Ahoi, Cowboy

4. November 2023. In den 1840er Jahren gründeten hessische Einwanderer im heutigen Texas eine Kolonie und nannten sie "Bettina". Auf mehr als den Namen konnten sie sich aber auch nicht einigen, und die Gruppe zerfiel schnell im Streit. Chiara Mascarra bringt die Geschichte als Italowesten auf die Bühne. 

Von Martin Schäfer

"Bettina" © Lena Bils

4. November 2023. Der Kommunist stirbt im Scheinwerferkegel. Deklamiert noch von seinen Idealen und sinkt dahin. Damit ist auch Bettina tot. Jene hoffnungsfrohe Kommune in den 1840er Jahren, die von Auswanderern aus Hessen in Texas gegründet wurde. Im Streit sollte sie alsbald vergehen. Chiara Marcassa (Text und Regie) holt das historische Real-Experiment als Italowestern auf die Bühne des Stadttheaters Gießen und montiert viele Collageelemente des an Themen reichen Erlebens von Aus- bzw. Einwanderern. Was ist Heimat? Wo wir herkommen, also Deutschland, oder wo wir hingehen, also Texas? Wie bauen wir eine neue Gesellschaft? Und geht das überhaupt? Das reale Experiment scheitert. Die Bühnenadaption geht lustig aus.

Nach dem Tod von Kommunist Möbius (Nicolas Gerling) gibt sich auch der Instrumentenbauer und Individualist Backofen (Jonas Harksen) die Kugel und sinkt über das durch die Einöde geschleppte Klavier. Der Dritte im Bunde, Edelmann (Antonia Alessia Virginia Beeskow), gibt die Requisiten der Cowboys, Gürtel, Revolver und Hut, dahin. Dann bricht die Szene ins Groteske, und alle drei singen am Klavier noch einmal das Handwerkerlied, mit dem alles seinen Ausgang nahm.

Übertrieben träge

Hessische Lokalgeschichte als Italowestern – diese Kombination geht auf. Alle Versatzstücke sind da, von der nach Low-cost-Maßstäben ordentlichen, schön reduzierten Bühne (Sperrholz für Steinelemente, etwas Schilf fürs Steppengras reichen aus), über die Cowboykostüme (Bühne und Kostüme: Nikolas Stäudte) bis hin zur genretypischen Musik (Antonia Alessia Virginia Beeskow). Was das Stück trägt und überraschenderweise auch durchgehalten wird, ist die Langsamkeit in vielen Szenen, vom Sprechen der Protagonisten bis zum Showdown im Duell. Gefühlt macht die gesamte Textmenge im 75 Minuten Stück vielleicht ein Viertelstündchen aus. Diese Trägheit ist toll überzeichnet und amüsiert.

Bettina 2 Lena Bils(Noch) gut gelaunte Wanderer: Antonia Alessia Virginia Beeskow, Jonas Harksen, Nicolas Gerling © Lena Bils

Das Publikum des mit 99 Sitzplätzen ausverkauften ‘Kleine Haus’ war mit viel Lachen jedenfalls hörbar entzückt. Eine tolle Arbeit des studentischen Projekts. Die Uraufführung ist Teil von Chiara Marcassas Masterarbeit. Die drei Performer und das Produktionsteam setzen sich aus Studierenden und Alumni des Gießener Instituts für angewandte Theaterwissenschaften zusammen.

Inspiriert von hessischer Auswanderungsgeschichte

Abgeleitet hat Marcassa das Thema von einer realen Geschichte der wilden 1840er Jahre. Viele Menschen suchten damals ihr Glück in der neuen Welt. Auch 40 Männer (genannt die Darmstädter 40) setzten nach Amerika über. Die waren – so hat Marcassa recherchiert – zwischen 13 und 47 Jahre alt und hatten sich an den Universitäten und in Burschenschaften kennen gelernt. Ihr Motto: Freundschaft, Freiheit, Gleichheit. Doch schnell stießen sie auf unterschiedliche Auffassungen vom neuen Leben, und die Reformkolonie Bettina zerbrach.

Unlösbare Konflikte

Die Texterin und Regisseurin Marcassa verdichtet das in ihren drei Protagonisten. Marcassa will genau den Moment einfangen, wo es in Texas mit der Reformkolonie losgehen soll und die Drei sich fragen: Wer macht eigentlich was? Welche Regeln sind zu befolgen, und wer definiert sie?

Edelmann zückt beispielsweise das Manual für Auswanderer des Mainzer Adelsvereins (der damals die Auswanderer protegierte) und möchte das Regelwerk der alten Welt übernehmen. Der Instrumentenbauer Backofen hat teils frühkapitalistische Ambitionen, teils möchte er vom Handwerk weg und sich den Künsten widmen. Möbius hingegen ist froh, die enge feudale Welt hinter sich gelassen zu haben und nicht mehr der Willkür der Herrschenden ausgeliefert zu sein. Die Konflikte in den Idealen und Zielen der Drei lassen sich nicht lösen. Sie greifen zu den Waffen. Im Italowestern wollen wir das noch gelten lassen.

Bettina
von Chiara Marcassa
Text und Regie: Chiara Marcassa, Bühne und Kostüme: Nikolas Stäudte, Video & Lichtdesign: Frithjof Gawenda, Musik: Antonia Alessia Virginia Beeskow, Nicolas Gerling, Jonas Harksen, Produktion und Outside-Eye: Svenja Polonji, Dramaturgie: Romy Dins.
Mit: Antonia Alessia Virginia Beeskow, Jonas Harksen, Nicolas Gerling.
Premiere am 3. November 2023
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

stadttheater-giessen.de

 

Kritikenrundschau

Marcassa verwebe "munter unterschiedlichste Motivebenen mit- und ineinander", so Björn Gauges im Gießener Anzeiger (7.11.2023). Die Kernfrage des Abends sei: Wie kann Gemeinschaft gelingen? Allerdings nehme Marcassa dabei weder den Stoff, noch die Figuren oder gar die Form allzu ernst. Stattdessen würden klassische Versatzstücke des Spaghettiwesterns für einige parodistische, groteske und auch slapstickhafte Szenerien verwendet. "Eine klarere Linie und inhaltliche Präzision hätten dieser mäandernden Inszenierung allerdings gutgetan. Das zumeist junge Premierenpublikum hat sich mit den im Wilden Westen verlorengegangenen drei Hessen dennoch blendend amüsiert."

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