Das Leben ein Traum - Volksbühne Berlin
Da braucht's eine dicke Tüte
13. März 2024. Regisseur Clemens Maria Schönborn hat seiner Lieblingsschauspielerin Sophie Rois schon oft den Teppich ausgerollt. Nun stellt er ihr für Calderóns klassisches Versdrama ein Ensemble zur Seite, das an die ungetrübten Zeiten der um René Pollesch trauernden Volksbühne erinnert. Ein Stückchen Therapie.
Von Christian Rakow
13. März 2024. Das war nicht zu erwarten, dass man denn doch so viel von Calderón mitbekommt. Also von seinem im Titel des Abends angekündigten Versdrama "Das Leben ein Traum" (von 1635). Die Geschichte des leidgeprüften Kerkerkindes Prinz Sigismund gehört natürlich auch nicht zum festen Bildungsstandard (zumindest hierzulande). Da ist es sehr verdienstvoll, wenn Sophie Rois und Silvia Rieger zunächst eine gute halbe Stunde lang kompakt Stück-Handlung exekutieren.
Geschichte lupenreiner Sophie-Rois-Soli
Also: Basilius, der König von Polen, hat den Sternen entnommen, dass sein Sohn Sigismund zum schrecklichen Tyrannen heranwachsen wird und ihn darob als Kleinkind prophylaktisch in einem Turm wegsperrt. Nun, da Sigismund im Mannesalter ist, wagt der König die Schicksalsprobe: Sigismund wird betäubt und auf den Thron gesetzt – und sogleich scheitert der ungewandte Kerl. Er mordet, vergewaltigt fast und wird umgehend wieder betäubt und isoliert, auf dass er das Geschehen nurmehr für einen Traum halte. Später kommt's noch zu einem weiteren Ausbruch, zu Läuterung und Rehabilitation. Aber davon erzählt die Volksbühne nicht mehr so wirklich etwas.
Es gibt einiges Überraschendes an diesem Abend. Wenn der verdiente Filmemacher Clemens Maria Schönborn seine seltenen Ausflüge in die Bühnenregie unternahm, lief es bisher eigentlich stets auf lupenreine Sophie-Rois-Soli hinaus. Selbst wenn er ein paar Sidekicks als Staffage mit herumstehen ließ (Medea, Die Kameliendame oder "Sophie Rois fährt gegen die Wand" hießen die Abende). Stückvorlagen dienten dabei allenfalls als Lunte für virtuosen Stegreif, Pulver für Sophies Schützenfest.
Und heute? Da reibt man sich wie aus einer Betäubung erwacht die Augen und sieht: veritables Ensemblespiel! Und es gibt geradezu einen Exzess an Werktreue, wenn Silvia Rieger in eherner Deklamation die fatale Astrologie des Königs Basilius vorstellt und Sophie Rois als unbedarft törichter Sigismund mit dem Schicksal der Inhaftierung hadert: Alle Vögel entkommen doch ihrem Nest, "und ich hab' weniger Freiheit?"
Ankunft der Verwandtschaft aus Moskau
Eine gute halbe Stunde lang darf man rätseln, ob dies wirklich die Volksbühne ist, oder ob man benebelt in einem seltsamen Traum von Theatergottesdienst feststeckt (während man gebannt aufs Kruzifix starrt, das Rois um den Hals baumelt). Aber dann taumeln die Nebenfiguren heran, als "Verwandtschaft aus Moskau", und schlittern herrlich rotzig am Calderón entlang: Uwe Dag Berlin hegt als Fürst Astolf Ambitionen auf den polnischen Thron, kann aber schon bald nurmehr Makkaroni für König Basilius und Prinz Sigismund servieren. In seinem Schlepptau macht die unverwüstliche Kerstin Graßmann immer mal wieder klar, was von den Figuren hier zu halten ist: "Bei Dir piept's doch!" Irgendwann stürmt axtschwingend Margarita Breitkreiz heran, im Pelz wie eine sibirische Amazone (Kostüme: Sabin Fleck). Im Geiste des Stücks will sie sich als Rosaura an ihrem frevelnden Geliebten Astolf rächen, kommt aber nicht so recht dazu.
Einmal versinkt Sophie Rois als Sigismund tief in Gedanken, um hernach zu bekennen: "Das von mir angestrebte politische Pamphlet von seltener Schärfe ist dabei nicht herausgekommen." Und damit ist der Startschuss für dezente Blödelei gegeben. Ein Restaurantbesuch von König und Sohn gerinnt im breiten Wienerisch zum Ödipussi-Sketch. Im Finale hocken alle gemeinsam in einem Wohnzimmer, das sich im Kellergeschoss unter der glatten weißen Spielfläche befindet (Bühne: Barbara Steiner). Sie schauen "Drei Haselnüsse für Aschenputtel" im Fernseher, und Silvia Rieger als Familienoberhaupt gibt Sinnsprüche zum Besten ("Wo früher eine Leber war, ist heute eine Minibar...") oder auch mal Dionysos-Dithyramben von Nietzsche. Und dort befinden sie sich nun tatsächlich in einem Theatertraum: einem aus alter, versunkener Volksbühnenzeit, als Frank Castorf noch die Stunden verstreichen ließ, als man lässig zusammen abhing, ein bissl witzelte, ein bissl gründelte, mancher Zuschauer ging aus dem Saal, die meisten blieben, als Mitverschworene sozusagen. Schön war's.
Postmetaphysische Leere
Womöglich geht es in diesen Tagen gar nicht anders als mit so einem Abend, der etwas old school ist, aber okay, der nicht viel Aufhebens um sich macht, der zaghaft die postmetaphysische Leere unserer Zeit antippt und sinnfällig den Übervater Basilius als Patriarchatspopanz verulkt, der manchmal fade ist und hin und wieder wirklich hübsch.
Es ist die erste Premiere seit dem Tod von Intendant René Pollesch, der dieses Haus als Künstler über zwei Jahrzehnte mitgestaltet hat. Oft und eng auch mit Sophie Rois. Erstmals seit zwei Wochen bannert die Volksbühne wieder einen Stücktitel statt dem Schriftzug "POLLESCH". Am Portal stehen noch die Kerzen und Kondolenz-Blumen, die Theaterliebhaber*innen abgelegt haben. Die Calderón-Premiere war um eine Woche verschoben worden. Großes Feuerwerk stand nicht zu erwarten, und dann tut's auch die eine oder andere kleine Knallerbse. Wer mit dieser Sache, die ihren Platz im Repertoire finden wird, gut draufkommen will, halte sich an Kerstin Graßmanns Rat: "Es wird Zeit für eine dicke Tüte!" So sprach sie, und Sophie Rois zündete sich eine Zigarre an.
Das Leben ein Traum
nach Pedro Calderón de la Barca
Regie: Clemens Maria Schönborn, Bühne: Barbara Steiner, Kostüme: Sabin Fleck, Beleuchtung: Kevin Sock, Ton: Klaus Dobbrick, Dramaturgie: Sabine Zielke.
Mit: Uwe Dag Berlin, Margarita Breitkreiz, Kerstin Graßmann, Silvia Rieger, Sophie Rois.
Premiere am 13. März 2024
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.volksbuehne.berlin
Kritikenrundschau
"Wozu kämpfen, wozu spielen, ist ja nur ein Traum", notiert Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (14.3.2024) wenig angetan. Die Assoziationen bekämen an diesem Abend "viel Spielraum, aber wenig Orientierung" in einem "driftenden und knirschenden Theaterlabor, in dem Weltliteratur und Spelunkensprüche so folgenlos und willkürlich wie in einem Traum zusammenfinden und auseinanderfallen dürfen". Vor allem das Schlussbild sei dazu angetan, das Publikum "restlos zu sedieren und zu entmutigen, was die Zukunft dieses Theaters angeht", so Seidler.
"Für einen Höllenritt" ist dieser Abend "viel zu lau geraten", urteilt Barbara Behrendt auf rbb|24 (14.3.2024). Regisseur Clemens Maria Schönborn versuche "epigonenhaft den rotzigen Ton der Castorf- und Pollesch-Volksbühne zu imitieren". Es fehle "so ziemlich alles, was das rätselhafte, wuchtige, shakespearhafte Lehrstück um den Willen und das Wesen des Menschseins ausmacht, doch zumindest ringt Rois der Inszenierung ein kleines Vater-Sohn-Drama ab, als sie wissen möchte, was dem Vater das Recht gibt, das Leben des Sohnes einzukerkern".
Eine "peinliche Selbstparodie und Zombiefizierung" hat Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (15.3.2024) gesehen. "Clemens Maria Schönborn, ein Freund von Sophie Rois, demonstriert als Regisseur dieser aufwendigen Produktion seine Konfusion und Überforderung. Es ist eine Volksbühnen-Parodie vom Fürchterlichsten, die Resteverwertung dessen, was mal ein großes Theater war."
Für Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (15.3.2024) ist dies "ein tieftrauriger Abend. Zwei Stunden mittlerer Lärm um nichts." Alles "riecht nach Parodie. Mehr 'König Ubu' als Calderón. Mit Action- und Westernmusik, Nebel und Auf-sie-mit-Gebrüll. Versteht man nicht. Muss man auch nicht."
"Ist das Schönborns Vision davon, sich in die Verhältnisse zu fügen, nicht mehr über die Stränge zu schlagen?", fragt Georg Kasch in der Morgenpost (15.3.2024) angesichts der tristen Schlussszene. "Wunderbar und erregend ist hier wirklich nicht so viel. Anfangs liefern die Spieler noch ziemlich viel Geschichte. Dann ufert die Sache in Witzeleien, Exkurse und einer großen Restaurantszene aus, in der der kleine Sigi seine (Schlaftrunk-)Limonade nicht trinken möchte."
Simon Strauß von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.3.2024) sah einen "Abend, der nicht von seiner Dramaturgie, sondern von seinen Darstellern getragen wird", und schreibt: "Die Regie von Clemens Maria Schönborn ist unentschieden, aber nicht unbedarft. Immer wieder mischt er musikalische Elemente in die Schauspielszenen, reihen sich abgehackte Chorsequenzen an Western-Medleys. Überhaupt hat man mitunter den Eindruck, er würde lieber eine Oper inszenieren. Das Gute daran aber ist, dass er seine Schauspieltruppe einfach spielen lässt, ohne ihre Verwandlungslust neunmalklug infrage zu stellen." Fazit: "In den besten Momenten dieses zweistündigen Abends kommen so Unterhaltung und Schauspielkunst glücklich zusammen. In den weniger guten bleiben nur Sprechübungen und Kunstanstrengungen übrig. Aber die Rois reißt alles raus."
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Sicher: Rois hat ihre Momente, wenn sie wie ein Kleinkind nach Makkaroni kräht oder beleidigt aufstampft und die Nebenfiguren anbrüllt. In der zweiten Hälfte wird nicht nur dezent geblödelt, wie Christian Rakow untertreibt. Dit nervt dann doch ziemlich, sagt auch Kerstin Graßmann im Schlusswort.
Eine wichtige Frage ist noch offen: Was war denn dieses leitmotivische Eishockey-Match gegen Russland, auf das die Rieger zwischen ihren ganzen "Alte Männer"-Sprüchen wartet und das die Rois zu Beginn ganz allein guckt? Waren das O-Töne des Olympia-Finales 2018?