Orlando - Bastian Kraft inszeniert am Hamburger Thalia in der Gaußstraße ein Spiel mit der Selbststilisierung nach Virginia Woolf
Kleider tragen Menschen
von Elske Brault
Hamburg, 1. Oktober 2011. Ein Mann, der durch die Jahrhunderte geht und dabei zur Frau wird, ein Spiel mit Geschlechterrollen und Identitäten: "Orlando" ist eine Steilvorlage für Regisseur Bastian Kraft und seinen Bühnenbildner Peter Baur. Beide haben bereits einen ähnlich gelagerten Roman als opulent ausgestattetes Vexierspiel auf die Bühne gebracht: Helene Hegemanns Axolotl Roadkill. Auch in "Orlando" geht es – zumindest in der Fassung, die Dramaturgin Beate Heine gemeinsam mit Kraft aus dem Roman destilliert hat – um das Verhältnis von Kunst und Leben, von Pose und Persönlichkeit, von Sinneseindrücken und ihrer gedanklichen Verarbeitung. Mit der Biographie der Romanfigur Orlando stellt Virginia Woolf die Frage, wie überhaupt aus einem realen Leben ein Buch werden könne. Auf der Bühne blättern die wechselnden Erzähler die Seiten eines Bilderbuchs um – ein Kunstwerk für sich.
Bilder aus der Blue Box
Schwer und groß wie eine mittelalterliche Bibelhandschrift nämlich liegt der "Orlando"-Bildband auf einem die Bühne beherrschenden Tisch, eine Kamera hängt darüber und projiziert einen grünen Blätterwald oder die gold geschmückten Räume des elisabethanischen Hofes auf die weiße Bühnenrückwand. Eine zweite Kamera fängt die Aktionen der Schauspieler auf einer von innen erleuchteten Glasplatte ein. Die funktioniert wie ein Blue-Screen, die Bewegungen der Darsteller fügen sich in den aus dem Bilderbuch gewonnenen Hintergrund ein. Der besondere Clou dabei: Was senkrecht auf der Bühnenleinwand zu sehen ist, müssen Orlando und seine Gespielinnen waagrecht auf dem glatten Untergrund umher rutschend ausführen. Wenn er auf der Bühnenrückwand läuft, strampelt der Orlando-Darsteller im Liegen mit den Beinen, als führe er Rad.
In diesem Zusammenspiel aus gemalter Kulisse und abgefilmter Aktion kann Orlando am Rande einer übermannsgroßen goldenen Wasserschale knien und diese demütig Königin Elisabeth reichen, oder ihr Nachfolger König James positioniert sich auf einer Briefmarke – am Ende bleibt von einem Leben, selbst von einem königlichen, nur solch ein stilisiertes Bild.
Das Ich unter wechselnden Perücken
Und der reiche junge Adlige Orlando neigt zur Selbststilisierung, denn er ist bereits in jungen Jahren von der Liebe zur Literatur infiziert, von der phantastischen Überhöhung banaler Alltagsgeschehnisse, was seine Erzieher ihm vergeblich auszutreiben suchen: "Ich nahm ihm die Kerzen weg, und er züchtete sich Glühwürmchen." Zu solchen Sätzen entführt uns eine Michael-Nyman-artige Minimal Music - komponiert und produziert von Arthur Fussy - in die Zeiten von üppigen Spitzenjabeaus und Lockenperücken.
Diese phantastischen Kostüme sind zu beiden Seiten der Bühne vor großen Schminkspiegeln aufgereiht. Mit diesen Karnevalsverkleidungen schlüpfen die vier Frauen und der eine junge Mann des Ensembles mal in Männer-, mal in Frauenrollen, durcheilen sie die Jahrhunderte und wechselnde Beziehungen: Orlando ist in seiner Leidenschaft für die Moskauer Prinzessin Sascha der Jäger, in der Flucht vor seiner Verehrerin Erzherzogin Harriet der Gejagte, stets jedoch verfehlt er die Liebe und macht stattdessen Bekanntschaft mit der "haarigen, schwarzen Wollust".
Schließlich wird Orlando zur Frau – "gleiche Persönlichkeit, nur ein anderes Geschlecht" – und landet im 20. Jahrhundert, in einem akustischen Chaos aus Musikfetzen, Industrielärm und verpassten Straßenbahnen. Auch die vorher so homogen wirkende Bühnenrückwand löst sich auf in zehn Einzelteile, wird zu über die Bühne verteilten Leinwandsäulen, zwischen denen die fünf Darsteller umherirren, zusätzlich verwirrt durch neben den bunten Bildsäulen verteilten Spiegeln. Willkommen im multimedialen Zeitalter, hier splittet sich Orlandos Leben auf in quer durch das World Wide Web verstreute Informationshäppchen und effekthascherische Musikvideos.
Herrliches Ausstattungstheater
Keine Frage, Regisseur Bastian Kraft und Ausstatter Peter Baur sind ein geniales Team. Wieder einmal schaffen sie glänzende Oberflächen, ein faszinierendes Ausstattungstheater, eine Verzahnung von Schauspiel-Aktion und Bühnenbild, die ihresgleichen sucht. Und wie bereits in "Axolotl Roadkill" geht es um die zentrale Frage in der modernen Medienwelt, um das Verhältnis von Innen zu Außen, von gewachsenem Ich zur Selbststilisierung: "Vielleicht sind es die Kleider, die uns tragen, und nicht wir sie."
Aber was diesmal fehlt, ist jene rotzige Traurigkeit des einsamen Kindes, die zwischen der Prätention des Hegemann-Textes aufscheint. Die haushoch überlegene Schriftstellerin Virginia Woolf hat sich mit ihrer Einsamkeit als Künstlerin längst abgefunden. Ihr "Orlando" ist ein philosophisches Konstrukt, ein wie schön auch immer mit Metaphern ausgeschmücktes Paradebeispiel – kein leidender Mensch. So reizvoll, kunstvoll, sinnvoll dieser Theaterabend ist, die emotionale Ergriffenheit bleibt aus.
Orlando
nach dem Roman von Virginia Woolf
Regie: Bastian Kraft, Bühnenbild und Video: Peter Baur, Kostüme: Inga Timm, Musik: Arthur Fussy, Dramaturgie: Beate Heine.
Mit: Sandra Flubacher, Leon Pfannenmüller, Nadja Schönfeldt, Cathérine Seiffert, Victoria Trauttmansdorff.
www.thalia-theater.de
Mehr zu Bastian Kraft gibt es im nachtkritik-Lexikon.
Eine "zauberhafte Bild-Text-Collage" hat -itz erlebt, nachzulesen im Hamburger Abendblatt (4.10.2011): "Der Regisseur von 'Axolotl Roadkill' fesselt und überzeugt aufs Neue mit der poetischen Zeitreise in der Form eines lebendig-lustigen Fantasy-Comic." Kraft und Baur fänden "einen visuellen Dreh und bekommen die schillernde Geschichte von Orlandos Gender-Crossing locker in den Griff."
Gedacht statt gedichtet sei dieser Abend, befindet Stefan Grund in der Welt (5.10.2011). Getragen werde "der kraftsche Erzählfluss" von den vier Schauspielerinnen, "zum Glück allesamt hervorragende Erzählerinnen", die sich einander keinen Quadratzentimeter Bühne schenkten. "Kraft legt das Spiel vielfach gebrochen als Theater im Theater an, rund um die Szenerie stehen Schminktische, an denen sich die Darstellerinnen in neue Figuren verwandeln." Dennoch: "Bis auf kleine, schöne Momente, die den Schauspielerinnen immer wieder gelingen, berührt uns die Orlando-Geschichte nicht." Kein Drama sei das, sondern "Kopfkino, das über den anregenden Schein nicht hinausgeht."
Im Rahmen einer Doppelbesprechung mit Der Fremde schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (14.11.2011) über diese Adaption von "Orlando": Regisseur Bastian Kraft wolle mit seinen Hintergrundprojektionen "zaubern und beeindrucken", er illustriere den Sprechtext wie ein "ein Jahrmarkterzähler im digitalen Zeitalter". Langeweile komme dabei nicht auf, weil "Kraft ein wirklich talentierter Symbol-Jongleur ist". Allerdings: "Mehr als schöne Oberfläche liefert diese Zeitreise als Video-Bildband dann aber doch nicht."
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