Schüsse in den eigenen Reihen

von Janis El-Bira

Cottbus, 20. Juni 2015. "Die Mauer ist volkseigen / Die Munition die mich zerreißen wird / Ist auch volkseigen und ich bin das Volk", heißt es gegen Ende des letzten der fünf Teile von Heiner Müllers Dramenzyklus "Wolokolamsker Chaussee", eines bitteren, vorzeitigen Nekrologs auf die im Sterben liegende DDR. Die wechselseitige Konstitution von Individuum und Kollektiv verendet an der Mauer, wo schließlich mit volkseigenen Kugeln auf das eigene Volk geschossen wird. Von hier führt kein Weg in eine Zukunft unter gleichbleibenden Vorzeichen.

Macht des Kollektivs

Regisseur Mario Holetzeck hat am Cottbusser Staatstheater die fünf Teile der "Wolokolamsker Chaussee" konsequent von diesem In- und Auseinander des Einzelnen und der Masse her gedacht. Als dankbares Vehikel seiner Fokussierung wählt er dabei die klassisch-tragische Gegenüberstellung von Chor und Solist. Gleich zu Beginn formiert sich das Kollektiv unter russischseligem Gesang und Glitzerregen zum sowjetischen Bataillon im Fronteinsatz gegen die heranrückenden Deutschen.

Wolokolamsker2 560 Thomas Richert uVergeblich in Deckung im Wald vor Moskau, im Vordergrund Johannes Kienast als Kommandeur
© Thomas Richert

Die Bühne von Juan León entwirft den "Wald bei Moskau", szenischer Hintergrund der ersten beiden Teile, als Dickicht aus Birkenstämmen und Panzersperren. Ein Dissident aus den eigenen Reihen wird standrechtlich erschossen, obwohl es seinen Kommandeur innerlich quält, den der Schauspieler Johannes Kienast mit von Kriegsgräueln geweiteten Augen an den Rand der Bühne treten lässt. Doch die Sache duldet kein Ausscheren, keine Einzelfälle, keine Ausnahmen. "So ging den ersten Schritt mein Bataillon", klopft der Kommandeur dem eigenen, lädierten Gewissen auf die Schulter. "Auf unserm Weg von Moskau nach Berlin", ergänzen seine Männer als Chor und stecken das Ziel unmissverständlich ab: Auch diese eilig verscharrte Leiche im Wald wird den Sozialismus in seinem Lauf nicht aufhalten.

Strich- und abschweifungsfrei

Dieses beharrliche Festhalten Holetzecks an der chorisch-solistischen Einrichtung der fünf Kurzdramen stößt relativ schnell an Grenzen. Häufig meint man, es hierbei auch mit einer gewissen Sortierungswut zu tun zu haben, die in aufreibender Gründlichkeit versucht, einen punkt- und kommalosen Fließtext für die Bühne goutierbar zu machen. Gleichzeitig wird der Stückezyklus seltsam absolut gefasst und in einer fast strich- und abschweifungsfreien Vollständigkeit wie eine Lesung aus dem Brief des Apostels Heiner Müller an die DDR serviert.

Wolokolamsker3 560 Thomas Richert uUnd später im Dickicht der Behörden © Thomas Richert

Soviel Offenbarungshörigkeit verleitet über weite Strecken zu einem beinahe lehrstückhaft wirkenden Bebilderungstheater. Das führt im dritten Teil - dem Duell zwischen einem VEB-Direktor und dessen streikendem Stellvertreter vor dem Hintergrund des 17. Juni 1953 - schließlich in ein doch ziemlich holzschnittiges Schwenken roter Flaggen vor übergroßem Hammer-und-Zirkel-Transparent. Die vier Musiker im Orchestergraben, die fast den ganzen Abend meist recht subtil begleiten, spulen dazu (gewollt krumm und schief) die DDR-Hymne herunter. Fast kann man die Fundustür des Staatstheaters quietschen hören.

In Kafkas Zuchthaus

Es braucht bis zu den beiden letzten Teilen, damit die Inszenierung merklich an Selbstvertrauen zulegt. Im vierten Stück, "Kentauren", nimmt Holetzeck Müllers Untertitel beim Wort und verwandelt das "Greuelmärchen aus dem Sächsischen des Gregor Samsa" in eine kafkaeske Behörde, die ob der Meldung "Alles in Ordnung" in Panik gerät. Das ist mitsamt Volkspolizei-Bobbycar zwar klamaukig, lässt aber eine ungleich entspanntere Behandlung des Textes und gelöstere Freude am eigenen Spielen erkennen.

Ein noch stärkeres Bild gelingt der Inszenierung indes im abschließenden Teil, wenn die Bautzener Zuchthausszene zwischen einem Häftling und dessen orthodox-sozialistischem Ziehvater in eine Flughafenhalle verlegt wird. Unter einem riesigen Caspar-David-Friedrich-Gemälde warten hier die Verlierer der Geschichte im klinisch reinen Vorzimmer des Kapitalismus auf ihre Abfertigung. Vater und Sohn reihen sich auf der Höhe ihrer Konfrontation unvermittelt versöhnt in den Chor ein. Aufzugehen im neuen Kollektiv der Gewinner erfordert nun vor allem: Vergessen zu lernen.

 

Wolokolamsker Chaussee (I-V)
von Heiner Müller
Regie: Mario Holetzeck, Bühne: Juan León, Kostüme: Susanne Suhr, Musik: Hans Petih, Choreografie: Gundula Peuthert, Dramaturgie: Bettina Jantzen.
Mit: Heidrun Bartholomäus, Michael Becker, Sigrun Fischer, Oliver Breite, Kristin Muthwill, Johannes Kienast, Lucie Thiede, Thomas Harms und Tobias Dutschke, Hans Petih, Dietrich Petzold, Lu Schulz (Musiker).
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-cottbus.de

 

Kritikenrundschau

Aus Sicht von Hartmut Krug für die Lausitzer Rundschau (22.6.2015) konnte die Inszenierung dem Stück keine "aktuelle Dringlichkeit" nachweisen. Gegen Heiner Müllers "anstrengende Sätze" fahre der Regisseur "eine Bebilderungsmaschinerie auf, die manchmal Effekte produziert, abe dem Text seine Härte und alles böse Groteske" nimmt. Die Schauspieler findet Krug zwar präzis "wie versuchsweise furios", doch ihr chorisches Spiel verleiht den Szenen in seinen Augen eher Harmlosugkeit. So werde "allzu verständliches Theater, was bei Müllers lakonischen Einschüchterungssätzen vor allem verstört."

"Ein spannender, ein intelligenter Theaterabend, der es lange im Kopf arbeiten lässt", schreibt Uwe Stiehler auf dem Online-Portal der Märkischen Oderzeitung (22.6.2015). Der strenge Stil der Regie bekomme dem Text und der Inszenierung gut, "auch wenn sie sich im letzten, dem fünften Teil etwas verhaspelt."

Hier werde kein schwerer Abschied von der DDR, sondern das schwere Ankommen gezeigt, schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (23.6.2015). "Der Schluss dieser Inszenierung weist auf einen Konflikt, den Müller kurz vor seinem Tod benannte", dass in Deutschland eine ungeheure Leere entstanden sei, "und die Frage bleibe, ob der Mensch das aushalte. Es sieht in Cottbus nicht danach aus". Die vier langen ersten Teile seien in Cottbus "starrstaubiges Textbewirtschaften". "Rote und DDR-Fahnen, Militärmäntel und russische Birken, Clownsnasen, ein bisschen Pyrotechnik und von der Live-Band die DDR-Hymne. Als wäre Geschichte ein Fotoalbum, als ginge uns nicht mehr an, 'wann angefangen hat, was jetzt ist'."

 

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