Faust! Der Tragödie erster und zweiter Teil - Das Deutsche Theater in Göttingen zeigt eine raumgreifende Inszenierung des Stoffes
Liebe, Macht, Geld, Sex
von Jan Fischer
Göttingen, 28. September 2013. "Faust" geht eigentlich immer. Steckt ja alles drin. Lässt sich drehen oder wenden in diese oder jene Richtung. In Göttingen, soviel vielleicht vorweg, entscheidet sich der Regisseur Mark Zurmühle für eine sehr klassische, man könnte auch sagen: bewährt-solide Auslegung des palimpsestischen Über-Dramas: Es geht um den Menschen – exemplarisch gezeigt an, klar, Faust – und wie er sich selbst immer wieder kaputt macht, egal, was er anfasst. Liebe, Macht, Geld, Sex: Alles immer nur ein Zeitvertreib, während wir auf den Tod warten. So ist in Göttingen der Dreh- und Angelpunkt von Zurmühles Inszenierung auch ein Sandsack, der von Mephisto gleich zu Beginn angestochen wird, sich während der folgenden vier Stunden als Sanduhr langsam leert und einen beeindruckenden Haufen auf dem Boden formt, in dem letztlich Fausts Grab geschaufelt wird.
Die gesamte Inszenierung ist voller solcher Bilder: Gretchen, die angekettet auf dem Boden liegt und wie wild an ihren Fesseln rüttelt, die wiederum an den Tribünen befestigt sind, so dass das Publikum das Rütteln auch im Körper spürt. Das Modell einer Kirche, die langsam abbrennt. Überhaupt oft Feuer, manchmal Wasser, gerne auch lauter Walpurgisnachtelektro, das alles tatkräftig unterstützt von Live-Musikern. Zurmühles Inszenierung, das wird schon zu Beginn klar, ist keine Inszenierung der subtilen Gesten und Gefühle.
Beeindruckend komponierte Bilder
Was auch am Raum liegen dürfte, in dem da gespielt wird: "Faust!" macht sich in einer zum Veranstaltungszentrum umgemodelten Lokhalle breit, es gibt vier Spielflächen in zwei Räumen, gespielt wird auf jeder Spielfläche mindestens zweimal. Und Raum heißt in dem Fall: Halle. Mehrere Hallen. Sehr hoch sind sie, und sehr weit. Zurmühle nutzt den Raum für ein paar schöne Nebeleffekte, stellt seine Figuren und sein Bühnenbild in regelmäßigen Formen auf, spielt mit Fluchtpunkten herum, karrt große Requisiten durch die Halle. So entstehen, vor allem aus der Leere der Räume heraus, immer wieder beeindruckend komponierte Bilder, die auf einer kleineren Bühne nicht möglich gewesen wären.
Und wo sind die Schauspieler? Sie sind da. Und das ist schon mal gar nicht so einfach in den riesigen Räumen, die da bespielt werden. Florian Eppinger gibt einen wirklich brauchbaren Faust, der auch in seinen Monologen den Platz, den er zur Verfügung hat, gut ausfüllen kann. Meinolf Steiner hat sichtlich Spaß an Mephisto und Marie-Kristien Hege ist vor allen Dingen als Gretchen nicht einfach nur – wie die Rolle gerne mal angelegt wird – eine langweilige Mädchen-Projektionsfläche, die in schlechte Gesellschaft gerät, sondern hat ihren eigenen Kopf. Dass sie zwischendrin in spontane und etwas fehl am Platz wirkende Musicalnummern ausbricht, nun ja, irgendwas ist ja immer.
Mit Pausensekt beim Kaiser
Alles in allem exerziert Zurmühles "Faust!" den Stoff von vorne bis hinten durch, wie man das eben so machen kann, und an Ideen mangelt es dabei nicht: Von der Pause geht es direkt weiter in den Thronsaal des Kaisers, das noch an Pausensekt und Pausenbrezeln mümmelnde Publikum wird damit mal eben spontan als Statisten in der Rolle "Volk" rekrutiert. Die klassische Walpurgisnacht ist als Stationentheater zum Herumlaufen inszeniert und fühlt sich ein bisschen wie ein Jahrmarkt an. Überhaupt darf das Publikum oft mitmachen, wird mal da und mal dort von den Zuschauerbänken gezerrt und steckt plötzlich mitten in der Szene. Das, und die ständigen Ortswechsel tun auch der Länge der Inszenierung gut.
Aber viel mehr als Durchexerzieren ist es dann eben nicht: Die Inszenierung verlässt sich sehr auf ihre Bilder und vor allem auf die erschlagende Wirkung der Lokhalle, so dass am Ende zwar ein groß angelegter "Faust" aufgeführt wurde, der aber dem Stoff nichts Neues zuführt. Der Text ist – bis auf die Kürzungen und die Musicalnummern – unverändert, der Schwerpunkt liegt auf der nicht besonders neuen Deutung, in der es darum geht, dass ein bestimmtes Menschenbild chirurgisch zerlegt wird. Zurmühles Inszenierung nimmt dem Faust zwar nichts weg. Aber bei aller Lust am Bild, am Raum und am Spiel fügt sie ihm auch leider nichts hinzu. Da wäre noch ein bisschen Platz für mehr gewesen.
Faust! Der Tragödie erster und zweiter Teil
von Johann Wolfgang Goethe
Inszenierung: Mark Zurmühle, Bühne: Eleonore Bircher Kostüme: Ilka Kops, Musikalische Komposition und Leitung: Albrecht Ziepert, Musikalische Mitarbeit: Rafal Stachowiak, Vincent Hammel, Marie-Kristien Heger, Choreografie: Efrat Stempler, Dramaturgie: Lutz Keßler.
Mit: Vanessa Czapla, Florian Eppinger, Angelika Fornell, Marie-Kristien Heger, Andreas Jeßing, Michael Meichßner, Andreas Daniel Müller, Meinolf Steiner, Ronny Thalmeyer, Gerd Zinck.
Dauer: 4 Stunden 20 Minuten, eine Pause.
www.lokhalle.de
www.dt-goettingen.de
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Für Bettina Fraschke von der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (30.9.2013) "zerfällt" dieser Abend in zwei Hälften. "Großartige und berührende Bilder" gebe es im "Faust I", zudem "präzise geschnittene Szenen und Albrecht Zieperts fantastische Musik". Nach diesem "aufsehenerregenden, beglückenden und kohärent gestalteten ersten Teil gelingt es in der zweiten Hälfte nicht recht, deutlich zu machen, welche Regieidee hinter der Bilderflut steht. Die Textmengen rauschen schließlich nur noch durch, rasant deklamierende Schauspieler und zu viel antiker Mythenklimbim machen es kaum möglich, eine inhaltliche Aussage des Regieteams zu erkennen."
Man merke dieser Inszenierung ein wenig die "Ehrfurcht" vor Goethe an, schreibt Peter Krüger-Lenz im Göttinger Tageblatt (30.9.2013). Vor allem die schauspielerische Leistung überzeugt ihn, z.B. die der Protagonisten: Florian Eppinger sei ein "sehr männlicher" Faust, weniger ein Intellektueller als ein "Getriebener"; Meinolf Steiner agiere als Mephisto mit "großartiger Verspieltheit, mit Ruhe und Dynamik, mit Größe und der Größe, sich auch zurückzunehmen". Der Kritiker notiert akustische Probleme des Abends und stellt fest, dass vier Stunden "natürlich nicht im Vorbeigehen zu konsumierten" seien. Doch fällt sein Fazit insgesamt sehr positiv aus: Ein "tolles Ensemble, eine Regie mit Gespür für Tempo, Raum, Wort und Geschehen und viel Atmosphäre machen den Abend groß."
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