nebensächlich. Ein k(l)olossales Missverständnis.

Von Vincent Koch

"Alice im Wunderland" am Maxim Gorki Theater, Berlin © David Baltzer

3. März 2024. Plötzlich hat der Herzkönig Durchfall. Er muss wirklich ganz dringend aufs Klo. Höchste Eisenbahn, sozusagen. Zum Glück schiebt jemand ein Klo auf die Bühne. Es hat die Form des Deutschen Bundestags – die Kuppel fungiert als Klodeckel. Endlich kann er seine blaue Schlüpper abstreifen und loslassen, auch wenn fast alles danebengeht – parallel läuft die Nationalhymne. 

Vollgesaut ist das Hinterteil, also muss als Toilettenpapier eine Deutschlandfahne herhalten. Der Inhalt der Kloschüssel wird vom restlichen Personal verspeist. Die Gesichter sagen: Schmeckt echt scheiße, was der Bundestag da an "politischem Durchfall" – wie es der König nennt – verzapft hat. Der geilt sich daran ganz schön auf, weshalb er sich erstmal um sein erigiertes Geschlechtsteil kümmern muss.

Geht's noch subtiler?

Klingt alles ein bisschen dämlich? Ein bisschen sehr? Nur leider exemplarisch für das Niveau von Oliver Frljićs "Alice im Wunderland"-Inszenierung, nach Lewis Carroll am Gorki. Zahlreiche Adaptionen des literarischen Nonsens-Klassikers sind seit dem Original 1865 erschienen. Es ist eigentlich die Geschichte des 7-jährigen Mädchens Alice, das in einen Kaninchenbau fällt, in einer Parallelwelt wiederauftaucht und dort auf die irrwitzigsten Gestalten trifft. Sie muss zahlreiche Missionen erfüllen und am Ende erkennen, dass alles nur ein Traum war. Bei Frljić bleibt davon neben den Figuren nicht viel übrig, außer ein paar Kostüme aus Samt. Und das ist auch echt das Einzige an diesem Abend, was man gern anschaut.

In Frljićs Adaption muss Alice eine Grenzmauer statt eines Kaninchenbaus überwinden und mit ihren Tränen für die Integration ins Wunderland bezahlen. Das Wunderland ist hier der reinste Albtraum: Welcome to Germany. Dafür steht dann allen Ernstes eine Mauer auf der Bühne, auf die auch noch ein SPIEGEL-Cover mit der Aufschrift "Wir schaffen das" projiziert wird. Im Albtraum-Deutschland liegen dann Dutzende Luftballons (Schwarz! Rot!! Gold!!!) auf dem Bühnenboden herum. Was für ein Bild: so schnell kann der Traum also platzen. Geht's noch subtiler?

Es wird gewuselt

Die beiden Könige sind krasse Demagogen, die alles und jeden mit Füßen treten und auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. Was man nicht erfährt: warum sie so geworden sind und wer sie an die Macht gebracht hat. Die differenzierten Fragen, die dieser Fassung ein bisschen Gehalt gegeben hätten, werden erst gar nicht gestellt. Der König tänzelt lieber nackt übers Parkett.

Aleksandar Radenković, Aram Tafreshian, Çiğdem Teke in Alice im WunderlandEIN PROJEKT VONOliver FrljićNACHLewis CarrollREGIEOliver FrljićEIN PROJEKT VONOliver FrljićNACHLewis CarrollREGIEOliver FrljićEIN PROJEKT VONOliver FrljićNACHLewis CarrollREGIEOliver FrljićBÜHNEIgor PauškaKOSTÜMEJelena Miletić, Janja ValjarevićCHOREOGRAFIEEvelin FacchiniLICHTDESIGNConnor DreibelbisDRAMATURGIEJohannes Kirsten, Endre Malcolm HoléczyNoch etwas lauter, bitte: Aleksandar Radenković, Aram Tafreshian, Çiğdem Teke © Ute Langkafel / MAIFOTO

Warum auch nicht, Oliver Frljić interessiert sich eh nur für die Performance: auch an diesem Abend setzt er ab Minute eins auf das Größte, Lauteste, Ekligste. Ein plakatives Mittel jagt das andere. In einem Affentempo peitscht er das Ensemble durch den Text. Als würde er seiner eigenen Adaption nicht vertrauen, lässt er unzählige Repliken von der Rampe brüllen oder körperlich überhöhen. Es ist ein einziges Gewusel auf der merkwürdig leeren Bühne, das nie einen Rhythmus findet oder eine Szene dramaturgisch klug etabliert. Mal tanzt das Ensemble zu Abba, dann wieder Tango, die Königin nimmt auch mal ein Schaumbad und Nebel wabert sowieso die ganze Zeit durch das knallbunte Lichtdesign.

Gelöffelter Diskurs-Pudding

Das ist alles nicht nur ungeheuer langweilig, sondern ergibt auch inhaltlich keinen Sinn. Neben all den sinnlosen Aktionen löffeln die Figuren noch ein bisschen was aus dem Diskurs-Pudding der letzten Jahre: bisschen Klimakrise, bisschen selbstreferenzielle Kunstkritik, eine Prise Boomer-Bashing darf auch nicht fehlen. Aram Tafreshians Herzkönig würde gerne die Fortpflanzung stoppen und Kinder umbringen, weil er sie sinnlos für die Gesellschaft findet. Und Çiğdem Tekes Anlage der Königin scheint daraus zu bestehen, möglichst oft "Kopf ab!" zu sagen. Und wenn es mal wirklich um was geht, muss wieder jemand auf Toilette. Und dann zerfasern die Szenen schneller, als Tafreshians König "Durchfall" sagen kann. Figurenentwicklung adé!

Dass dem Abend innovative Gedanken fehlen, liegt schlichtweg daran, dass er thematisch maßlos überfrachtet ist und keinen klaren Fokus findet. Was sollen Aussagen wie: Die Politik ist schlecht, also schaffen wir den Bundestag ab. Kinder nerven, also auch weg damit. Wo ist da irgendein greifbarer Gedanke für die Zukunft? Sind die alle spielerisch so überzeichnet, weil Alice noch ein Kind ist und der Abend aus den Augen einer 7-jährigen erzählt wird? Das Stück schließt immerhin mit Alice, die selbst zur Tyrannin wird und die anderen hinter der Mauer zurücklässt. Trägt der Populismus der Herrschenden hier seine Früchte? Das wäre doch mal eine mögliche Frage für die Inszenierung gewesen. Was bleibt, ist ein sehr ernüchternder Abend, der plakativer nicht hätte sein können.

 

Alice im Wunderland
nach Lewis Carroll
Regie: Oliver Frljić, Bühne: Igor Pauška, Kostüme: Jelena Miletić, Janja Valjarević, Choreographie: Evelin Facchini, Lichtdesign: Connor Dreibelbis, Dramaturgie: Johannes Kirsten, Endre Malcolm Holéczy.
Mit: Çiğdem Teke, Via Jikeli, Aleksandar Radenković, David Rothe, Aram Tafreshian.
Premiere am 2. März 2024
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Nachdem seine Inszenierungen zuletzt "eher brav" ausfielen, haue Regisseur Oliver Frljić hier "wieder einmal genüsslich auf die Kacke – im Wortsinn", berichtet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (3.3.2024). "Schrill, laut und schnell hetzen alle fünf Spieler durch dies Land der Eitelkeiten, Selbstzensur und falschen Behauptungen, was szenisch swingt, textlich aber im agitativ Seichten versinkt."

"In diesem grob geschnitzten Kasperle-Theater mit Zeigefingeralarm können nicht mal die Schauspieler etwas reißen", stöhnt Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (3.3.2024) auf. Oliver Frljić sei am Gorki Theater zu einer "Art Hofnarr im öffentlichen Dienst geworden. Zwar versucht er weiterhin, uns die Leviten zu lesen. Nur fehlen ihm dafür erzählerische Strategien und Bilder, was 'Alice' erneut illustriert."

"Frljićs theatrale Mittel gleichen einer Brechtstange", sagt Barbara Behrendt im Deutschlandfunk (3.3.2024). "In den vergangenen Jahren wollte er mit einer Gorki-Theater mit einer Kriegstrilogie provozieren, brachte aber nur brachiale Bilder und flache Gesellschaftsanalysen auf die Bühne. Nicht anders ist es diesmal. Man könnte es für ein Missverständnis halten, wäre es nicht der künstlerische Ko-Leiter des Theaters, der hier sein eigenes Niveau unterläuft."

"Am eigentlich meistens hellwachen Maxim-Gorki-Theater darf man dem kroatischen Haudrauf-Regisseur Oliver Frljić dabei zusehen, wie er nostalgisch die Freuden des guten alten Pipi-Kacka-Theaters abfeiert", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (4.3.24). Einen "Höhe- oder Tiefpunkt" erreiche "die schwer regressive Show, wenn sich ein bedauernswerter Schauspieler über einem hübschen Modell des Reichstags entleeren" müsse. Fazit: "Arg schlichtes, schlechtes Theater: von der Analphase zur Banalphrase", so der Kritiker.

 

Kommentare  
Alice im Wunderland, Berlin: Genauso war es
Liest sich übertrieben, aber genauso war es leider! Knapp zwei Stunden hangelt sich das Ensemble durch zentrale Passagen des berühmten Romans ohne dramaturgische Akzente.

In hohem Tempo und starker Überzeichnung geht das Ensemble diese Szenen an. Doch es will sich kein Sog einstellen: das Timing passt nicht, die Pointen sind oft zu grobschlächtig und klamaukig, gleiten sogar in den Fäkalhumor ab, als Tafreshian einen Durchfall simuliert und alle anderen die Suppe auslöffeln.

Der Abend funktioniert als launige Adaption eines Literaturklassikers über weite Strecken nicht und endet mit einem Holzhammer-Polittheater-Nachklapp. Besonders schade ist, dass Frljić für diesen enttäuschenden Abend ein hochkarätiges Ensemble zur Verfügung hatte, mit dem er zu wenig anzufangen wusste: Aram Tafreshian, der sich ein zweites Standbein als Regisseur aufbaute, war zum ersten Mal seit seinem Ausscheiden aus dem Gorki-Ensemble 2020 in einer neuen Produktion zu sehen. Noch länger musste man auf Aleksandar Radenković warten, der legendäre Gorki-Produktionen wie Falk Richters „Small Town Boy“ in den ersten Jahren von Shermin Langhoffs Intendanz (2013 – 2016) prägte, als Gast kam außerdem Elias Arens dazu, der während der gesamten Ära von Uli Khuon (2009-2023) am benachbarten Deutschen Theater engagiert war.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/03/02/alice-im-wunderland-gorki-theater-kritik/
Alice im Wunderland, Berlin: Behauptungsorgie
(...) Nein, Subtilität war Frljićs Sache noch nie und an diesem Abend dreht er genüsslich jede Schraube zu weit und gefällt sich in lustvoll überzogener Plakativität.

Das macht durch aus Spaß – bis zu dem Punkt, an dem die Zuschauenden beginnen sich zu fragen, was uns das sagen will. Ein grelles Zerrbild einer im Würgegriff des Populismus gefangenen panischen Gesellschaft, in der Angst schnell in Gewalt umschlägt, klar. Aber das ist schnell skizziert und bleibt ohne Unterfütterung. Stattdessen eilt Frljić von Effekt zu Effekt, von einem Diskursfetzen zum nächsten und erlaubt keinem Gedanken in all dieser Atemlosigkeit, Fuß zu fassen. Ansätze politischer Debatten werden schnell abgewügt durch grelle satirische Überzeichnungen, sodass selbst Alices finaler schwenk zur Nachwuchsdiktatorin weitgehend untergeht. Wenn es Oliver Frljićs Intention war, der wohlstandsverwahrlosten wehrlosen Demokratie dieses Landes den Speiegel vorzuhalten, dann verstellt er diesen viel zu sehr mit allerlei Schauwerten, sodass sich schnell gar nichts erkennen lässt.

Frljićs Brachialtheater kann in seinen besten Momenten heilsame und augenöffnende Schocks auslösen, Lügen und Verdrängungsmechanismen offenlegen, selbst im Lachen unerträglich wehtun und Herrschaftsstrukturen so aufrütteln, dass sie sich zur Wehr setzen müssen. Hier ist alles zu klar, zu einfach, zu konsensfähig, fehlt seinem Theater die Reibung. Ein Kontext, der von Kunst- und Meinungsfreiheit ausgeht und auf Zensur verzichtet, nimmt diesem Theater die Gegnerschaft, die es braucht, um zu wirken. Atemlos sucht dieser Abend solche Gegner, jagt nach Reibungspunkten und findet keine. So zerfasert der Abend zunehmend in ein hochfrequentes Nichts, einen oberflächlichen Spaß, eine Behauptungsorgie, hinter der die Langeweile gähnt. Politischer Durchfall, wie es zu den königlichen Fäkal-Ideenkaskaden einmal heißt. Der aber doch mehr Spaß macht, als er es eigentlich sollte.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2024/03/10/politischer-durchfall/
Alice im Wunderland, Berlin: Lewis Carroll
vom 17.juli 1867 morgens 8 uhr bis zum 22.juli 1867 abends 22 uhr weilte der Autor von ALICE IM WUNDERLAND Lewis Carroll in Berlin. Er sah die Reiterstatue Friedrich des Großen, welche nicht weit entfernt vom Gorkitheater noch heute zu finden ist und er war in der Nikolaikirche und er besuchte die Jüdische Synagoge in der Oranienburger Straße am 20.juli 1867 und erlebte einen Gottesdienst auf dem deutsch vorgelesen und hebräisch gesungen wurde. Und er beschreibt in seinen "Tagebuch einer Reise nach Rußland im Jahr 1867" ausführlich diesen Gottesdienst und die räumliche Gestaltung der Synagoge.
Kommentar schreiben