Pulverisierte Menschlichkeit

15. Januar 2023. Dieses "Amerika" kann einen schon außer Atem bringen: Kafkas Protagonist Karl Roßmann rast hier durch eine schnellschnittige Bühnenversion des Romans. Regiealtmeister Sebastian Baumgarten hetzt ihn zusammen mit einem Hochleistungsensemble, die Theatermaschine läuft hochtourig. Erlösung in Sicht?

Von Janis El-Bira

"Amerika" von Franz Kafka in der Regie von Sebastian Baumgarten @ Ute Langkafel MAIFOTO

15. Januar 2023. Am liebsten würde man diesem Karl Roßmann selbst das Rückfahrticket in die Hand drücken. Ihm, der sich so rührend um seine Mitreisenden bemüht im Bauch jenes gespenstischen Dampfers, der ihn nach New York getragen hat, weil er daheim ein Dienstmädchen schwängerte. Der in den Straßen der Neuen Welt unterzugehen droht, später in einem Hotel die Drecksarbeit macht und irgendwann vom mysteriösen "Naturtheater von Oklahoma" aufgelesen wird, mit Fängen so lockend, wie nur der Tod sie ausstreckt. Karl Roßmann – man ahnt es schon auf den ersten Seiten des "Amerika"-Romans – hätte umkehren müssen. Und zwar sofort.

Die Uhr im Nacken

In Sebastian Baumgartens Kafka-Zubereitung am Gorki-Theater müsste man sich mit der Fahrscheinübergabe allerdings beeilen. Sonst würde er einem wohl einfach ausbüxen, dieser andere Kafka-K. Wie das Große Weiße Kaninchen aus "Alice im Wunderland", das stets die Uhr im Nacken hat und immer sofort wegwegweg muss, schießen Karl Roßmann und seine Wiedergänger und Widersacher aus dem Bühnenboden, hetzen unter unaufhörlichen Wortkaskaden von dannen und wirbeln zu Soundeffekten vom Band den Staub aus ihren aschgrauen Bürouniformen. Gelegentlich hat die Platte einen Sprung, dann werfen sie wie vom Schlag getroffen die Hände empor, drehen sich um die eigene Achse – und rasen weiter. Till Wonka darf als Herr Pollunder nach bester Boulevard-Manier ausgelassen berlinern, Emre Aksızoğlu rauscht zwischendrin an der langen Leine eines Festnetztelefons von links durch eine Saloon-Tür herein.

Amerika2 05A3339 Ute Langkafel MAIFOTO...dann rasen sie weiter: Emre Aksızoğlu, Kenda Hmeidan © Ute Langkafel MAIFOTO

Die Kafka-Welt als schwarzer Komödienstadl – man kennt das, spätestens seit Andreas Kriegenburg in seiner Münchner "Prozess"-Inszenierung vor nun auch schon wieder 15 Jahren den berühmteren K. als kaleidoskopierten Buster-Keaton-Abklatsch mit zahllosen Doppelgängern auf die Bühne schickte. Mit Baumgartens schnellschnittigem Schlagzeilentheater allerdings werden die Zahnräder der großen Entmenschlichungsmaschine endgültig zum Glühen gebracht. Immerzu flimmert, knallt und scheppert es. Live geschossene Fotografien des Ensembles erscheinen abwechselnd mit Filminstallationen am rechten Bühnenrand, die Drehbühne versammelt – als herbeizitierte Amerika-Dingsymbole – Kakteen, einen begehbaren Nike-Turnschuh nebst riesigem zerknautschtem Cola-Becher sowie einen stählernen Goodyear-Reifen. Amerika wie durch das Fernrohr betrachtet. Scharfstellen überflüssig.

Auf dem Weg ins Nichts

Konsequent pulverisiert Baumgartens Show jeden Rest von Individualität und Menschlichkeit. Das "Amerika"-Fragment versteht er als Anti-Bildungsroman auf dem Weg ins Nichts, als minutiöse Zerreibung des Ichs an der Maschinenmoderne. Der französische Philosoph Jean Baudrillard wird dafür gleich zu Anfang von Falilou Seck an der Rampe bemüht mit einer Passage über die Analyse als Auflösung und die Verflüchtigung des Realen im Begriff. Das ist natürlich nah an Kafka, bei dem alles aufgetürmte Gerät, all jene Mandats- und Titelträger den Protagonisten regelmäßig den Weg zu einem irgendwie authentischen Weltbezug verstellen. Hinter jeder Ecke lauert so bloß noch ein weiterer, finsterer Scherz.

Strampeln in den Schaukästen

Kafkas Sprache jedoch verweigert sich schon immer den Generalinterpretationen. Auch der "Amerika"-Roman mag ein Text über die Raserei der Moderne sein. Er ist aber selbst kein rasender Text. Mit seinen eigenwilligen Zartheiten, der fast erotisch schillernden Zugewandtheit Karls gegenüber dem Schiffsheizer etwa, will Baumgartens Zugriff rein gar nichts zu tun haben. Tempo halten, verlangt das Konzept.

Aber wo die Kafka-Sprache derart unterschiedslos sprudelt, da scheint auch das Ensemble bald schon nicht mehr recht zu wissen, wo es mit seinen zehrenden Intensitätsbemühungen überhaupt hinwill und soll. Und weil gleichzeitig die Einheit des Romans samt der klassischerweise hinzugenommenen Kapitel über die Sängerin Brunelda und das "Naturtheater von Oklahoma" weitgehend unangetastet bleibt, stellt sich schnell der Eindruck ein, das alte Regietheater feiere hier mit allen bekannten Würzmischungen im Gepäck noch einmal fröhliche Urständ'. Etwas seltsam Museales liegt über diesem Abend. Und es liegt schwer, weil alle Strampelei die Schaukästen nicht zum Brechen bringt, wenn selbst bei einem Hochleistungsensemble wie diesem Arbeit als Arbeit sichtbar wird.

Amerika 05A3346 Ute Langkafel MAIFOTOSchwer arbeitendes Hochleistungsensemble © Ute Langkafel MAIFOTO

Womöglich gehört der gelegentliche Ausschlag ins Biedere aber auch einfach zu den Begleiterscheinungen der aktuellen Gorki-Häutung zum Volkstheater für ein neu und anders formiertes Bildungsbürgertum. Die Intendantin jedenfalls entlässt das Publikum am Ende des Abends noch mit einer Wahlempfehlung für die im Februar anstehende Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus auf die Premierenparty. Was für ein Service.

Amerika
Von Franz Kafka
Bühnenfassung mit Auszügen aus "Amerika" von Jean Baudrillard und weiteren Texten von Franz Kafka
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Barbara Steiner, Kostüme: Christina Schmitt, Sounddesign: Marc Sinan Company – Ilija Djordjevic, Karsten Lipp, Komposition: Marc Sinan, Live-Fotografie: Marcel Urlaub, Dramaturgie: Holger Kuhla.
Mit: Emre Aksızoğlu, Yanina Cerón, Tim Freudensprung, Kenda Hmeidan, Kinan Hmeidan, Falilou Seck, Till Wonka.
Premiere am 14. Januar 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.gorki.de 

Kritikenrundschau

"Weil das halbherzige Hin und Her und all die Slapstick-Mätzchen so seltsam gestrig wirken, helfen sie auch nicht dabei, den Text in die Gegenwart zu überführen", urteilt Fabian Wallmeier auf rrb24 (15.1.2023). Auch technisch ließe die Inszenierung mitunter zu wünschen übrig: Oft sei gar nicht klar, wer grade spreche. Dies dürfte aber kein inszenatorischer Kniff, sondern schlicht den Microports geschuldet sein, die alle tragen, meint der Kritiker. "Wenn nicht gerade Falilou Secks durchdringender Bass durch den Zuschauerraum grollt, schallt alles gleichförmig aus den Boxen, keiner sprechenden Person auf der Bühne ist mehr rein klangräumlich zuzuordnen, wenn nicht gerade frontal von der Rampe gesprochen wird." Insgesamt bleibe die Inszenierung "größtenteils beim hektisch-fröhlichen Treiben, das vor 20 Jahren in irgendeinem abgelegenen Stadttheater vermutlich nicht anders ausgesehen hätte als 2023 in Berlin", resümiert Wallmeier. "So bleibt der Abend eine unerwartet brave Literaturklassiker-Adaption."

Eine "anstrengende und zugleich kurzweilige Zweistunden-Inszenierung", hat Kritiker Ulrich Seidler gesehen, die er in der Berliner Zeitung (15.1.2023) bespricht. "Leben wir denn? Oder spielen wir? Sind wir schon längst Teil einer Theaterinszenierung?" – diese Fragen transportieren sich für den Kritiker durch den Abend.

Christine Wahl schreibt im Tagesspiegel (15.1.2023). "Mit seinen Stilanleihen vom Comic über den Kleinganoven-Movie bis zur Fantasy-Ästhetik wirkt dieser amerikanische (Alp-)Traum wie selbst von der Traumfabrik inszeniert: Wir erleben den Trip in ein Gestern, das es so nie gab. Und natürlich ist es kurzweilig, dem Gorki-Ensemble bei dieser Zeitreise zuzuschauen.“ Allerdings fühle es sich über weite Strecken tatsächlich nach purer Zeitreise an – "der Erkenntnisgewinn tritt eher in den Hintergrund".

"Aus dem Publikum blickt man auf diese Welt wie auf eine überdrehte Show von Has-Beens, die noch nicht begriffen haben, dass ihre Zeit vorbei ist und die hier nur noch, von einem seelenlosen Rhythmus getrieben, einem kalten Mythos huldigen. Mehr als 100 Jahre nach der Entstehung des Romans lässt sich das Faszinosum Amerika so kaum noch zum Leuchten bringen", meint Eberhard Spreng vom Deutschlandfunk (15.1.2023). "Die ästhetisch lobenswerte Stilübung in Bild und Ton scheint so gar nicht in die radikale Geistesgegenwart zu passen, die Abende am Gorki-Theater normalerweise ausmacht." Der Kritiker schließt: "Baumgartens Amerika performt einwandfrei, kommt aber von dem Menetekel nicht los, den es am Anfang selbst in den Raum warf: eine Kultur des Verschwindens, in dem alle Bewegung nur noch um eine völlig leere Mitte kreist."

Baumgartens Ensemble scheine "in jeder Akzentuierung, jeder klugen Reflexion, jeder genauen Beobachtung und jeder Pointe eine Verstellung zu vermuten, mithin eine Strategie, das Eigentliche zu verbergen", schreibt Michael Wolf in der taz (17.1.2023). Das zeige sich an dem Abend leider als "offen dargestelltes Desinteresse" und "Argwohn dem Text gegenüber". Beim Zuschauen stelle sich deshalb "bald jener Widerwille ein, der einen überkommt, wenn man Personen bei einer ihnen unangenehmen Arbeit beobachtet", so der Rezensent.

 

 

Kommentare  
Amerika, Berlin: Sinnlos verqualmt
Ständig wechseln die sieben Spieler*innen die Rollen, alle sind Karl Rossmann, keiner ist Karl Rossmann und zappeln slapstickhaft durch einen Wald aus Zeichen US-amerikanischer Popkultur, die verfremdet wurden: Vom Goodyear-Reifen bis zum Nike-Turnschuh hat Barbara Steiner spielt mit allerlei Lifestyle-Marken, die sie auf eine ansonsten zugemüllte Bühne platzierte. Ganz vorne ragen zwei überdimensionale Kippen ins Publikum.

Ärgerlich und sinnlos verqualmt sind weite Strecken eines Abends, der aktionistisch auf der Stelle tritt, zwar nah am vor mehr als hundert Jahre altem, Fragment gebliebenen Plot bleibt, aber bei seiner von eingespielten Krach-, Wumm- und Pling-Lauten begleiteten Hetze von Szene zu Szene nicht mal näherungsweise den Kafka-Ton trifft.

Ästhetisch wirkt der Abend sehr angestaubt und in den 90ern stecken geblieben. Die zwei Stunden ziehen sich trotz aller tief aus der Klamottenkiste hervorgekramten Slapstick-Einfälle und Turbo-Aktionen extrem langatmig und kreisen um eine „leere Mitte“, wie es Eberhard Spreng im Deutschlandfunk auf den Punkt brachte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/01/16/amerika-gorki-theater-kritik/
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