Der Spieler - Frank Castorf exerziert bei den Wiener Festwochen die Lust am Spielen und Verspielen
Dostojewskij goes Las Vegas
von Stefan Bläske
Wien, 9. Juni 2011. "Alles auf die Null, auf Zéro!" Du setzt all Dein Hab und Gut auf eine Karte, eine Nummer, eine Farbe. Du bist Dir sicher, dass sie kommt, kommen muss, dass es gar nicht anders sein kann – und Du verlierst. Alles. Oder gewinnst. Ein Vermögen. Vielleicht ein neues Leben? Nenn es, wie du willst, nenn's Glück. Chance. Schicksal. Zufall. Gott. Oder einfach Wahnsinn.
Für Frank Castorf scheint die Sache klar. Die Figuren in "Der Spieler", die in Roulettenburg auf eine Erbschaft oder auf den großen Gewinn warten, sind allesamt dem Wahnsinn nahe: "Bei Dostojewskij wird geschrien, gelispelt. Nicht mit der normalen Kommunikationsform von Reden. Sondern es sind ja immer spuckende, geifernde, epileptische Anfälle."
Heiserkeit und Heiterkeit
Wenn man Dostojewskij derart lesen mag, dann wurde er hier trefflich umgesetzt. Denn der dominierende Gesichtsausdruck sind die manisch aufgerissenen Augen des Spielers Alexej Iwanowitsch, in Großaufnahme, und sämtliche Figuren ereifern sich ohne Unterlass bis hin zur Heiserkeit.
Die fünfstündige Inszenierung löst – jedenfalls im ersten Teil – aber auch reichlich Heiterkeit aus mit ihren skurrilen Figurenüberzeichnungen und der Lust am Lausbubenstreich: sowohl jener des Spielers, der den Baron, Marquis des Grieux und auch Madame Blanche zu provozieren sucht, als auch jener des Regisseurs, der den Baron in den Bauch eines Krokodils steckt, den Marquis lustig Wienern und Madame Blanche von Brian Jones und Mick Jagger träumen lässt. Aber wer braucht einen Rolling Stone, wenn er einen Sir Henry am Klavier und einen Alexander Scheer an der Gitarre hat?
Rolling Stones und rollende Rubel
Als Spieler Alexej begleitet Alexander Scheer das Glücks-Spiel der rollenden Rubel mit Blues und Rock, und auch sein Schau-Spiel ist irgendwie musikalisch: sein Slapstick im Kartoffel-Kellerloch ebenso wie der Wahnsinns-Monolog eines in Trance alles Setzenden, alles Gewinnenden. Atem- und besinnungslos, rasend riskiert er alles, der Körper bebt bis in die Nasenflügel, die Augen noch größer und flackernder als sonst, hinter ihm flimmert ein schwindeliges Wackelvideo aus Las Vegas.
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Man wird förmlich hineingezogen in die manischen Monologe von Alexander Scheer und von Kathrin Angerer. Aber auch in ihre Zweier-Szenen, in denen die einander emotional immer knapp verpassenden Alexej und Polina Achterbahn fahren zwischen Begehren, Vorsicht und Verachtung. Die Stärke der Inszenierung liegt wohl darin: in phantastischen, sich verausgabenden Schauspielern voller Dopamin, und Figuren voller Leidenschaft, die ins Leere läuft. Energieschleudern, die am Rad drehen.
Am Rad und an der Bühne drehen
Bert Neumann hat die Welt, in der sich alles ums Geld und um die Kugel dreht, hat Roulettenburg (bzw. Baden-Baden bzw. Las Vegas bzw. etc.) als Drehbühne gebaut, mit verschiedenen Räumen ringsum: einer Art Kino mit roten Samtwänden und einer großen Leuchtdiodenwand; einem blauen, geräumig frauschaftlichen Hotelzimmer; einer Art düsterer Jahrmarktsfassade mit aufgemaltem Gorilla; und einem Kulissenrückseiten-Privatraum, über dem eine Neonröhren-Schrift in rot, blau und pink memento mori blinkt: "Leben ist tödlich" steht da. Ja. Und Spiel ist ernst. Vielleicht.
In der Bühnenmitte, umrahmt von allen Räumen und ergo den Zuschauerblicken mindestens durch goldene Lametta-Vorhänge entzogen, nur per pointilistischem Live-Video ins Kino übertragen, befindet sich höhlenartig das Heiligtum: Der Spieltisch als Altar. Hier verjubelt die betagte Tante Babouschka ihr gesamtes Vermögen, anstatt der Verwandten- und Schmarotzerhoffnung folgend vorher brav zu sterben und zu vererben.
Sklaven- und Slawenfragen
Sophie Rois gestaltet diese Rolle mit unbedingtem Herrschaftswillen, in beeindruckend schnellem, fast schizophrenem Wechsel zwischen Zerbrechlichkeit und Kraftmeierei, Alterslast und Jungbrunnengefühlen. Aber was sind das für Texte, die sie spricht? Einige Texte der Erbtante werden von anderen Figuren gesprochen, sie selbst übernimmt Passagen etwa von Alexej und diktiert ihm mit vorgehaltener Pistole ein Pamphlet zur "Slawenfrage".
Frank Castorf hat den "Spieler" mit zahlreichen Fremdtexten unterfüttert, mit Dostojewskijs Erzählung "Das Krokodil" etwa, Heiner Müllers "Der Auftrag", Matthäus' Austreibung der Teufel oder einem Küchentischgespräch über Asien und Europa ("nach Asien!"). Soll das politisch sein? Globalisierungskritisch oder -euphorisch? Und ist es kapitalismuskritisch, dass die Figuren bei Gebrauchsgegenständen ständig den Markennamen nennen, Roulettenburg durchsetzt ist von Product-Placement, Firmen-Fetischismus und markigen Worten?
Spielen und verspielen
Dostojewskijs "Aufzeichnungen eines jungen Mannes" werden von Frank Castorf um einige neue Aspekte bereichert, aber während diese Dimensionen dazukommen, gehen andere verloren, insbesondere das Profil der Romanfiguren und die raffinierte Dostojewskij'sche Sucht-Dramaturgie. Durch den Tausch von Texten (sodass beispielsweise Polina statt Alexej sich in Paris von Blanche ausnehmen lässt) werden Geschichten und Motivationen der Figuren verschoben, irritiert die Inszenierung eine Konsistenz der Handlung und der Spieler.
Das ist schade, wo das Gefühl entsteht, dass das Textassoziieren und der Bau der Szenen und Übergänge etwas willkürlich, vielleicht zu "spielerisch" geraten ist. Das ist zugleich aber spannend als Konzept, das es wohl sein soll: Wenn die Figuren mehrfach ihre Texte, Sprachen, Dialekte und Perücken ändern, steht gleichsam auch jede Figur, jeder Charakter immer wieder auf dem Spiel. Und wird "verspielt" – im besten und im schlimmsten Sinn.
Vielleicht ist es gleichgültig, ob die Münze letztlich auf Kopf oder Zahl landet, solange Energie und Spielfreude so intensiv sind. Diese Inszenierung jedenfalls ist weitenteils: ein Glücksspiel.
Der Spieler
nach Fjodor Dostojewskij
Inszenierung: Frank Castorf, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Licht: Lothar Baumgarte Musik: Sir Henry, Dramaturgie: Sebastian Kaiser, Ton: Klaus Dobbrick, Dierk von Domarus Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz, Video: Dirk Passebosc, Jens Crull.
Mit: Alexander Scheer, Sophie Rois, Kathrin Angerer, Hendrik Arnst, Mex Schlüpfer, Georg Friedrich, Margarita Breitkreiz, Frank Büttner und Sir Henry.
www.wienerfestwochen.at
Diese Inszenierung wurde von den Lesern für das virtuelle nachtkritik-Theatertreffen 2012 ausgewählt.
Zwei Männer stürzen eilig auf die Bühne, setzen sich in eine Stuhlreihe vor das Publikum und sind vor allem eins: hektisch und zappelig, "mit ihrem ersten Auftritt geben die beiden den Stil des über fünfstündigen Abends vor", so Hartmut Krug auf DLF Kultur vom Tage (10.6.2011). "Dostojewskis Figuren sind eindeutig und dabei auch flach. Castorf verleiht ihnen zwar keine psychologische Grundierung, doch eine Identitäts-Mehrdeutigkeit. Jetzt besitzen sie Erfahrungen aus Dostojewskis Zeit wie aus unserer heutigen und verstecken hinter ihrer offenbaren Identität auch mögliche weitere." Aber, so Krug, für eine nicht aufgeblasene, sondern konzentrierte und aufregende Dramatisierung von Dostojewskis "Der Spieler" hätte es höchstens drei statt der von vielen Spannungslöchern beschwerten fünf Aufführungstunden bedurft. "Der Volksbühnenchef braucht bei seiner Arbeit unbedingt ein kritisches Korrektiv. Ein kluger Dramaturg muss her, der die ausufernde Einfallslust von Castorf bremst."
Dieser Theaterabend sei "Pflicht für alle Castorfianer und solche, die es einmal waren", freut sich Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (11.6.2011). "Es ist dies, bei aller Inkommensurabilität, die heiterste, spielfreudigste, lockerste Castorf-Inszenierung seit langem." Generell sei die Stimmung, "die Castorf in seiner wild zwischen Wahn und Witz, Pollesch und Rock'n'Roll stromernden Inszenierung erzeugt: das Gefühl einer abgrundtiefen Halt- und Gottlosigkeit, Schranken- und Rastlosigkeit. Alles ist möglich. Oder nichts." Bert Neumann habe "für das turbulente Treiben ein Meisterwerk von Drehbühne gebaut", vor allem aber schwärmt Frau Dössel von den Schauspielern: Sophie Rois sei "ganz großes Casino!" Und "wie Alexander Scheer sich mit kurios aufgerissenen Augen den extremen Gefühlswallungen seines Alexejs bis an die Grenze des Wahnsinns hingibt und [Kathrin] Angerer ihn nölig-nonchalant abweist, hinhält, zappeln lässt, das gehört zu den schönsten, wahrsten, inbrünstigsten Szenen dieser so spielsüchtigen Inszenierung."
"Kein Dostojewski ohne Gottsuche, kein Castorf ohne Apokryphes", schreibt Paul Jandl in der Welt (11.6.2011). "Diesmal irrlichtern Edgar Wallace, General Jaruzelski und die Rolling Stones durch das Stück. Wenn man es richtig verstanden hat, gab es beim Thema Swimmingpool irgendeine Anspielung auf Brian Jones. Alle müssen da durch". Andererseits aber sei Dostojewskis "Spieler" "ein aberwitziges Kammerspiel monströser Gefühle, stets zwischen Wahnsinn und Hellsicht changierend, und damit ist dieser Roman Castorf-Stoff par excellence. Es gab schon weit langweiligere Dostojewski-Adaptierungen des Fjodors vom Rosa-Luxemburg-Platz. Seltsam: Der anrührenden Ödnis seitenlanger Monologe setzt man sich hier ebenso willig aus wie der körperlichen Selbstentäußerung der Volksbühne-Schauspieler."
Nach den fünf Stunden des "Spielers" ist Ronald Pohl vom Standard (11.6.2011) "selig überfordert auf die Linke Wienzeile hinaus" gestolpert. Die Produktion sei "so grobmotorisch wie unsere gierkapitalistische Welt. Ein klarer Fall von Glück im Spiel." Castorfs Interesse nämlich an Dostojewskij gelte "der 'Null': Gier und Geiz wurden von den Sachwaltern der Konsumgesellschaft zu notwendigen Sekundärtugenden erhoben. Pathologische Anwandlungen wie die Spielsucht sperren sich jedoch mit Nachdruck gegen ihre Verwertbarkeit. Besteht im Zurückweisen der "Warenform", im mutwilligen "Zertrümmern" der Theaterform aber nicht gerade der Kern von Castorfs Ästhetik?" So gleiche "dieser vorbildlich anarchische Regisseur (…) einem Feldherren, der an drei, vier Fronten gleichzeitig kämpft: Überforderung ist ihm ein notwendiges Übel. Den Romanstoff zerrt er in schmutzigen Bahnen vom Ballen herunter."
"Gegen Ende knallten immer häufiger die Türen hinter flüchtigen Besuchern", berichtet Barbara Petsch in der Presse (11.6.2011). "Die Aufführung ist teils quälend, doch das Strapaziöse ist auch der Witz daran: Dies ist Extrem-Theater für Theater-Extremisten." Alexander Scheer sei zwar "weniger abgründig als Martin Wuttke (…), aber er überzeugt mehr und mehr als Alexej, Dostojewskis modernes Alter Ego. Sophie Rois spielt die Erbtante; es ist erstaunlich wie diese Schauspielerin ihre im Grunde engen Ausdrucksmöglichkeiten immer neu und faszinierend variiert." Und Frau Petsch hat auch noch einen Rat für Berlin parat: "Sollte das reichhaltige Spektakel dort um ein oder gar zwei Stündchen kürzer sein, wird das nicht schaden."
Castorf lege "Ball nach Ball seinen Mitspielern zu Supersololäufen und zum zirkusreifen Jonglieren auf", meint Hans Haider in der Wiener Zeitung (11.6.2011). Alexander Scheer tobe "sich wie irre minutenlang aus, sobald ihn die Erinnerung an seine Glückssträhne übermannt. Margarita Breitkreiz (…) zeigt das Raffinement, mit dem man Männer auf Zero setzt." Und Sophie Rois zerre "an den Nerven aller, die an Tantchens Geld wollen. Ihre furiose Edelklamotte kippt blitzschnell in existenziellen Jammer." Fazit: "Viel Jokus also. Doch ein Epochen-Zustand ist herausfiltriert aus unzähligen tiefen und flachen Regieeinfällen."
"Der Spieler" überstehe gewiss auch diese Inszenierung, prophezeit schwer genervt Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen (11.6.2011). Es gehe zwar "weniger gewalttätig zur Sache als bei üblichen Castorf-Textzertrümmerungen", und es sei sogar, "wenn man den Roman auch nur ein bisschen angelesen hat", eine durchgehende Handlung "irgendwie zu erahnen". Doch Alexander Scheer deklamiere mehr, "als dass er irgendwas darstellt, zwinkert mehr in die Kamera, als im Kasino fremdes Geld zu verjuxen. Dafür kriegt er einen großen Monolog, in dem er seinen Gewinn von mehreren hunderttausend Talern bei Roulette und Kartenspiel schildert, bevor er plötzlich für ein halbes Stündchen aus der Szene verschwindet – seltsam, wo dies doch seine Geschichte ist und ja auch von ihm erzählt werden sollte." Die "kurzen Momente, in denen man über einen ausnahmsweise gelungenen Witz lachen kann, entschädigen (…) kaum für die Ödnis, die an diesem endlos scheinenden Abend angerichtet wird."
Auf ORF meint Gerald Heidegger (10.6.2011): "Zweifelsohne war es kein Abend für Zwischentöne, es sei denn, man zählt alle absurden Abschweifungen dazu. Dostojewski soll hier grell, brachial und direkt auf das Publikum einwirken. So will es die Castorf'sche Poetik generell. Gestützt wird diese Direktheit allerdings einmal mehr durch die Hereinnahme eines Zusatzmediums. Teile des Spiels finden hinter der Bühne statt und werden im Filmschnitt und unter Einsatz vieler Close-ups auf einer LED-Wall gezeigt. Zweifelsohne trägt dieser Kunstgriff der Unruhe des Originals Rechnung und lässt alle Handelnden gnadenlos in ihrer Kreatürlichkeit erscheinen. Auf der anderen Seite bleibt gerade im Rahmen dieser Festwochen die Frage, ob gegenwärtiges Theater nicht mehr ohne mediale Fremdverstärkung auskommt, um beim Publikum den Hauch von Rock 'n' Roll zu erzeugen, der es ja auch bei Castorf sein will."
Wacher als andere Castorf-Inszenierungen der letzten Zeit wirkt die Inszenierung auf Christine Wahl vom Berliner Tagesspiegel (2.10. 2011). Obwohl der Abend Vergleiche mit Castorfs legendären Dostojewkski-Trips aus den späten 1990er und frühen nuller Jahren aus ihrer Sicht trotzdem nicht gewinnen kann. "Aber wenn man mal die Perspektive wechselt und Castorf heute nicht ausschließlich mit Castorf gestern, sondern mit der restlichen aktuellen Theaterlandschaft vergleicht, dann liegt dieser Fünfstünder weit oberhalb des Durchschnitts." "Der Spieler" hat alles, was originäre Castorf-Inszenierungen auszeichnet, wenn man die Kritikerin recht versteht, nämlich "originelle Überblendungen, schier endlose Diskurswucherungen, geniale Zuspitzungen auf der einen und strapaziöse Längen auf der anderen Seite inklusive". Besonders die letzten 90 Minuten seien eine echte Herausforderung an die Zuschauergeduld. Doch mache es "durchweg Spaß", den Schauspielern zuzusehen, besonders Kathrin Angerer und Alexander Scheer. Bert Neumanns Drehbühnenbild sei ein "Parzellen-Meisterwerk, und die "die handfeste Tür-auf-Tür-zu-Comedy", mit der der Abend streckenweise aufwarte, dem Sujet ja durchaus nicht unangemessen.
Fünf "wie unter Starkstrom abbrennenden Theaterstunden" hat Doris Meierhenrich für die Berliner Zeitung (4.10.2011) beigewohnt. Der Abend warte mit vielen "spielerischen Reminiszenzen an die Theatervergangenheit" der Volksbühne auf und sei dabei von der Bespiegelung auch der allgemeinen Gegenwart "gar nicht fern". Zum Sinnbild dieser Aktualität des Abends wird ihr das Krokodil, das Castorf einer satirischen Erzählung von Dostojewskij entlehnt habe: "Das gefräßige-leere Krokodil ist schönstes Vexierbild dieser Gegenwart: Sie liegt im Bauch wirtschaftlicher, paranoider Netze verschluckt, wie Sir Henry im Reptil und die 'Spieler'-Familie in Roulettenburg. Und verschluckt andererseits als Reptil doch selbst: ist selbst der Bauch wirtschaftlicher Prinzipien, blinden Fortschritts, automatischer Gedankengänge."
Als "Überwältigungsboulevard der besten Sorte, für die Linke-Mitte-Schickeria von Berlin und darüber hinaus", empfindet Elmar Krekeler in der Welt (4.10.2011) diesen Abend. Alles wirke eigentlich wie in "einer Privatvorführung von Franks besten Videos im Babylon-Kino um die Ecke", sprich: Nichts ist wirklich neu. Doch sogleich tritt der Rezensent dem Eindruck des Abgegriffenen entgegen: "Aber was für ein Vergnügen, wenn Franks fabelhafte Freakshow funktioniert. Das Assoziationskettenkarussell dreht sich und dreht sich" und zwar mit einem "Ensemble aus unerschrockenen Hochleistungsschauartisten". Castorf "tappt auch nicht in die durchaus sperrangelweit offen stehende antikapitalistische Aktualitätsfalle, sondern lässt ein überzeichnetes, überzeitliches Spiel um Gier und Abhängigkeit, um die Vergiftung der Gefühle im monetären Zusammenhang vorbeiflittern, so laut, so komisch, so markerschütternd." Ein Abend "wie in der Geisterbahn: Man will gleich wieder rein."
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(gleichzeitig mit mehreren - Männer sind darin vergleichsweise Stümper). Ganz so wie Alexej und Polina, verpasst man sich unweigerlich emotional immer wieder. Eine große Leidenschaft die unausweichlich ins Leere läuft.
Man begreift, versteht den "Spieler" (und Dostojewskij), Polina aber bleibt dem "Spieler" und dem Leser rätselhaft und unbegreiflich.
Castorf scheint die "Aufzeichnungen eines jungen Mannes" zu "verspielen", er verspielt Dostojewskij, und verliert das Profil der Roman-Figuren (viele Regisseure scheinen mit Absicht
es sich so einzurichten) - er gewinnt aber vielleicht das Glücksspiel seiner Inszenierung. Fünf Stunden - kaum zu glauben!
(da hat man was verpasst, wenn der Kommentator "Wiener" den Castorf-Abend nicht wienert - - Michael aber hat noch nie Schlechteres gesehen und möchte die verschauten (und daher im
Theater verspielten) 5 1/2 Stunden seines Lebens zurück -
ein echter "Spieler" will das nicht.
Was ist es nun, das eindrücklichste oder schlechteste Theatererlebnis?
das ensemble: at its best. sophie rois: ein naturereignis.
auf nach berlin!
(Oha, liebe Schwester Parzifals, da ist dem Kritikenschauer, also mir, ein recht ungeschickter Fehler beim Zusammenfassen der "Presse"-Kritik unterlaufen. Es ist korrigiert. Es dankt: wb)
Polina. Sie gibt ihm sogar den Auftrag für sie Roulette zu spielen
- "...hier sind siebenhundert Gulden, nehmen Sie sie und spielen Sie Roulette, und gewinnen Sie so viel als möglich; ich brauche jetzt unter allen Umständen Geld und Sie m ü s s e n es mir verschaffen" - So ist sie also der Anfang und der Beginn seines Schicksals als ein Spieler. (...) - "Eigentlich war mir
zumute als hätte ich einen Schlag auf den Kopf erhalten: ich, ich sollte Roulette spielen! Doch sonderbar: obschon ich jetzt
über etwas Wichtiges nachzudenken hatte, versenkte ich mich doch ganz in eine Analyse meiner Gefühle für Polina. In der Tat
ich muß gestehen, daß ich mich in den zwei Wochen meiner Abwesenheit freier gefühlt hatte und glücklicher gewesen war
als jetzt am Tage meiner Rückkehr, obschon ich unterwegs vor
Sehnsucht fast wahnsinnig zu werden fürchtete und sie mir sogar
Nacht für Nacht im Traum erschien. Einmal - es war im Kupee
auf der Reise durch die Schweiz - begann ich, überwältigt von
Müdigkeit, im Schlaf von Polina zu sprechen, worüber sich meine
Reisegefährten so erheiterten, daß sie in lautes Lachen ausbrachen, was mich zum Glück aufweckte... Und wieder stellte ich mir die Frage: liebst du sie? - Und wieder wußte ich mir darauf nichts zu antworten, oder richtiger, ich sagte mir wieder einmal - wohl zum hundertsten Mal -, daß ich sie haßte.
Ja, sie war mir verhaßt! Es gab Augenblicke - namentlich zum
Schluß unserer Gespräche - in denen ich mein halbes Leben dafür
hingegeben hätte, sie erwürgen zu können! Ich schwöre es: wenn es möglich gewesen wäre, ein scharfes Messer ihr langsam in die
Brust zu stoßen, so hätte ich es - davon bin ich überzeugt -
mit Wonne getan. Doch andererseits schwöre ich bei allem, was es Heiliges gibt, daß ich, wenn sie mir dort auf dem Schlangenberge wirklich gesagt hätte: Stürzen Sie sich hinab -
ich mich sogleich hinabgestürzt haben würde, und zwar gleichfalls mit Wonne. Das weiß ich. Aber so geht das nicht weiter, es muß etwas Entscheidendes geschehen! Sie begreift natürlich mit bewundernswerter Richtigkeit die ganze Situation,
und der Gedanke, daß ich mir ihrer Unnahbarkeit und Unerreichbarkeit für mich, der ganzen Unmöglichkeit der Erfüllung meiner phantastischen Träume vollkommen bewußt bin -
dieser Gedanke muß ihr, meiner Überzeugung nach, eine unendliche Genugtuung gewähren, muß ihr geradezu ein Genuß sein
Denn wie könnte sie sonst so unbekümmert offen und ungeniert
im Verkehr mit mir sein, sie, die doch vorsichtig und klug ist?
Ich glaube, sie hat bisher ungefähr ebenso auf mich herabgesehen wie jene Kaiserin im Altertum, die sich in Gegenwart ihres Sklaven entkleidete, da sie ihn ja doch nicht
für einen Menschen hielt. Sie hat mich schon mehr als einmal
nicht für einen Menschen gehalten. (...)
Das klingt alles doch sehr klar und ist nicht unverständlich.
Ob Castorf mit seiner Inszenierung dem "Spieler" und Dostojewskij gerecht geworden ist psychologisch - es scheint nicht so zu sein - -
3 Theater-Stars, Minichmayr (aus Pasching bei Linz),
Almut Zilcher (lebte mit ihrer Familie in Linz-Urfahr, und ging in Linz zur Schule), und Rois - man lasse uns doch ein wenig stolz sein auf diese vorzüglichen Schauspielerinnen!
(sind nicht alle Drei, jede in ihrer Art - so etwas wie ein
Natur-Ereignis am Theater?)
Sie haben ja recht. Ein Ereignis jedenfalls, wenn man den verschiedenen Stimmen trauen darf (Sylvia: ein Naturereignis!).
Künstlichkeitsereignis bringt man nur viel schwerer heraus
als das gebräuchlichere Naturereignis, denke ich.
Eine denkende Schauspielerin, die zum Denken auffordert -
ja, das lässt sich bei Sophie Rois denken.
Was denken Sie - die meisten Theater-Geher gehen aber vor allem
zum Schauen und zum Hören ins Theater - und wenn da eine große
Inszenierung über sie hinweg braust, wird es vielleicht doch
zu einem (Theater)Natur-Ereignis - die Natur des Theaters ist -
seine Künstlichkeit, seine Kunst. - -
Und Minichmayr ist vielleicht die "natürlichste" Schauspielerin von den Dreien,
die anderen sind ja viel "künstlicher", denke ich.
(Und wieder stellte ich mir die Frage: Liebst du sie? - und wieder wußte ich mir darauf nichts zu antworten, oder richtiger, ich sagte mir wieder einmal - wohl zum hundertsten Mal - daß ich sie haßte.)
Auf die Frage - Ist Liebe eine Lösung? antwortet der amerikanische Schriftsteller William S.Burroughs:
Das glaube ich ganz und gar nicht. Ich halte Liebe für einen Virus. Ich halte Liebe für einen großen vom weiblichen Geschlecht inszenierten Schwindel, ich glaube nicht, daß sie eine Lösung für irgendwas ist.
Hat Burroughs nun eine frauenfeindliche Einstellung?
Es wird doch nicht - - ?
Er hat doch nicht - - ?
Also ein Virus, und eine vom weiblichen Geschlecht inszenierter
Schwindel -
Was sagt Mann dazu? - nein -
was sagt Frau dazu?
Weil durch Kulturkapitalismus das Stadium beschrieben wird,
das dem Industriekapitalismus folgen wird, den man im Niedergang begriffen sehen kann, da der Markt und die Kommerzialisierung nicht die Bedingungen fortführen, denen sie aber ihre Existenz verdanken, wie beispielsweise Verlässlichkeit, Einfühlungsvermögen, Vertrauen, emotionale
Intelligenz.
So erschaffen Institutionen der Kultur (z.B. Theater, Bildung oder Kirche) und der Zivilgesellschaft in Zeiten des Hyperkapitalismus die Bedingungen für den Kapitalismus,
der sie aber gleichzeitig aushöhlt und bedroht.
Was ist Liebe? Jedenfalls keine LÖSUNG im Sinne einer Rechenaufgabe, sondern ein Prozess. Und sie kann auch nicht mit Geld "erkauft" werden. Ausserdem gibt es folgenden Unterschied: Verliebtsein ist das Spiel von Geist/Fantasie + Gefühl/Hormone. Da fliegen die Worte wie Blumen durch den Raum. Liebe wird:
"Die Sinnlichkeit übereilt oft das Wachstum der Liebe, so daß die Wurzel schwach bleibt und leicht auszureißen ist." (F. Nietzsche)
wer hat eigentlich die Musik für die Inszenierung ausgesucht? Am Ende des 1. Teils lief "Viva Las Vegas" von Dead Kennedys, und zwar von der Platte "Fresh fruit for rotting vegetables". Die Produktion war vor 30 Jahren ein Renner in der Punk-Szene, Pogo-Tumulte auf der Tanzfläche etc.
Sir Henry dürfte das Stück wohl kaum ausgewählt haben.
Es war wirklich verlorene Zeit. Aus dieser Aufführung "selig auf die Linke Wienzeile hinausgestolpert" zu sein, wie es weiter oben ein Kritiker beschrieben hat, zeigt nur, wie uneingeschränkt bieder und langweilig dessen Leben wohl ist.
Es war schlicht eine Frechheit von den über 5 Stunden mehr als die Hälfte mit schlechtem Video auf einer LED-Wall zu füllen! Da war gar nichts "kreatürlich" im Close Up sondern alles "dilletantisch", nicht mal den Kontrast und die Helligkeit haben sie richtig hingekriegt, nach einer Stunde Video auf LED fast am Stück brannten meine Augen, weil diese Leute es so eingestellt hatten als würden sie ein Freiluftkonzert bei Sonnenschein bespielen müssen.
Und dann: Las Vegas. Wie genial ist das denn??
Die gingen in irgendwelche Automaten-Hallen mit der Handkamera hinein und filmten drauflos. Bahhh, sowas von Erlebnis aber auch! Wenn ich diese Gier sehen will gehe ich einfach selbst hin und muß nicht 50 Euro für'n Ticket bezahlen. So wie in den Zoo, wenn ich 'nen Affen sehen will. Dann ist's wirklich authentisch und "kreatürlich".
[Ach ja: Geht doch bitte auf die Volksbühnen-Homepage und seht euch das kleine Spieler-Video links in der Navigation an [http://www.volksbuehne-berlin.de/?start=true]. Klickt nun auf Vollbild. Nicht mal das haben sie gebacken bekommen: ein Video das nicht andauernd hängen bleibt... - das ist ein kleiner Vorgeschmack darauf, was euch in Berlin erwartet.]
Schauspieler/innen: Gleich neben den Protagonisten tat's echt weh. Da sind Leute dabei, die gehetzt-getriebenes Sprechen mit völliger Unverständlichkeit verwechseln oder es einfach nicht besser können. Aber Herr Castorf greift da natürlich nicht ein, denn diese bewusste UnV3rs7ändl1chk31t, das ist ja sowas, von provokant den hoch bezahlenden Theaterbesucher-Spießern gegenüber!
Ja, ich weiß, jetzt kommt sicher wieder jemand mit "das war ja sooo geil trashig" daher. Ihr seid in eurer Theater-Ästhetik Generationen hinten nach, Leute...
Und ja, für die, die meinen man könne ja auch einfach gehen: Klar, auch ich bin 1 Stunde vor Schluß gegangen. Da waren mehr als 1/3 des Publikums auch schon weg. Hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Völlig sinnlos, bin viel zu spät gegangen!
Ihr Zitat:
-- Wer beim Spieler schreibt: "tolles Stück" hat sich doch ohnehin schon disqualifiziert. --
Ach ja? Hab' ich mich da "disqualifiziert" Monsieur Schiedsrichter?! Touché! ..na die Replik hat ja gesessen...
Also ich war in 'nem Theaterstück, das sich "Der Spieler" nannte, Sie Beckmesser. Dass das dann so'n Schrott war, dass es den Namen Theaterstück nicht verdient, geht mich nichts mehr an. Ich weigere mich hier abzubiegen und vorzugeben, einer szenischen Lesung des Romanes beigewohnt zu haben, bloß damit's mir besser geht mit diesem Mist, den ich gesehen habe.
Der Anspruch von Herrn Castorf, einen Theaterabend und keine Romanlesung zu liefern, war, wenn auch nicht erträglich ausgeführt, so dennoch eindeutig zu erkennen. (Bühnenbild, viele kostümierte und geschminkte Schauspieler die den Text sogar auswendig gelernt hatten und damit Krach machten, viel Musik, manches sogar von Schauspielern live gespielt, viele Szenen- und Lichtwechsel mit immer wieder ganz neuen Bildern... - das "sprach" ganz wie ein Theaterstück zu mir...)
Und kaufen Sie sich für Berlin unbedingt erste Reihe fußfrei, damit Sie Platz haben das Ganze in seiner Selbstgenügsamkeit ausgiebig mit zu feiern. Diese Inszenierung ist für Sie gemacht. Castorf wird bestimmt "zu Ihnen sprechen".
Ihr Zitat:
-- Und "Generationen hinten nach" ist mir schlicht egal - jagen Sie weiter nach den neuesten Theater-Trends und kommen sich dabei noch total kritisch und heutig vor - ich wähle die Aufführungen weiterhin danach aus, was zu mir als Zuschauer spricht, nicht was gerade angesagt ist." --
Stopp, da haben Sie mich völlig falsch verstanden, da wäre ich grundsätzlich ganz Ihrer Meinung, mir ist "heutig" nicht wichtig. Aber die Theaterinszenierung dieses Spieler-"Stückes" war so erbärmlich bemüht "heutig" zu sein, obwohl außer gerade mal hingerotzt so gar nichts frisch an diesem Abend war. Und das hat zu mir überhaupt nicht "gesprochen".
Übrigens:
Sie schreiben "ich wähle die Aufführungen weiterhin danach aus, was zu mir als Zuschauer spricht, nicht was gerade angesagt ist."
Das würde mich jetzt wirklich im Detail interessieren:
Wie machen Sie denn das VORHER, dass sie schon vorher wissen und "auswählen" was zu Ihnen am Abend "als Zuschauer spricht"??!
Haben Sie zu Frank Castorf so eine irgendwie ganz total geil telepathische Verbindung, oder wie?
@ martin baucks
Das wird wohl so kommen. Auch eine der letzten Bastionen verstaubten (Musik-)Theaters wird sich der fucking Sexyness des Trash wohl auf Dauer nicht entziehen können.
Und das mit dem Theaterstück war sicher nicht beckmesserisch gemeint. Aber das ganze ist ein Roman - wer den auf die Bühne bringt, kann das nur aus einer ganz subjektiven Sicht tun. Die kann man dann mögen oder nicht, aber es ist ein anderer, vielleicht brutalerer, Zugriff nötig als bei einem Drama, das meinte ich.
Dass der "Spieler" erbärmlich bemüht gewesen wäre, "heutig" zu sein, kann ich aber nicht ganz nachvollziehen. Natürlich war er heutig - keiner hat verleugnet, da als heutiger Mensch dran zu gehen. Aber "heutig" im Sinne von angesagt? Castorf weiß ja wohl, dass sein Stil heute wieder aus der Zeit gefallen scheint. Wollte er hip und heutig sein, könnte er es einfacher haben. Ob man ihn nun mag oder nicht, aber seinen Weg eben abseits irgendwelcher Trends, Erfolge oder Kritiken zu gehen kann man ihm sicher nicht absprechen.
Und ja, es gibt Regisseure und Regisseurinnen, die "sprechen zu mir" (Ich bleib dabei, machen sie sich ruhig lustig...) - auch in schwächeren Arbeiten. (Und in gelungenen sowieso...) Mit denen setze ich mich gerne auseinander - abseits von reinen Gelungen - Nicht Gelungen urteilen. So wähle ich unter anderem aus ...
komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2011/10/03/fjodor-dostojewski-der-spieler-volksbuhne-am-rosa-luxemburg-platz-berlin-regie-frank-castorf/
(Slawenfrage) oder zu den Briefen an seinen Bruder Michail etwa wirken für meine Begriffe hier gerade nicht vom "Spieler" wegführend, sondern im Gegenteil sogar konzenrierend, flankierend, so wie die Arbeit am "Spieler" ja die Arbeit an einem größeren Roman flankierte: das war wohltuend schlüssig. Die politische Dimension eines Neo-Eurasiertums in Rußland, einer Inversion des garnicht unspannenden Ursprungsgedankens in etwa beim Clamart-Zirkel (Karsavin zB., der explizit von Dostojewskij herkommt, siehe "Noctes Petropolitanae"), ist ebensowenig zu unterschätzen wie das Agieren von Westlern im heutigen Asien (siehe Szene "Die würden nicht zögern, Asien als zweites Amerika zu entdecken" und das vielsagende Gesicht des Astley-Darstellers dazu). Wenn sich Castorf jetzt "Ein Werdender" ("Der Jüngling") vornehmen würde, gerade diesen auch Ostrom-Westrom-Diskurs via Werssilow verschärfend, würde mich das garnicht wundern, aber das ist ja das Schöne bei Castorf, er macht es dann doch so, daß man sich wundert, wundern kann..