Fous de danse - Boris Charmatz und Kollegen eröffnen mit einem Flughafenfest Chris Dercons Volksbühne Berlin
Auf der Suche nach dem historischen Moment
von Elena Philipp
Berlin, 10. September 2017. Verrückt vor Volksbühne. So fühlt man sich in Berlin seit mehr als zwei Jahren. Castorf raus, Dercon rein. Altes zerschlagen, Neues wagen (frei nach Kulturstaatssekretär a.D. Tim Renner). Daraufhin Theaterstreit bis -kampf: Pro. Kontra. Kontra. Pro. Zwei Fronten, unversöhnlich. Verrückt. Wenn dann doch die Kunst in diesen Kontext kommt – wie soll man sie bitte schön noch lesen? "Objektiv" womöglich? Ein hoffnungsloser Selbstversuch: Boris Charmatz eröffnet mit seinem Tanzfest "Fous de danse. Ganz Berlin tanzt auf Tempelhof" die Spielzeit der "neuen" Volksbühne Berlin unter Chris Dercon und Marietta Piekenbrock.
"Fous de danse", tanzversessen: Das ist ein Statement. Für eine Kunstform, die manchen bloß als Herumgehüpfe gilt, obwohl sie so voraussetzungsreich ist wie jede andere. Ganz Berlin tanzt: eine Behauptung des öffentlichen Raums, in dem alle willkommen sind, alt, jung, groß, klein, mit neuvolksbühnenrotem T-Shirt oder Jacke mit Bert Neumanns Räuberrad am Rücken. Tanzverrückt, das ist auch eine Einladung ans Publikum, denn jede*r ist ein*e Tänzer*in, so das Credo von Charmatz.
Mitmach-Tanztheater
Erstaunlich hoch ist denn auch nach seiner – wiewohl ballettmeisterlich strengen – Charme-Offensive die aktive Beteiligung, sowohl beim mittäglichen Aufwärmen als auch bei seiner Choreographie "Levée des conflits", deren Besetzung am Nachmittag spontan aus Freiwilligen gecastet wird. An die 150 Profis und Laien, Seit an Seit im Tanz – Rollen, Springen, Hintern hoch, nur nicht so scheu! –, das ist ein wunderlicher Anblick, der auch dem Asphalt vor dem ehemaligen Zentralflughafen Tempelhof neu sein dürfte. Momentweise fragt man sich angesichts der willfährigen Leiber, ob der Massentanz nicht ein bisschen zu gut zur monumentalen Nazi-Bau-Kulisse passt.
Neben einem anspruchsvollen Exercise bietet Charmatz beim "Public Warm-Up" auch einen Einblick in Tanzästhetiken des 20. Jahrhunderts – eine Spur, der "Fous de danse" programmatisch folgt. Isadora Duncan, Mary Wigman, Vaslav Nijinsky, George Balanchine, am eigenen Leib erlebt. Und eine Ahnung gewonnen, wie sich eine ästhetische Linie von Nijinsky über Balanchine zu William Forsythe zieht. Forsythes "Catalogue (First Edition)" ist denn auch wenig später zu sehen, gleich nachdem die kaum jugendliche Imane Alguimaret – Tänzerin schon in Charmatz' Avignon-Auftragswerk "enfant" von 2011 – eine Annäherung an Isadora Duncans Solo "Revolutionary Study" performt hat.
Be bunt. Be beliebig?
"Catalogue" ist bei Brit Rodemund und Christopher Roman eine fast statisch am Platz ausgeführte Abfolge von Armgesten und Torsionen des Oberkörpers, weich geführt, mechanisch präzise und immer komplexerer, als würden sie die architektonischen Verstrebungen und Verspannungen in ihren Körpern testen. Nach diesem intensiven Duett wandert die noch stetig wachsende Zuschauerschaft ein paar Meter weiter, um zu begutachten, wie weit sich Forsythe von seinen klassischen Wurzeln entfernt hat: Elevinnen der Staatlichen Ballettschule Berlin tanzen einen Auszug aus dem Handlungsballett "Le Corsaire", in Turnschuhen, T-Shirts und tighten Jeans ganz Anmut, Leichtigkeit und taffes Lächeln. Ihre Walzerseligkeit wird von harten Beats gebrochen, denn jetzt zeigen die Hip Hop Kids der Flying Steps Academy ihr Alphabet des Urban Dance.
Be bunt. Be beliebig. Be Volksbühne Berlin? Jein. Einerseits haben sich die beteiligten Berliner Institutionen wohl um die Teilnahme bewerben können. Andererseits legt Charmatz etliche tanzhistorische Fährten in diesen ersten Stunden von "Fous de danse" und entfaltet eine Kartographie der Bezüge: Die komplexen Raumwege von Lucinda Childs fußgängerisch entspannt dargebotenem "Calico Mingling #1" (1973) – Kreise, Linien und Pendelschwingungen – meint man in Anne Teresa de Keersmaekers "Chaconne" (einem Teil von "Partita 2", 2013) wiederzuerkennen, ihrem innigen Duett mit Charmatz himself, das die beiden schreitend, springend, rennend auf vier einander schneidenden Kreisbahnen ausführen.
Museum des Tanzes
Die Nijinsky zugeordneten Stampfbewegungen aus Charmatz' Aufwärmtraining sieht man im "Sacre" wieder, den 44 Kinder und Jugendliche aus Rennes interpretieren (was vor der Tempelhof-Kulisse wiederum daran gemahnt, wie die Nazis die Tanz-Avantgarde deformiert haben). Und die Idee der Mitmach-Choreographie ist auch schon älter: Raphaëlle Delaunay erinnert im "Berlin Solo Forest" an Pina Bauschs "Nelken"-Reihe, die genauso Selfie-tauglich ist wie Charmatz' Tempelhof-Event.
Tanzgeschichte ist ein Steckenpferd des französischen Choreographen, der noch bis 2018 das Centre Chorégraphique National de Rennes leitet. Mit seinem Amtsantritt 2009 benannte er es kurzerhand in "Musée de la danse" um, eine Idee und ein Label, unter dem der 44-Jährige seither produziert. Ein Museum des Tanzes, das klingt erst einmal paradox: Wie ließe sich der ephemere Tanz in ausstellbarer Form fixieren? Nun, für "Fous de danse" reiht Charmatz ein choreographisches Readymade ans andere, flüchtige Ausstellungsobjekte, die sich für den Moment im Tänzerkörper materialisieren. Frank Willens etwa lässt im Wald der Soli seine Erfahrung als Tänzer Revue passieren: Mit Laurent Chétouane, damals noch Theaterregisseur, erarbeitete er 2007 "Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller", das er nun mit Bewegungsmaterial von Tino Sehgal kreuzt, für den er in Museen tanzt.
Keine Neu-Erfindung
Derart verstanden, ist "Fous de danse" eine durchaus gelungene Reflexion auf die Vielfalt von Tanz, auf seine Geschichte und sein Potenzial, Gemeinschaft herzustellen. Immerhin bis zu 7.000 Besucher*innen gleichzeitig und 15.000 insgesamt vermeldet die Volksbühne nach dem Event. Nur hat man das, auch in Berlin, schon besser gesehen von Charmatz. 2014 erst adaptierte er am Sowjetischen Ehrenmal sein Konzept "20 Dancers for the XX Century" für die Berliner Festspiele (2013 war es am MoMA zu sehen und 2015 an der Tate Modern unter, voilà, Chris Dercon). Stringenter erschien dort der tanzhistorische Aspekt, noch konzentrierter und gelöster die Atmosphäre, kein Volksfest fraß sich in die Kunst.
"Fous de danse" – das Charmatz bereits im Mai ortsspezifisch in Rennes inszeniert hat – ist also mitnichten der "Strawinsky-Moment", den Marietta Piekenbrock bei der Pressekonferenz zur Volksbühnen-Eröffnung ankündigte. Neu erfunden wird hier nichts. Und leise bohrt die Frage, ob sich Boris Charmatz, einer der innovativsten Choreographen derzeit, nicht allzu sehr vor den Karren der neuen Volksbühne hat spannen lassen. Und warum für dieses Experiment ausgerechnet die Castorf-Volksbühne hat weichen müssen – ein weites Feld.
Fous de danse
Ein Projekt von Musée de la danse / Boris Charmatz
Mit: Boris Charmatz, Imane Alguimaret, Brit Rodemund und Christopher Roman, Schülerinnen der Staatlichen Ballettschule Berlin, den Hip-Hop Kids, angeleitet von Samir Nikolic, Ruth Childs, Anne Delahaye, Anja Schmidt, Pauline Wassermann, 44 Kindern aus Rennes, Mithkal Alzghair, dem BEM Folk Dance Ensemble, dem Konservatorium für türkische Musik Berlin (BTMK), Ligia Lewis, Paula Pi, Raphaëlle Delaunay, Hermann Heisig, Johanna Lemke, Felix Ott & Bahar Temiz, Jone San Martin, Julian Weber, Frank Willens, Raphael Hillebrand, Marie Houdin, Anne Teresa De Keersmaeker, dem P14 Jugendtheater der Volksbühne und Berliner Jugendlichen.
Dauer: 10 Stunden, variable Pausen
www.volksbuehne.berlin
Mehr zum tanzfokussierten Neustart der Volksbühne – im Mai 2017 stellten Elena Philipp und Astrid Kaminski dar, wie die Berliner Tanzszene auf Dercons Konzeption reagiert.
"Nicht um Perfektion, nicht um fertige Kunst, nicht um das Abgeschlossene ging es an diesem ersten Tag der neuen Volksbühne, sondern um Streuung, Öffnung, Geschehenlasse", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (12.9.2017). Den Tanz an den Anfang zu stellen bleibe jedoch eine symbolische Geste. "Berlin kennt große Raves und öffentliches Tanzen als Demonstrationsform." Besser sei es, "Fous de danse" als einen "freundlichen und netten Empfang zu sehen, aber auch als einen Beginn, aus dem man noch nicht besonders viel herauslesen kann".
Als Tänzerin sei sie immer die Fleisch gewordene Verbindung von Kontrolle und Launenhaftigkeit geblieben. "Heute aber, an diesem lang erwarteten, ungeheuer vorbelasteten Eröffnungstag (...) den viele verwünschen und noch mehr zweifelten, dass er überhaupt so stattfinden wird, an diesem Tag lacht Anne Teresa De Keersmaeker während der 15 Minuten, die ihr Solo dauert, immer wieder", schreibt Elisabeth Nehring in der Berliner Zeitung (12.9.2017). Dieser seltene Moment stehe sinnbildlich für diese Marathonveranstaltung "mit ihrer irre guten Laune, ihren heftigen künstlerischen Auf und Abs, ihrer großen, offenen Einladungsgeste an alle". Das Konzept dieses "Fous de danse" könne man harmonieeifrig finden oder als vergnügungssüchtig oder zu leichtfüßig abtun. "Sinnfrei ist es nicht. Auch wenn der Tag aus lauter schönen Splittern bereits existierender Produktionen bestand."
"Dercons Team ist entspannt gestartet, erwartungsgemäß ohne Grußwort des Kultursenators, überraschenderweise ohne weitere Anti-Kundgebungen", so Dorion Weckmann in der Süddeutschen Zeitung (12.9.2017). "'Fous de danse' verführte die ewig miesepetrige Hauptstadt sehr erfolgreich zu Amüsement und Kunstteilhabe", auch wenn Dercon die Antwort nach den künftigen Adressaten seines Theaters schuldig geblieben sei. "Der Einstand ist geglückt (...) Und dann? Auf Dercons erster Spielzeit lastet enormer Druck, das Leitungsteam steht unter Dauerbeobachtung. Aber einstweilen haben Dercon und Piekenbrock mit "Fous de danse" ein versöhnliches Zeichen gesetzt. Darüber sollte niemand hinwegtrampeln."
a De Keersmaeker zu Recht Weltberühmtheit erlangt, als Tänzerin ist sie immer die Fleisch gewordene Verbindung von Präzision und Lässigkeit, Kontrolle und Launenhaftigkeit geblieben. Häufig hat man sie schon stirnrunzelnd oder sogar leise schimpfend beim Tanzen auf der Bühne erlebt, doch kaum je lachend.
Heute aber, an diesem lang erwarteten, ungeheuer vorbelasteten Eröffnungstag einer hochumstrittenen neuen Intendanz, an diesem Tag, den viele verwünschen und noch mehr zweifelten, dass er überhaupt so stattfinden wird, an diesem Tag lacht Anne Teresa De Keersmaeker während der 15 Minuten, die ihr Solo dauert, immer wieder – und dieser seltene Moment steht irgendwie sinnbildlich für diese ganze zehnstündige Marathonveranstaltung mit ihrer irre guten Laune, ihren heftigen künstlerischen Auf und Abs, ihrer großen, offenen Einladungsgeste an alle.
Von jedem für jeden
Das Konzept dieses „Fous de Danse“ des französischen Choreografen Boris Charmatz ist schnell klar: Hier geht es nicht um Höhepunkte, nicht um Exklusivität, nicht um High End oder sonst eine Form künstlerischen Strebertums. Hier soll getanzt werden – und zwar von jedem für jeden, und deswegen stehen neben einer Anne Teresa nicht nur Frank Willens, Ligia Lewis, Felix Ott und viele andere fabelhafte Tänzer und Tänzerinnen der freien Berliner Szene auf dem Beton des Flugvorfeldes, nicht nur Brit Rodemund und Christopher Roman vom Dance On Ensemble und nicht nur der beeindruckende syrische Tänzer Mithkal Alzghair, sondern auch die Zuschauer selbst.
Wirklich viele von den 2000-3000 in der Partystoßzeit zwischen 13 und 18 Uhr ständig Anwesenden haben die Giant Soul Train, die Dance Circles und alle anderen Kollektivtanzgelegenheiten freundlich bis ekstatisch angenommen und mitgefeiert.
Tourismuskampagne
Zwischendurch tanzte das BEM Folk Dance Ensemble und die Elevinnen der Staatlichen Ballettschule. Klar geriet man bei den leicht monumentalen, pathetisch aufgeladenen türkischen Volkstänzen ins Grübeln über Genderklischees, und der Auftritt der zukünftigen Balletttänzerinnen in wirklich sehr schicken Jeans und Sneakers erinnerte nicht nur von Ferne an eine mittelstädtische Tourismuskampagne.
Aber irgendwie muss man das alles im – beinahe hätte hier Totalzusammenhang gestanden – im Zusammenhang sehen, und dann ergibt es schon wieder Sinn. Denn, wie schon Rudolf von Laban wusste, jeder Mensch ist ein Tänzer und deswegen war hier jeder Tanz und jeder Tänzer gefragt – ungeachtet seiner Herkunft, Hautfarbe, politischen und sexuellen Orientierung sozusagen.
Es hat seinen Sinn
Das Konzept dieses „Fous de danse“ kann man harmonieeifrig finden oder als vergnügungssüchtig oder zu leichtfüßig abtun. Sinnfrei ist es nicht. Auch wenn der Tag aus lauter schönen Splittern bereits existierender Produktionen bestand, und auch als Veranstaltungsformat schon in Rennes zu erleben war: Hinter dem Spaß lässt sich eine strenge und doch geschmeidige Dramaturgie entdecken und auf der Metaebene eine in der Volksbühne bisher nicht voll ausgelebte, in der Welt und im alltäglichen Umgang aber nicht ganz falsche Menschenfreundlichkeit.
Dennoch ist absehbar: dieses gelungene, bestens komponierte Fest wird an der Causa Volksbühne erst einmal nichts ändern. Nicht den stattgefundenen Verlust wettmachen und nicht die Kritik an der neuen Intendanz zum Schweigen bringen. Die Mischung aus Ensembleschwund, erschreckend ausgedünntem Spielplan und Premierenmogelpackungen bei luxuriöser Finanzausstattung wiegt einfach zu schwer. Und auch das Warten auf das groß angekündigte Neue, die eigene Handschrift des Hauses, dauert an.
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Ein harmloser Tag, "durchaus abwechslungsreich, auch unterhaltsam, mit einer Animation besser als an jedem Hotelpool. Aber an sich eben doch ganz und gar bescheiden", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.9.2017). "Frank und frei, ohne schweres Ideologie-Gepäck. Die Masse macht's – Diversität präsentieren, Genre-Auflösung propagieren." Man kenne das aus den verschiedenen Berliner, aber auch sonstigen Festspielen und ist gar nicht überrascht, auch nicht verärgert. Fazit: "Ein schöner, sorgenloser Tag. Das einzig wirklich Irritierende waren die Aufschriften, die man im Vorbeigehen vereinzelt auf retrograden T-Shirt-Rücken lesen konnte: 'Volksbühne Berlin' stand da in schüchternen Zügen. Aber das waren bestimmt nur irregeleitete Besucher, die hier auf der ganz falschen Hochzeit tanzten."
Boris Charmatz habe sich "in seiner Multifunktionsrolle als Massenkurator, Animateur und Physiotherapeut glänzend bewährt", schreibt Eckhard Fuhr in der Welt (11.9.2017). "Ernst wird es, wenn sich die hüpfende und zappelnde Masse Herausforderungen wirklicher Körperbeherrschung stellen soll. Auf einem Bein stehen und dabei nach hinten schauen, da steigen viele aus." Tanzverächter könnten daraus "immerhin die Erkenntnis gewinnen, wie schwer der Beruf der 'Hupfdohle' ist", so Fuhr, "aber dieses Wort werden viele nicht mehr kennen, weil es in rauchgeschwängerten Herrenzimmern heimisch war, die es nicht mehr gibt. In Castorfs alter Volksbühne hätte man auf solchen Wörtern vielleicht ironisch herumgekaut und rauchend in Bühnenherrenzimmern herumgeknarzt."
"'Fous de danse' reiht Unterschiedlichstes aneinander, zeigt mal hier etwas, mal da etwas", gibt Fabian Wallmeier auf rbb online zu Protokoll. Was wolle Dercon damit erreichen – "mal abgesehen davon, dass es offenbar die banale Erkenntnis zu streuen gilt, dass Tanz ja ganz schön viele Formen hat?" Der Tanzgeschichte neue Perspektiven abzuringen, funktioniere nur in manchen Fällen, so Wallmeier. "Eine andere Möglichkeit: Dercon und Charmatz möchten einfach möglichst viele Berlinerinnen und Berliner ansprechen, mit einem Da-ist-für-jeden-was-dabei-Großprogramm in leichten Häppchen." Das sei "ein freundliches Signal zum Einstand, als künstlerisches Eingangs-Statement aber zu dürftig".
"Charmatz eröffnete das zehnstündige Tanzevent − so etwas wie ein bunter Strauß von vielfältigen Tanznummern, hochkarätigen Choreografie-Ausschnitten und Darbietungen von Kinder- und Jugendtanzgruppen − mit einer sehr charmanten, ironisch moderierten Erwärmung", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (11.9.2017), bekennt, nicht mitgetanzt zu haben und kündigt einen weiteren "tanzkritischen Bericht über die Höhepunkte, die am späteren Sonntagabend noch zu erwarten waren" an.
"So viel gute Laune, das passt doch nicht hierher, das ist doch geradezu eine Provokation!", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (11.9.2017). Tempelhof, die neue, temporäre Spielstätte des Dercon-Theaters, übe auf das Publikum eine starke Attraktion aus. "Aber das Geld, das dafür eigentlich notwendig wäre, hat Dercon nicht bekommen." So bleibe Tempelhof ein Abenteuer, ein Provisorium, ein Experimentierfeld. "Gut so vielleicht", so Schaper. "Dercons Kritiker halten sein Programm für glatt und austauschbar." Dieser Eindruck vermittele sich zum Auftakt nicht. "'Fous de danse' hat Charme und Kraft."
Dercon (...) hat Glück mit dem Wetter am Eröffnungssonntag, und die Menge, die abends auf dem Feld herumgegeistert sei, habe "zaghaft zunächst und dann doch zunehmend entschlossener mitgetanzt", schreibt Dirk Peitz auf Zeit online (11.9.2017). "Ob sie wiederkommen, aufs Tempelhofer Feld wie später ins Theater am Rosa-Luxemburg-Platz, wird sich herausstellen. Und auch, ob sie dort mehr erwartet als schöne Bilder, eine Gegenwartsanalyse zum Beispiel, die sich nicht nur in den Stanzen der Kuratorenlaberei äußert." Dercon sei am Sonntag zu sehen gewesen, "Castorf nicht, natürlich nicht. Mehr ist erst mal nicht passiert."
"Es waren strenggenommen keine Ur- und Erstaufführungen zu sehen. Es gab kein Sprechtheater. Und es war ein Event", schreiben Anke Dürr und Wolfgang Höbel auf Spiegel online (11.9.2017). "Als Suche nach der Begründung eines neuen, launigen Volksbühnengedankens, den man möglicherweise sogar tanzen kann, war das Volksfest auf dem Tempelhofer Feld am Sonntag gleichwohl ein Erfolg. Eine Mischung aus Tag der offenen Tür, Rave, Kindergeburtstag, Anschauungsunterricht in Tanzgeschichte und Mitmachtheater." Der große Berliner Theaterstreit sei für ein paar Stunden vergessen worden. Höhepunkt des langen Tages sei das finale Solo von Anne Teresa de Keersmaeker gewesen, so Dürr und Höbel: "Dieses Solo mag 35 Jahre alt sein, an diesem Sonntag war es die kühle, gelassene Eroberung der Tempelhofer Betonbühne – und eine Demonstration dafür, wie intuitiv, unaufdringlich und universell Tanz nicht als einzige, aber als gültige Theatersprache funktionieren kann."
Einen "neuen Volkshochschulspirit der Volksbühne" hat Christine Käppeler vom Freitag (13.9.2017) in Tempelhof erlebt. "Was fehlte, waren bis auf ein paar wenige Ausnahmen – Mithkal Alzghairs eindrückliches Solo 'Displacement' wäre so ein Beispiel – Konflikte, Brüche oder auch schlicht Herausforderungen. Reibung entstand nur, wenn die Körper der Tanzenden mit dem körnigen Betonboden des Vorfelds in Berührung kamen."
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An dem Tag war bundesweit Der Tag des offenes Denkmals auch im Denkmal Flughafen Tempelhof
Schwerpunktthema "Macht und Pracht"
Samstag, den 9. September und Sonntag, den 10. September 2017
Der Tag des offenen Denkmals findet bundesweit am 10. September 2017 statt, in Berlin am gesamten Wochenende 9. und 10. September. Das bundesweite Schwerpunktthema lautet "macht und Pracht"
Auf dem Vorplatz des wuchtigen, mittlerweile stillgelegten Tempelhofer Flughafen-Baus folgte eine kurze Einlage auf die nächste. Der Stilmix war Programm: nach Breakdance kam die Rekonstruktion einer minimalistischen Choreographie von Lucinda Childs. Schüler versuchten sich an "Le Sacre du printemps", der Syrer Mithkal Alzghair erzählte in seinem Solo "Displacement" von Flucht und Exil, bevor türkische Volkstänzer den Staffelstab übernahmen.
"Fous de danse möchte eine Tanzgemeinschaft stiften, um den Asphaltboden des Tempelhofer Flugfeldes mit der Sprengkraft der Körper aufzuladen." Die Realität war wesentlich nüchterner als diese pathetische Programmheft-Prosa: ein netter Ausflug nach Tempelhof und das klare Bekenntnis, dass Tanz in den nächsten Monaten eine feste Säule im bisher noch recht nebulösen Programm der Volksbühne sein wird.
Komplette Kritik: https://www.freitag.de/autoren/kulturblog/fous-de-danse-auf-dem-tempelhofer-feld
schön für dich! dir gehört die Zukunft! echt prima argumente gegen die "theaterleute"... paßt voll ins konzept des ortes
"Das Tempelhofer Feld ist in erster Linie eine urbane Grünfläche. Naturschutz, Erholung und individuelle Aspekte der Freizeitgestaltung stehen im Vordergrund. Für viele BerlinerInnen ist gerade dieser ursprüngliche Zustand des ehemaligen Flugfeldes wichtig. Veranstaltungen und kommerzielle Formen der Freizeitgestaltung finden auf dem Tempelhofer Feld daher nur in begrenztem Umfang statt."
https://gruen-berlin.de/tempelhofer-feld/veranstaltungen
gut hat es für mich der rrb beschrieben - wahrscheinlich hat dercon die VOLKSbühne einfach mit einem VOLKSfest verwechselt oder er hat sich vielleicht gedacht:
"Sieben Stunden "Faust" zum Castorf-Abschied? Pah, wir machen zehn Stunden "Fous de danse"!
https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2017/09/Dercon-Premiere-Tempelhofer-Feld-Volksfest-Volksbuehne.html
selten wurde auch so ausführlich über das wetter geschrieben und über ein gerücht, das sich nicht bestätigt hat:
"Volksbühne/ No problems/ Nur Probleme" steht auf roten Plakaten in der Eingangshalle des Tempelhofer Flughafengebäudes. Die Plakate, auf denen ein Rollkoffer abgebildet ist, sind ein ironischer Kommentar zur Wühlarbeit jener Berliner Dercon-Hasser, die in den vergangenen beiden Jahren verbreiteten, dass der Mann und seine Mitarbeiter Teil einer international operierenden, irgendwie ortsfremden und also verdächtigen Künstlerclique seien.
... eine Menge oft wirre Mobbingparolen, mit denen Berliner Kulturmenschen aggressiv Vorbehalte äußerten
Das Programm, das er (dercon) und seine Mitstreiterin Marietta Piekenbrock verkündet haben, versucht eine Austreibung des Geistes der Castorf'schen Volksbühne " (be??)
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/volksbuehne-chris-dercons-tanz-auftakt-auf-dem-tempelhofer-feld-a-1167102.html
... Der Mond jedenfalls ist aufgegangen überm Tempelhofer Feld
... Tatsächlich bestätigen sich Gerüchte von vermeintlich geplanten Störaktionen an diesem Tag nicht.
... Das Abendlicht am Sonntag nun zeichnet die monströsen Kanten des alten Flughafenbaus weich
... Man erinnert sich in diesem Augenblick auch des traurigen Abschieds der alten Mannschaft vor ein paar Wochen. Noch einmal waren alle drinnen versammelt und traten dann hinaus aus dem irgendwie ja auch bunkerhaften Bau am Rosa-Luxemburg-Platz. Was ein Volksfest werden sollte, ersoff im Dauerregen, und der scheidende Intendant Frank Castorf bellte eine unversöhnliche Abschiedsrede hinaus ins Dreckswetter, in der es nicht um Bilder ging, sondern um eine Haltung des Widerstandes. Letztlich war das jedoch bloß die Rede eines alternden Mannes, der sich und die Seinen für die letzten Aufrechten zu halten schien – das ist ja eine alternden Männern oft sehr eigene Sicht auf die Welt."
und dann ... mitten im gleichen artikel - der peinliche versuch für dercon weitere fremde federn von rené pollesch, heiner müller und bert neumann an sein revers zu klauen (wie es beim facebook account ja den unmut erst ins rollen brachte) ...
... "Das müsste René Pollesch gefallen, der liebt doch diesen amerikanischen Kitsch. Und dieser für die alte Volksbühne so prägende Regisseur hat ihn ganz ähnlich auch inszeniert vor zwei Jahren, Keiner findet sich schön hieß das Stück." (charmatz nach pollesch?)
… „Vielleicht will Dercon am Ende vor allem neue Bilder produzieren ... Auch die alte Volksbühne wird vor allem als Bilderproduktionsmaschine in Erinnerung bleiben, die der große und viel zu früh gestorbene Raummacher Bert Neumann den Regisseuren des Hauses hingestellt hat. „
http://www.zeit.de/kultur/2017-09/volksbuehne-eroeffnung-tempelhof-chris-dercon-boris-charmatz/seite-2
"Unter Friedrich Wilhelm I. wurde es ab 1722 auch als militärischer Parade- und Exerzierplatz sowie als Manövergelände der preußischen Armee verwendet. Die Funktion als Paradeplatz erhielt sich bis zum Frühjahr 1914."
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Tempelhofer_Feld
@9 "reformbewegter Massentanz" ist unsinnig, denn gerade die Lebensreformbewegung wendete sich als zivilgesellschaftliches Engagement gerade gegen den "Massentanz" preußischer Drill!
Wer gedient hat, in einer deutschen Armee, der kennt das befreiende Gefühl, die Uniform abgegeben zu haben und nackig an den Strand zu rennen.
Für Herrn Dercon und Herrn Charmatz wäre es DIE Chance gewesen, hier sehr ernsthaft loszulegen. Belgische und französische Kolonialgeschichte (Achung, Humor: Auch Ostdeutschlands durch sie selbst!) hier zu fokussieren... inhaltlich, also bei der Kulisse, das ist Decor genug.
Tja, die Volksbühne ist hin, die Geister die ich rief, die werd ich nun nicht los...
Hat der alte Hexenmeister
sich doch einmal wegbegeben...
Lieber Frank, in zwei Jahren holen sie dich zurück, dann musst Du einen Zauberspruch parat haben, damit der Brei nicht mehr alles zukleistert.
Niemand hat etwas gegen tanz- und familienfreundliche Veranstaltungen zum Tag der Denkmäler. Da steht dann auch niemand und brüllt: Chris ich hasse dich!
Wer so etwas erwartet hat, der versteht nur den Bodensatz der Debatte. Es ist eben keine Hasskultur. Es ist eine Debatte in der Hochkultur. Und die kann man nicht einfach weg tanzen.
Wo ist der neue historische Ansatz, auf den wir alle so dringend warten?! Wo?!
Dercon kommt zu spät. Sein Feld ist in Berlin schon längst bestellt worden und blüht kräftig. Da wartet niemand auf kosmopolitische Stütze. Es fehlt in jeder Hinsicht an dem Esprit den niederschwelligen Streitraum endlich zu verlassen und sich mit den Mitteln des Theaters in die Entwicklung Europas politisch, inhaltlich und ästhetische einzumischen.
http://www.rbb-online.de/abendschau/archiv/20170910_1930/volksbuehne-tempelhof-choreografie-zum-mittanzen.html
Eine Auseinandersetzung in diesem Forum bringt ja nichts mehr, weil hier gefühlt 98% der Teilnehmer die Dinge mit gleichen Augen sehen. In ein paar Monaten werden wir sehen, ob das Programm der neuen Volksbühne seine Zuschauer finden wird oder nicht. Ich bin optimistisch.
Immerhin ist das auch anderen aufgefallen, zum Beispiel hier: https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/journal/saisonauftakt-an-volksbuehne-kein-tanz-auf-dem-vulkan/-/id=659282/did=20262426/nid=659282/1r895mb/index.html
"Konsenskultur"? Was zum Teufel soll das sein?
Herr Wassmann, ich frage Sie was für einen Wert eine Gemeinschaft hat, die keinen Dialog angehen kann bzw will. Es findet ja keine Auseinandersetzung statt.
Wenn ich nur willige Mitmacher willkommen heisse wiederhole ich exakt das Verhalten welches ich angeblich zu durchbrechen suche. Es ist eine autoritäre Haltung welche ja nicht verboten ist. Sie steht jedoch im direkten Widerspruch zum "Neudenkenen der Strukturen", oder der hochgehaltenen Kollaboration.
Um einen Dialog zu führen benötigt man eine Position die man vertritt, zur Kollaboration ebenfalls.
Darf ich daran erinnern, daß die Punkte der Kritik genauso divers sind wie die Menschen die sie formulieren. Es ist keine gleichgeschaltete Wolke. Viele, ich möchte meinen die meisten der Kritiker habe wertvolle Zeit darauf verwendet die eigenen Gedanken in Frage zu stellen, Antworten zu finden, Zeit zu geben, Interviews zu besuchen, Texte zu lesen.
Frau Piekenbrock sagte neulich im Inforadio, daß noch viel "Aufklärungsarbeit zu leisten sei". Gerne! Sie stellte die Situation als einen Mißverstand des Publikums dar- der kann doch aber nur dann entstehen, wenn nicht oder inhaltlich unzureichend kommuniziert wird.
Es geht um Gemeinschaft und das Fehlen der solchen im heutigen Klima! Die Antwort kann aber nicht sein immer neue Begegnungsorte zu schaffen wenn man (sich) eigentlich nichts zu sagen hat.
ich bin hier ganz bei @martin baucks, denn es ist und bleibt unvergessen, wie (und mit welchen argumenten) ein palast der republik in ein schloß für koloniale exponate rück-verwandelt wurde und auch die rosinenbomber hatten sich in tempelhof den gleichen platz wie das kz columbia geteilt. also wirklich viel geschichte - und so anders, als die der volksbühne - die neuerdings auch diesen RAUM gemietet hat - und zwar freiwillig (auch wenn es m.m.n. nach an größenwahn und verschwendung erinnert, wenn das stammhaus leer ist ...)
jedoch scheint es viele freunde der geschichtsvergessenheit zu geben, die sich vor allem über das schöne wetter und die schöne gemeinsamkeit zu freuen - da braucht es natürlich auch keine eröffnungrede, sondern einfach nur musik und tanz ...
doch erlebte geschichte kann nicht einfach weg-getanzt werden und auch "an-tanzen" kann viele unterschiedliche motive haben ... und ich farg mich gerade, wie ich hier an der tastatur meine gedanken tanzen soll? (ist diese frage schon verwerflich in den augen der tänzer?)
boris charmatz ist fraglos ein wunderbarer tänzer, doch selbst er hatte ja an diesem tag ein mikrophon gebraucht ... er wollte doch nicht ernsthaft eine tänzerische gemeinsamkeit mit dem publikum auf augenhöhe herstellen, wie mit seinen kollegen und auf einen bestimmten niveau der kunst? klar - an einem theater ist es möglich, das ganze publikum mit auf die bühne zu holen - vielleicht ist ja dies die konzeptionelle zukunft, von der immer so diffus geredet wird? also einfach dabei sein? egal zu welchem inhalt? klingt das nicht wie "volks-gemeinschaft" und ist es wirklich erstaunlich, dies immer und immer wieder und weiter zu hinterfragen???
warum soll das "hass" sein? natürlich kommt wut auf, wenn man keine klare antwort erhält, sondern nur weitere schwärmereien von der zukunft, die doch keiner kennt und jede frage nach der geschichte (dem woher und wohin) als altbacken und gestrig bewertet wird?
ich möchte nix "zelebriert" bekommen und wenn ich lese "Wir wollen Gemeinschaft zelebrieren, auch wenn wir nicht immer miteinander einverstanden sind - und auch wenn das geld dafür nicht reicht", sagte Dercon zu seiner Premieren-Veranstaltung."
https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2017/09/volksbuehne-Tempelhofer-Feld-fous-de-danse.html
erwarte ich nur das schlimmste ...
mir jedenfalls hat die echte volksbühne dafür - auch ganz ungefragt - unendlich viele kluge antworten gegeben und bert neumann hatte mit die klügsten (auch er sprach durch formen - doch es war selbstverständlich, dass diese durch seinen kopf gingen und sich auch in worte fassen ließen) ...
"So unterschiedlich die Regiehandschriften von Castorf und Pollesch von außen betrachtet erscheinen mögen, beide sind Künstler, die ihre Position als Regisseur nicht missbrauchen ...
Also aus welcher Perspektive heraus werden das Theater prägende Entscheidungen getroffen: aus der Perspektive der Kunstproduktion oder aus der Perspektive der Kunstverwertung?."
http://www.theaterderzeit.de/buch/bild_der_b%C3%BChne%2C_vol._2__strich__setting_the_stage%2C_vol._2/33008/2/
Zwei Berichte zu Veranstaltungen über Partizipation und Gemeinschaft:
Raimar Stange zum Workshop “Hands off our Revolution”
https://rhizome.hfbk.net/posts/15556
Der Bericht zum Democracy Lab der SZ:
http://www.sueddeutsche.de/politik/democracy-lab-im-container-freiheit-zum-andersdenken-1.3614613
Wäre es möglich, dass de Keesmakers, bei Charmatz, bei Piekenbrock und auch bei Dercon selbst sehr lange zurückliegende Verletzungen vorliegen? Verletzungen über Kritik an und Ignoranz gegenüber ihren ganz weit zurückliegenden Arbeiten?? So dass sie bei jeder Gelegenheit das Alte erneut als ihre Innovation anbieten müssen und nichts Neues hervorbringen können, weil sie es noch gar nicht wollen, ehe das Alte nicht verstanden wurde? Haben sie vielleicht mit dem wichtigsten Wesensmerkmal der Theaterkunst – auch des Tanztheaters – Schwierigkeiten, weil es ihnen persönliche Pein bereitet? Schwierigkeiten, gerade das Flüchtige, die Erzeugung des Augenblicks im Augenblick als Gemeinschafts-Erlebnis überhaupt als Wesen ihrer Kunst wirklich zu lieben, zu provozieren und auszuhalten?, undsoweiter… Müssen sie deshalb die feststehenden Häuser eher fliehen, immer hin zu neuen Orten, die ihnen auch nur neue Flüchtigkeit bescheren?
#19 Lieber marie, versuchen Sie es mal wie Jerry Lewis in der berühmten Schreibmaschinenszene, es geht auch nach anderen Rhythmen, aber für den Einstieg ist dieser Gedankentastaturtanz prima geeignet!
Wer ist bei dem Bildungsangebot "WIR"? -
Wir, die wir euch hier anleiten/mit euch üben, einer Demokratie würdig, zu streiten?
Wer genau sind diese Wirs, die dafür Räume anmieten können, als Moderatoren gewiss bezahlt werden und die Ergebnisse ihrer gewiss vollkommen uneigennützigen "Sozialforschungs"-Arbeit medial verwerten können?
Anders als z.B. die eremitierte Arlie Russell Hochschild (*1940), die aus Neugier auf Trumps wichtigste Wähler aus Kalifornien für fünf Jahre durch u.a. Texas zog um als mittlerweile Privatfrau Privatleute zu treffen, um die Beweggründe ihres Wahlverhaltens besser verstehen zu können. Die dabei erstaunliche Paradoxien der Macht-Ausübung erkannte und privat sehr viele ihr wohlgesonenne und freundliche Menschen getroffen hat, die Sachen dachten und machten, die sie vermutlich in ihrem beschaulichen intellektkuscheligen Berkely noch vor fünf Jahren zum wochenlangen Sitin bei stündlicher Geißelung mit Horkheimer gebracht hätten! - Es ist mir eine Ehre, Hochschild zitieren zu dürfen:
"Letztlich ist eine Demokratie auf die kollektive Fähigkeit angewiesen, Dinge in eingehenden Gesprächen zu klären. Um dorthin zu gelangen, müssen wir herausfinden, was vorgeht - besonders in der sich rasch wandelnden und stärker werdenden Rechten."
Ich möchte mehrere SOS-Wörter, die für eine Philosophie der Zeit zu tun, also dringendst als Begriffe zu denken, anstehen, aus diesem nur einen Satz hervorheben:
1. KOLLEKTIVE Fähigkeit
2. ANGEWIESEN
3. EINGEHENDE
4. GESPRÄCHE
5. KLÄREN
6. ZU GELANGEN
7. herausfinden, WAS VORGEHT
8. besondes RASCH
9. BESONDERS stärker werdend.
1 Std ·
"Dass der neue Volksbühnenintendant mit Tanz beginnt, könnte eine Stärke sein. Es ist ein Statement."
>> https://jungle.world/artikel/2017/37/dit-berlin
50 Min
>> Ich war dabei und kann mich nur anschließen. Eine Bereicherung für Berlin und seine Kulturszene!
46 Min
>> Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg und Vietnamkrieg sollen durch in der Luft wedelnde Arme symbolisiert werden. „Ich will more Angst sehen!“ plärrt der Animateur ins Mikrophon. In unmittelbarer Entfernung, hinter einem Zaun, leben Flüchtlinge in Containern. Weiter wedeln Arme durch die Luft. Dit is‘ Berlin: Keine Form, kein Inhalt, aber Hauptsache Event. Der Mittelstandsgymnastik überdrüssig verlasse ich den Ort.
39 Min
>> das ist ja wirklich unfassbar, was für eine schande für berlin und die kulturszene....
10 Min
Was wäre gewesen, wenn es geregnet hätte und kein Tag des offenen Denkmals gewesen wäre?
Volksfeste gibt es viele in Berlin, gutes Theater an den fünf+ Bühnen auch. Aber ist Theater Volksfest? Und dann noch eines das in seiner Belanglosigkeit erstickt?
Mir hat das keine Freude bereitet, was an diesem Nachmittag geschah.
Und wo war eigentlich der Renner?
Ich hätte mir ein innovatives Programm gewünscht. Ich hätte mir Theater gewünscht, ein wenig nur.
Bin nun auf die nächsten drei Abende gespannt. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
hat jemand nur einmal über Sasha Waltz dialoge an diesem Abend zu den Hauseröffnungen im Jüdischen Museum, im Neuen Museum oder in der Elbphilharmonie nachgedacht. Wie kann man aktuell Orte betanzen, neu denken und innovativ sein. So etwas wäre großartig gewesen!
Da Sie mich direkt ansprechen- ich habe weder etwas gegen Flüchtigkeit noch Zerbrechlichkeit. Tanz finde ich wunderbar wenngleich es nicht mein Steckenpferd ist. Ich habe einiges z.B. in Belgien gesehen, u.a. De Keersmaeker, Cherkaoui, Jan Martens; zudem in anderen Ländern wo ich gerne Tanzvorstellungen besuche, wenn ich die Sprache nicht spreche (sic); trotzdem sehe ich auch in so einem Kontext gerne Theater oder Film.
Wie es so ist, kann ich in Altem gleichviel Relevanz oder Schönheit entdecken wie in Zeitgenössischem. Manchmal steht hinter den Werken ein Ausrufezeichen, manchmal ist es ein vergessenes Anderes, etwas Vergängliches oder etwas zufällig Entdecktes. (Es gibt natürlich immer auch schlechte Arbeit.)
Mein Herz gehört den bildenden Künsten, auch hier gibt es zahlreiche Damen und Herren, die meisterhaft den Ausdruck finden, sei es manchmal nur für eine halbe Minute, in einer einzigen Arbeit, eventuell später von der Natur abgetragen oder (zu Lebzeiten) ungesehen.
Mir bereitet die direkte Auseinandersetzung mit Flüchtigkeit oder Gemeinschaft kein Leiden, im Gegenteil.
Was mir unerträgliche Pein bereitet ist Hypokrisie.
Ich kenne Ihren Hintergrund nicht, DR. Wenn Sie aber -so wie ich- mit der knochenharten Schacherei hinter den Kulissen in erster Person vertraut wären, wäre eventuell auch Ihr Blick ernüchtert.
Das neue Management der Volksbühne ist kein Opfer (ich verstehe nicht an welcher Stelle in der Argumentation Künstler wie Charmatz oder De Keersmaeker ins Spiel kommen).
Verletzlichkeit zu empfinden, da bereits Geleistetes nicht anerkannt wird ist ein schmerzliches Gefühl. Es wird geteilt mit hunderdtausenden Kreativen oder sonstwie Werktätigen auf dieser Welt.
Es gab Zeit und Geld, mehr als den meisten anderen in dieser oder anderen Städten zur Verfügung steht.
Ich kann durchaus Sympathie empfinden für das Verlangen einen Wechsel zu vollziehen, Neuland aufzusuchen. Jedoch sind Dercon und Piekenbrock keine Akademiestudenten. Sie haben sich an höchst prominenter Stelle verpflichtet und liefern trotz der finanziellen Watte und grosszügiger Schonzeit nicht.
Ihr letzter Satz verwirrt mich: wie ich Sie verstehe sprechen Sie eine Art Nomadentum an, das Getriebene. Die neu eingeführten Strukturen befördern dies. Es gibt (bis jetzt) keine offizielle Bestätigung einem Künstler für längere Zeit ein Obdach zu bieten. Schade, oder?
Wenn man sich die Spielplanrecherche von Raban Witt anschaut, bleiben von den hier behaupteten „zwölf eigenen Neuproduktionen“ allerdings nur zwei Schauspielproduktionen übrig: https://nachtkritik.de/images/stories/pdf/2017/2017_08_16_Spielplan-Recherche-Volksbuehne_Stand-16_8_17.pdf
Auch wenn jetzt alle Kritik mit Hass und Mobbing gleichsetzen, muß es noch erlaubt sein, Dercon an seinen eigenen Behauptungen zu messen und ihren Wahrheitsgehalt zu recherchieren. Aber sicher ist er auch imstande, „Neuproduktion“ passend umzudefinieren, wie er das auch mit „Ensemble“ und „Repertoire“ tut.
Wie viele Vorstellungen gibt es bis Weihnachten im BE? Wieviele in der Volksbühne? Geben wir Dercon 100 Tage, hieß es heute in einem der Berichte. Möge er gehört werden!
Ihre Beobachtung ist gut: Kritik wird mit Hass und Mobbing gleichgesetzt.
Das habe ich so noch gar nicht gesehen. Aber es stimmt. Sobald ich auch im mündlichen Gespräch etwas mehr auf inhaltliche Frage eingehe, zuweilen konfliktorientiert, heisst es, ich solle an meinem Ton arbeiten!
Das müssen Sie sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Wer in der Burg sitzt und seine Ressourcen absichern will, der oder die sagt, der oder die andere solle am Ton arbeiten, weil sie sich Kritik einfach verbieten! Das ist normalerweise der Zustand von Diktaturen in der Endphase - zumindest, was ja seit der Wende gemacht wird, blickt man auf die DDR. Also an Mief ist das hier auch nicht mehr zu überbieten! Unglaublich!
(...) Allen Beteiligten, die zusammen mit Herr Dercon in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten sind, alle diese Protagonist*innen eint: Sie hassen Konflikte! Sie verbieten sich Konflikte! - Deswegen auch so ein rumgehampel und weiche Schmuseagitation von happy together und wir haben uns alle lieb!
Persönlicher DR-Hintergrund bekannt oder nicht - War es denn so schlimm, dass mir ausgerechnet bei u.a. Ihrem Kommentar solche Gedanken gekommen sind?
Oder war es schlimm, dass ich das so freimütig hier schrieb?
Oder war das schlimm, dass diese nk-Redaktion das einfach als geäußerte Gedanken veröffentlicht haben und nicht auf Behauptungen, Beleidigungen oder Besserwissen bei Kommentaren bestanden?
(...)
Ha irgendjemand mal die Zahlen überprüft, wie viele Besucher Tempelhof denn an einem regulären Sonntagnachmittag hat? Ganz ohne Tag der offenen Tür, oder was auch immer?
Also wenn ich jetzt auf dem Alexanderplatz performe, mit Licht und Feuerwerk und allem drum und dran, und Texten von Heiner Müller, und wenn ich dann alle, die so oder so da sind, und kommen und gehen, weil sie shoppen wollen, als meine Zuschauer zähle, und noch einen echten Streit in den Feuilletons vorher anzettele, komme ich dann tatsächlich auf dieser Seite ebenfalls in die nachtkritik-Charts?! Neben all den ernsthaften Anstrengungen anderer Häuser Inszenierungen, wie auch immer, für Zuschauer zu schaffen, die nicht mal nur eben umsonst vorbeischauen?!
Das wäre dann mal wirklich eine Lektion, die hier den Kritikern dieser Vorgänge erteilt würde, wenn sie nicht so durchschaubar wäre. - Und dann noch all die Kritiker zusätzlich in die Ecke stellen, zu all den anderen Hatern aus dem Netz und der AFD.
Vielleicht sollten man sich dann doch nochmals die Erstunterzeichner der Petition betrachten, lauter Künstler, Literaturwissenschaftlerinnen und Kuratoren und Kuratorinnen, die jetzt doch nur aus Höflichkeit schweigen, oder weil man ihnen fortwährend mit dreisten Dummheiten vor den Kopf stößt.
Und ganz sicher werden die nächsten, wenigen Vorstellungen im Hanger auch ausverkauft werden, und ein „voller Erfolg“. Kein Wunder bei nur vierhundert Plätzen, statt eintausend, wie angekündigt. Vierhundert Plätze, während in Berlin Mitte ein Haus mit neunhundert Plätzen leersteht und darauf wartet wirklich eröffnet zu werden, im November. Zermürbungstaktik statt Theater, auch eine Strategie, eine echte Einladung zum mitmachen, aber nicht an die Vierzigtausend, die wahrscheinlich nicht kommen werden und den Kern des gewachsenen Publikums abbilden dürften. Aber was sind schon 1,5% aller Wahlberechtigten in Berlin? Für eine Partei wenig, für ein Theater alles.
(Werter Martin Baucks, die Charts erfassen seit ihrer Einführung 2011 allwöchentlich herausragende Theatererreignisse, die besonders kontrovers oder euphorisch diskutiert werden. In der Regel sind es Repertoire-Produktionen, manchmal auch Tourneestücke und Gastspiele. Auch ein kollaboratives Event wie die 24h-Tour "Unendlicher Spaß" 2012 am HAU war schon dabei. Aber Sie haben natürlich Recht: In diesem Fall schlägt der Konjunktiv in unserem Charts-Motto unerbittlich zu: "Was müsste ich eigentlich mal angucken", wenn ich denn noch einmal könnte.... Mit besten Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
Was ist so schlimm daran, wenn aus dem einfacheren englischsprachigen oder französischsprachigen Gebrauch in einem nun einmal deutschsprachigen Land n i c h t auf dem Begriff Kollaboration beharrt wird, sondern man als Gast im betreffenden Fach "Zusammenarbeit" sagte?
Im Deutschen ist der Begriff "Zusammenarbeit" weniger mit dem Meta-Bereich "Geheimnis, Hinterhalt und Verrat" bei Zusammenarbeiten verknüpft als der Begriff "Kollaboration"- kann man dem nicht auch Rechnung tragen? Allein aus Höflichkeit und Achtung denjenigen gegenüber, die in der Nazi-Zeit Opfer von Kollaborateuren geworden sind und die heute wissend um ihre eigene Schuldlosigkeit am Nationalsozialismus zwar wissen, gleichwohl ihn als Geschichtsgepäck ständig in ihrem Bewusstsein Gegenwart wertend herumtragen?
Muss man jeder Mode gleich widerspruchslos folgen? Auch jeder Sprachmode, nur weil man beruflich mit Sprache umgeht, lieber Christian Rakow?
(Liebe DR, in aller Anspielungsfreude darf so ein Begriff schon auch mal fallen. Nicht als sklavisches Hinterherbeten und ebenso wenig mit der ganzen Last der Geschichte beschwert. Jetzt aber bitte zurück zum Thema, also zu dem zusammenarbeitsvollen Tanz-Event des Wochenendes. Herzlich, Christian Rakow/Redaktion)
Zugegeben es dauert offiziell nur sechs Stunden dafür aber ohne Presse und in Koeln Mülheim.
http://m.schauspiel.koeln/
Vom aufgeheizten Klima des Berliner Theater-Streits war in der knappen Stunde kaum etwas zu spüren. Im Gegenteil: das Gespräch plätscherte im gefälligen Plauderton vor sich hin. Peter Raue, der sowohl Dercon als auch das BE juristisch beraten hat, beschränkte sich auf die Rolle eines Stichwortgebers, so dass erst spät eine halbwegs lebendige Diskussion zustande kam.
Diese entzündete sich an Dercons Konzept des Reenactments historischer Aufführungen: zur Eröfnung des Hauses am Rosa Luxemburg-Platzes wird er dies am Beispiel von Samuel Beckett vorführen. Als er darüber sinnierte, dass er gerne Einar Schleefs „Sportstück“ nach Jelinek, einen siebenstündigen Exzess mit von der Decke baumelnden Schauspielern, nachspielen möchte, schüttelte Reese energisch den Kopf. Schleef sei lange tot und sein Monolog das Herzstück des Abends, der nicht einfach zu ersetzen oder zu imitieren sei. Das könnte höchstens Martin Wuttke, der das aber niemals tun werde.
Meinungsverschiedenheiten wurden auch deutlich, als Reese schilderte, in welch engem Takt er die ersten Premieren am Berliner Ensemble präsentieren wird (neue Inszenierungen u.a. von Antú Romero Nunes, Mateja Koleznik, Michael Thalheimer, David Bösch, sowie mehrere Berlin-Premieren von Stücken aus dem Frankfurter Repertoire). Dercon seufzte, dass er schon vom Zuhören dieser Aufzählung erschöpft sei, und erklärte, dass er sich an seinem Haus mehr Zeit für die Proben nehmen wolle, da Theater und Tanz nicht wie in einer „Maschine“ produziert werden sollten.
Ansonsten bot die Diskussion kaum Neues: Reese sang erneut das hohe Lied auf zeitgenössische Stoffe und das „well-made play“, rühmte die Stars des Ensembles als Publikumsmagneten und schimpfte über das „postdramatische Fieber“. Dercon erzählte stolz, dass er dem Berliner Publikum in dieser Spielzeit zwölf neue Inszenierungen und irgendwann auch ein Mehrspartenhaus-Ensemble aus Schauspielern und Tänzern präsentieren werde. Sein Anwalt Raue machte gar nicht erst den Versuch, ihm mit weiteren Nachfragen konkrete Details zu entlocken. So blieb der eloquente Kulturmanager im Allgemeinen und erntete für seine wolkigen Statements mehr Applaus als sein Sitznachbar Reese.
Nach einer kurzen Runde von Publikumsfragen war die Diskussion dann auch schon beendet: nette Plauderstunde statt des angekündigten Mottos „So ein Theater!“
Kompletter Bericht: https://daskulturblog.com/2017/09/11/so-ein-theater-chris-dercon-und-oliver-reese-plaudern-zum-saisonauftakt-in-der-urania/
Die Besucher dürfen es sich auf Decken auf dem harten Asphalt des Hangar 5 des stillgelegten Flughafens Tempelhof bequem machen. Dazwischen zieht der kalifornische Tänzer Frank Willens seine Kreise. Er war zuletzt in Falk Richters fulminantem „Fear“ (2015) an der Schaubühne zu erleben. „Fear“ wäre auch ein passender Titel für diese Performance. Nackt und schutzlos, mit oft angstverzerrtem Gesicht, taumelt Willens zwischen den Besuchern. Er ist kein Teil der Gemeinschaft, die in den programmatischen Texten des Volksbühnen-Teams eine zentrale Rolle spielt.
Diese Tanzeinlage ist eindrucksvoll, aber nicht neu: 2013 gastierte Frank Willens (gemeinsam mit Boris Charmatz und Andrew Hardwidge) bei der Jubiläumsausgabe von „Tanz im August“ im HAU, das mit der Volksbühne in den kommenden Monaten wohl noch öfter um dieselben Publikumssegmente konkurrieren wird. „Ohne Titel (2000)/ untitled (2000)“ ist diese Choreographie überschrieben, die Tino Sehgal in den ersten Jahren noch selbst getanzt hat. Als Streifzug durch die Tanzgeschichte des gerade zuende gegangenen 20. Jahrhunderts hat er diese 50minütige Arbeit damals konzipiert.
Als verzweifelte Kreatur fletscht Frank Willens die Zähne: Wie ein Zombie bahnt er sich den Weg, bevor er sein Solo mit einer Live-Pinkel-Aktion beendet, die vor 40 Jahren anarchisch gewirkt haben mag, heute recht gleichmütig vom Publikum aufgenommen wurde.
Nach meditativer Entspannungsmusik folgte erst noch eine längere Umbaupause. Das als Highlight des Abends angekündigte „10.000 Gesten“ sollte laut Programmheft eigentlich organisch aus den vorherigen Teilen des insgesamt 6,5stündigen Abends entwickelt werden: „Zusammen nimmt man eine Mahlzeit ein, bevor sich eine Gruppe langsam aus der Gemeinschaft herauszuschälen beginnt.“
Zu einer Aufnahme von Mozarts Requiem in D minor K.626 unter Herbert von Karajans Dirigat toben die Tänzerinnen und Tänzer über die Bühne. Die zarte Musik und die grobschlächtigen Gesten stehen in einem scharfen Kontrast. „Die Sinne schärfen. Sich ins Detail versenken. Das Gesamte vom kleinsten Teil denken. Lauschen. Flüstern. Klein werden. Raus aus dem Totalzusammenhang. Kommt zusammen!“, postete das Social Media-Team der Volksbühne am 1. August. Das krasse Gegenteil davon bekommt das Publikum in „10.000 Gesten“ geboten: hektisches Gebrüll, lautes Röcheln.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/09/14/a-dancers-day10-000-gesten-tanz-im-hangar-tempelhof/
( Berliner Zeitung, Artikel aus dem Jahr 2012)
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zur Urania-Veranstaltung. Es wurden kritische Fragen gestellt, sehr höflich, und auf gewohnte Weise von Dercon eher ausweichend beantwortet. Harte Fragen oder gar Proteste wären einem „Shitstorm“ zugeordnet worden, da braucht man sich gar nichts vormachen.
Hochinteressant fand ich, wie Dercon auf die Aufzählung von Reeses Premieren reagierte. Er meinte nämlich, er wäre schon erschöpft vom Zuhören der Aufzählung. Und weil er da einen kleinen „Lacher“ aus dem Publikum bekam, setzte er später noch einen drauf. Reese sagte sinngemäß, es wären jetzt am laufenden Band Entscheidungen zu treffen und Dinge fertigzustellen, damit der Premieren-Reigen funktioniere. Worauf Dercon entgegnete, da könne man doch alles mit viel mehr Ruhe machen, ohne diese Maschinerie, das wäre dann viel besser (Beifall aus dem Publikum). Hmmmh!
Maschinerie meint nicht nur Ensemble, wie es einige interpretiert haben, meint aber vor allem die Gewerke, die sich aufgrund fehlender Auslastung Sorgen machen und Fragen stellen.
Wir haben hier ein Theater, dass bisher hauptsächlich ein Sprechtheater war, dessen Mitarbeiter es gewohnt sind, hart zu arbeiten. Dessen Schauspieler Höchstleistungen gebracht haben. Dessen Technik (inkl. Drehbühne) auf Theater zugeschnitten ist. Auf der anderen Seite haben wir einen „I want to be free“-Intendanten, der mit seinen seltsamen Vorstellungen die Strukturen des Hauses, um die es weltweit beneidet wird, gefährdet. Warum lässt man das zu? Dercon besteht in der Ensemble-Frage im Unterschied zu Reese darauf, dass er ideelle Verbindungen knüpfen wolle, nicht juristische, wie es feste Arbeitsverträge darstellten. Er selbst weiß einen geschlossen Vertrag schon sehr zu schätzen. Ich sehe hier eine gravierende Inkompatibilität. Dercon und das Haus Volksbühne passen nicht zueinander. Daran ändert auch ein Vertrag nichts.
Am 12. 9. 17 erschien in der Jobbörse des Deutschen Bühnenvereins die Anzeige, dass ein neuer Geschäftsführender Direktor gesucht würde. Dem Vernehmen nach stand Thomas Walter im Übergang loyal zu Dercon. Was hat das zu bedeuten?
http://www.berliner-zeitung.de/kultur/theater/volksbuehne-chris-dercons-stellenplan-wirft-fragen-auf-28425956
Allerdings hat Dercon bei der Anhörung im Abgeordnetenhaus am 26. Juni 2017 noch selbst verkündet: "Wir haben auch Medienpartner gewonnen wie den „Tagesspiegel“, RBB, „Zitty“, „Exberliner“, „Siegessäule“, und wie gesagt, wir haben Ko- produzenten wie ARTE."
https://www.parlament-berlin.de/ados/18/Kult/protokoll/k18-008-wp.pdf
(Sehr geehrter Gernot, die Pressestelle der Volksbühne erklärt, dass der Tagesspiegel bisher nicht Medienpartner der neuen Volksbühne war und es auch nicht sein wird. Chris Dercon sei bei seiner Aufzählung im Kulturausschuss ein Fehler unterlaufen. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Wenn Dercon sich eine fertige Produktion, die schon vor fünf Jahren in Auftrag gegeben wurde, aus Manchester bestellt, wie eben das Tanzstück „10000Gesten.“, dann braucht er tatsächlich nur noch einen Produktionsleiter, der ihm das Ding vor Ort gemeinsam mit den Machern richtig einrichtet, denn der eigentliche Produktionsprozess ist ja längst abgeschlossen, die Produktion muss nur noch auf den jeweiligen Gastspielort ausgerichtet werden.
Das sind Strukturen eines Gastspielhauses. Und die schafft er nun auch im Stellenplan. Er braucht Kuratoren, die die Torte sichten und einkaufen, danach Produktionsleiter, die die fertige Torte vor Ort installieren, und drum herum Öffentlichkeitsarbeiter, welche die Torte vermarkten.
So einfach ist das. Die neuen Stellen sind nicht die Alten, nur mit einem neuen Titel oder Namen.
Wenn Sie aber eine Schauspielproduktion selber fertigen wollen, dann brauchen Sie den Betrieb, die Gewerke, die Dramaturgie und die Regie, so wie der Konditor seine Rezeptur benötigt, den Ofen und die vielen anderen Fachleute, die ihm zuarbeiten.
Ein Dramaturg wie Hegemann stellt ja nicht nur Strichfassungen her und editiert Programmbücher, er denkt auch nicht nur eine Torte, er denkt ein ganzes Sortiment von Torten zusammen, und dieses Sortiment nennt man Ende meistens eine Spielzeit.
Wenn Dercon diese Abteilung abschafft und die festen Regiestellen dazu, dann baut er sich einen Gastspielbetrieb auf, an dem hin und wieder auch einzelne Eigenproduktionen auftauchen, er weiß, er benötigt die Konditorei eigentlich nicht mehr, oder nur noch in sehr eingeschränktem Maße. Das kann man deutlich an seiner Planung ablesen. Da gibt es keinen Interpretationsspielraum, weil eben auch sein gesamtes bisheriges Programm diese Ausrichtung zeigt.
Noch lebt der Intendant von der falschen Aufmerksamkeit, die er durch diesen Streit, diese Anfeindung erhielt, und er versucht natürlich weiterhin durch Polarisierung zu spalten, in Feinde und Fürsprecher. Er hofft darauf, dass wenn er den Feind möglichst schlimm aussehen lässt, dass dann die Schar der Fürsprecher sich automatisch vergrößert.
In Berlin liegt der Fokus aber auf Glaubwürdigkeit und Qualität. Und dazu kann man nur sagen, dass, nach der unglaubwürdigen Pressekonferenz zur Vorstellung des Satellitentheaters, die Ränge dieser Zuschauerpodesterie zur ersten Performance nur spärlich besetzt waren. Das erste Mal konnte man das echte Interesse der Berliner an diesen Ereignissen messen und es war nicht sehr hoch. Wie hätte das erst ausgesehen, wenn man, wie vorgesehen, tausend Plätze im Verkauf gehabt hätte? Wer jetzt immer noch nicht klar sehen will, und ich halte die Reduzierung auf vierhundert Plätze für gewollt, wahrscheinlich beschlossen mit dem Blick auf die Vorverkaufszahlen, der muss mit Blindheit geschlagen sein.
Darüber hinaus ist es in dem gesamten Vorgang sehr wichtig sich als Streitender dieser vereinfachten derconschen Polarisierung konsequent zu entziehen und den Fokus auf den schon geschaffenen Strukturwandel und die einzelnen Veranstaltungen zu legen, die bisher zu schlecht besucht waren und zu dünn gesät sind. - Die Form wie Dercon vor geht hat schon sehr viel mit passiver Aggression zu tun und ist auf seine ganz spezielle Art und Weise grausam, weil er jede Kritik auf das Handeln Fremder rückführt und nicht auf die eigenen Verantwortung.
Disclaimer: Ich halte das Abendland nicht für untergegangen.
P. S.: Entgegen dem allgemeinen Eindruck steht die Volksbühne noch am R.L.-Platz. Ohne Bombenkrater.
Es gibt kein Naturgesetz, dass Theater auf Ewigkeit so weiterbetrieben werden müssen, wie eines nun mal eben 25 Jahre lang betrieben wurde (mit etwa Castorf-Premieren, die in aller Regel von der Ruhr kamen, oder aus Wien, oder Russland), und auch kein Naturgesetz, dass Theater exakt so betrieben werden müssen, wie Sie es privat für richtig halten, und vor allem auch keines, dass ein Theater "unprofessionell" sei, wenn es mal scheinbar etwas anderes tut.