Die Verwirrungen des Zöglings Törleß – Claudia Bauer lässt in Hannover wieder ihre surrealen Wachs-Gestalten auf die Bühne
Pubertät im Nazi-Internat
von Julia Frese
Hannover, 15. Februar 2015. Robert Musils 1906 erschienenes Werk "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" hat seinerzeit die politischen Entwicklungen der folgenden Jahrzehnte vorweggenommen. Im Mikrokosmos eines Elite-Internats für Söhne aus gutem Hause führte Musil unbeabsichtigt jene Charaktere vor, die rund drei Jahrzehnte später zur größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts beitrugen: Ideologen, Militaristen, Mitläufer. Oder auch: Urheber von Herrenmenschen-Ideologien, folternde SS-Offiziere und jene, die dem nationalsozialistischen System dienten, indem sie es widerstandslos akzeptierten.
Eigene Pubertätserfahrung
Törleß, Beineberg und Reiting sind solche Charaktere. Die drei gehen auf ein Elite-Internat, das sie auf eine Zukunft als Militär- oder Staatsbedienstete vorzubereitet. Nachdem sie ihren Mitschüler Basini beim Klauen erwischt haben, beginnen die drei Jugendlichen, den Dieb zu erpressen. Sein Vergehen bleibe vor Lehrern und Schuldirektion geheim, wenn Basini ihnen zu Willen ist. Dazu gehört, dass dieser sich auf erdenklich grausamste Arten quälen lässt. Der sadistische Reiting liebt die Brutalität, der mystisch interessierte Beineberg bastelt aus Versatzstücken fernöstlicher Religionen die dazu passende ideologische Grundlage. Der sensible Törleß hingegen, die Hauptfigur der Geschichte, macht sich ungern die Hände schmutzig. Er gibt hier und da mal ein Stichwort, schaut aber ansonsten lieber nur zu – bis sich eines Tages Basini hilfesuchend an ihn wendet.
Das Werk war nicht nur der erste Roman Musils, sondern auch unter all seinen Büchern das, das sich zu Lebzeiten des Autors am besten verkaufte. Musil soll darin zum Teil auch eigene Pubertätserfahrungen und Internatserlebnisse verarbeitet haben. Bei der Hannoveraner Bühnenversion führt Claudia Bauer Regie, die sich dort bereits mit der Inszenierung der Jungfrau von Orléans einen Namen gemacht hat.
Traumartig-surreal
Bauer weiß genau, wie sie die klaustrophobische Atmosphäre von Musils Roman an ihr Publikum vermitteln kann. Schon die Anfangsszene erzeugt tiefe Beklemmung: In mechanischen Zeitlupenschritten bewegen sich die Schauspieler, zweidimensionale Pappkoffer in der Hand haltend, von einer dunkelgrauen Wand zur nächsten, scheinen vor bleierner Schwere kaum voranzukommen. Nur die Schuluniformen mit Kniestrümpfen bezeugen die Jugend der Dargestellten. Ihre Gesichter jedoch sind von wächsern anmutenden Masken verdeckt. Die Stimmen der Darsteller kommen aus Lautsprecherboxen, was die Automatenhaftigkeit ihrer Bewegungen nur unterstreicht. In der folgenden Szene sitzen sie im Klassenzimmer, hauen – ganz zukünftige Leistungsträger der Gesellschaft – hektisch in imaginäre Tasten, kritzeln mit fahrigen Händen auf Tafeln und in Schreibblocks herum.
Das funktioniert erstaunlich gut, schafft die Verbindung von Masken und verfremdeten Stimmen doch eine anhaltend dichte traumartig-surreale Atmosphäre. Ohne Maske sehen wir die Schauspieler dann, wenn sie ihr Innerstes offenbaren. Dieser meist sehr effektive Wechsel gerät manchmal zu brachial; die Entblößung geschieht dann verbal und darstellerisch so explizit, dass sie lediglich plump erscheint. In diesem Falle ist es, als würde ein gutgemachter Fernseh-Psychothriller im spannendsten Moment plötzlich von einem penetrant-lauten Werbespot unterbrochen.
Ironische Treffsicherheit
An anderen Stellen wiederum meistert das Ensemble die Gratwanderung zwischen Originalität und Klamauk deutlich besser. Wenn die jungen Männer mit aus der Hose ragenden wattegefüllten Riesenstoffpenissen die Dorfprostituierte besuchen, mit aggressivem Männlichkeitsgestus auf sie losgehen und sie dann doch nur mit Sperma aus Watte bewerfen, wird die Lächerlichkeit durch beklemmende Gewalttätigkeit kontrastiert.
Der Romanstoff wird hier auf ironische Weise gekonnt gebrochen, doch das Gleichgewicht geht am Schluss des Stücks verloren. Da sitzen die drei einstigen Internatsschüler in Business-Anzügen zusammen und lachen als mittlerweile erfolgreiche Leistungsträger über die einstigen Erlebnisse, die sie nur noch als harmlose Ausschweifungen ihrer Jugend betrachten. Dazu wird über Lautsprecher die bösartige Moral der Geschichte gepredigt: Um erfolgreich zu sein, darf man ja kein Mitgefühl mit seinen Mitmenschen haben.
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
nach Robert Musil in der Bearbeitung von Jan Friedrich
Regie: Claudia Bauer, Bühne und Kostüme: Tine Becker, Musikalische Leitung: Peer Baierlein, Dramaturgie: Jan Friedrich.
Mit: Philippe Goos, Mathias Spaan, Jonas Steglich, Johanna Bantzer, Hagen Oechel.
Dauer:
www.staatstheater-hannover.de
Claudia Bauer packe den Roman sehr hart an und mache etwas Grelles daraus, ein energischer Zugriff, der wirklich sehr richtig ist, schreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (16.2.2015). Mit einem gewissen Zeigestolz habe man die Inszenierung auf brusthohe Stelzen gelegt, und wie in Zeitlupe bewegen sich die Schauspieler in einer vom Tanztheater entlehnten Schrittfolge immer wieder über die Bühne. "Groteske bis zirzensische Inszenierungen wie diese haben aber auch den Nachteil, dass man schnell weiß, wie es geht." Man gewöhne sich schnell an das Spiel der Zombies.
In der Neuen Presse (17.2.2015) schreibt Stefan Gohlisch, es gehe in der Inszenierung um globalere Motive und Mechanismen von Macht und Machtmissbrauch. Bauer stachle ihr Ensemble zu Leistungen "von schmerzlicher Intensität" an, "schlicht phänomenal". "Harter Tobak. Diesen 'Törleß' muss man ein Stück weit erleiden."
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