Philologische Butterfahrt in Dichters Unterbewusstsein

von Sarah Heppekausen

Recklinghausen, 3. Mai 2010. Dieser Guiskard ist eine Kopfgeburt. Kleist zerrt den Normannenherzog, dessen Kampf um Konstantinopel und gegen die Pest, aus seinem Innersten wie ein Geschwür. Der Dichter sitzt in seiner kerzenbeleuchteten Schreibstube, stottert, ringt um Worte und verzweifelt am Versmaß. Der Guiskard steckt ihm wie ein Kloß im Hals, an dessen tragischer Größe er zu ersticken droht. Wolfram Koch spielt diesen Kleist, der dem Wahnsinn so nah ist wie dem genialen Werk, bis er das Fragment schließlich verbrennt und plant, in Krieg der französischen Armee gegen England zu sterben.

Entflammungsdefizite

Für seine Eröffnungsinszenierung der Ruhrfestspiele, die sich in diesem Jahr als Werkschau Kleists präsentieren, bringt Intendant Frank Hoffmann den Autor selbst auf die Bühne. Historischen Quellen folgend fügt er in seiner Fassung des "Robert Guiskard" (in der Stück-Ankündigung heißt es noch, Schauspieler Mathieu Carrière habe die Rahmenhandlung erfunden) die Geschichte des Normannenherzogs mit der des dichtenden Dichters zusammen. Hoffmann liefert sauberes editorisches Wissen, nur geht vor lauter Philologie die Poesie verloren. Staubtrocken klingt plötzlich Kleists wunderbare Sprachkunst, und nicht nur, wenn Jacqueline Macaulays Helena über ihr langes rotes Kleid stolpert, mit dem Gesicht auf dem Ackerboden landet und dreckverschmiert weiter deklamiert.

Ja, Wolfram Koch zitiert als Kleist aus einem Brief an seine Halbschwester Ulrike, wenn er sagt "Ich nehme Unterricht in der Deklamation", seine Tragödie müsste gut deklamiert eine bessere Wirkung tun. Aber Jacqueline Macaulay kann eben nicht entflammen. Ihr Sprechen ist nicht natürlich, ihre Gesten nicht selbstverständlich - das aber sollte Deklamation seit Lessing und Schiller im Idealfall sein. Bei dieser Helena überdeckt das überlegte Spiel das gefühlte. Jeder recherchierte Gedanke verdrängt spannungsvolle Unsicherheit, in die Kleists Figuren sonst immer wieder geraten.


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© A.T.Schaefer

Puppenspiel mit Schauspielstars

Dabei ist die Idee eigentlich gar nicht schlecht: Kleists Fragment gebliebenes Werk wie eine Reise ins durcheinander gewirbelte Unterbewusstsein des Autors zu inszenieren. Kleist selbst findet sich in der Rolle des Abälard wieder, des Guiskard-Neffen, Sympathieträger des Volkes bis er listig versucht, die Menschen mit der Nachricht des pestkranken Herzogs in Panik zu versetzen. Guiskard gibt es zunächst bloß auf der Leinwand zu sehen. Im Inneren des Zeltes, in das sich der Heerführer vor Konstantinopel zurückgezogen hat, ist es schwarz und unergründlich wie in einer Kanalisation. Wasser schlägt plätschernde Wellen. Nur Videokameras werfen grünliches Licht in die schattig verzerrten Gesichter der Herrschenden. Die führen sichtbar aus, was Abälard später in einer Art Botenbericht dem Volk - und dem Publikum - nochmal erzählen wird. Denn "das Grauen hat ein Gesicht" lässt der Regisseur Guiskard aus dem Film "Apocalypse now" zitieren.

Aber erst als Thomas Thieme im weißen Krankenhemd vors Volk tritt, mit seiner ganzen Wucht die dreckbestreute Bühne (von Stefan Mayer) erobert, ist der Machtwille, der Guiskard am Leben hält, auch erspürbar. Kurz flammt auf, welche dringliche Kraft in Kleists Worten steckt.

Frank Hoffmann hat wieder einmal große Schauspieler engagiert. Aber sie können sich gar nicht zeigen. Die nachgestellte, historisch überlieferte Identitätskrise Kleists setzt die Figuren und ihre Handlung zum Puppenspiel zwischen sorgsam aufgereihten Feuerschalen und ambitionierter Videoaufzeichnung herab, atmosphärisch unterlegt von nervigen Soundeffekten. Es sirrt, wenn eine Szene im Ungewissen bleibt, und wummert, wenn sich Unheil ankündigt. Kleist poetisiert in seinem Guiskard-Fragment die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Sprache. Hoffmann verhandelt sie philologisch und gibt viele nachvollziehbare Antworten. Sprache verfängt sich im Ehrgeiz, in Geldsorgen, im Machtdrang. Aber keine dieser Antworten ist so radikal wie Kleists, nämlich keine geben zu können. Kleist blickt in menschliche Abgründe, dramatisiert das Scheitern. Hoffmann erklärt es und nimmt so die Lust, noch weiter darüber nachzudenken.


Robert Guiskard - Herzog der Normänner
Ein Fragment von Heinrich von Kleist, in einer Fassung von Frank Hoffmann
Regie: Frank Hoffmann, Bühne: Stefan Mayer, Kostüme: Katharina Polheim, Musik und Soundeffekte: René Nuss, Video: Alexander Grasseck, Dramaturgie: Florian Vogel.
Mit: Thomas Thieme, Sören Wunderlich, Wolfram Koch, Irene Kugler, Jacqueline Macaulay, Mathieu Carrière, Lukas Holzhausen, Juliane Koren, Arash Marandi, David Loos/Jonah Philipp/Justus Rosenkranz.

www.ruhrfestspiele.de

 

Letztes Jahr gastierte Oscar-Preisträger Sam Mendes mit einer Inszenierung von Tschechows Kirschgarten und einigen Filmstars wie Ethan Hawke und Rebecca Hall an der Ruhr.

 

Kritikenrundschau

Auf der Webseite des Deutschlandradios (4.5.2010, gleichlautend in der Welt 5.5.2010) schreibt Stefan Keim: Es sei mutig von Frank Hoffmann, "das Festival mit dieser selten gespielten, völlig undramatischen Szenenfolge" zu beginnen. "Menschen kriechen und gehen stumm umher, in einer gespenstischen Atmosphäre." Es gäbe keine "Schreckensbilder" in dieser "sehr ästhetischen Aufführung". Dafür stecke sie voller Ideen. Etwa Thomas Thieme, der als Guiskard eigentlich erst am Ende auftrete, schon zuvor per Video präsent sein zu lassen, "überlebensgroß, als Medienabbild". Thieme zeige einen Mann, der "mit bulliger Körpersprache seine Schwäche überspielt", auch als gewissenloser Kriegstreiber sei er "grandios". Wolfram Koch überzeuge mit "seiner typischen Energie und Spielwitz als Heinrich von Kleist". Matthieu Carriére hingegen gerate "ebenso wie einige jüngeren Schauspieler" gelegentlich "ins Deklamieren". Hoffmann habe aus den Schauspielern "kein Ensemble geformt, jeder spielt und spricht wie er will". Diese Brüche und Unfertigkeiten wirkten indes oft anregend.

Auf der Webseite des Deutschlandfunkes (4.5.2010) schreibt Andreas Wilink: Frank Hoffmann nehme die "Entstehung des Dramas" als dessen "Deutung". Doch Hoffmann misstraue dem nur als Fragment überlieferten Werk. Er meine, "Kleists Entwurf aufmöbeln, mit Pomp und Umständen aufrüsten und permanent Bedeutung suggerieren zu müssen". "Pathos des szenischen Aufwandes", "stilistische Unentschiedenheit" und die "Trivialität der Gleichsetzungen von Biografie und Werk" stünden der Aufführungsidee, "das Drama als offenes Kunstwerk zu behandeln", im Wege. "Wiederholungen, Doppelungen, Einschübe" würden zelebriert, "jede Geste eine Illustration", von der Videokamera "ins Riesenhafte vergrößert". "Expressiv wie in einem Murnau-Melodram" wuchte sich Thomas Thieme ins Zentrum, "eine negative Erlöserfigur, ein Ölgötze und wankendes Idol, Adam Erdenkloß als Projektion von Heilsfantasien".

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.5.2010) schreibt Andreas Rossmann über "Kleists Kopfsalat": Man müssen den "Guiskard", selbst bei einer Kleist-Werkschau nicht unbedingt spielen. Hoffmann "modelt" sich das Stück "zurecht", indem er Briefstellen und Fremdzitate "dreinstopft". Was an der "Sprache und den Brüchen des Fragments szenisch zu entziffern wäre", leite Hoffmann biographisch her. Im leeren und düsteren Raum, auf "dampfender Erde" und vor "flackernden Feuern" laufe "mehr durcheinander als die Handlung des Dramas und die Biographie seines Autors". Die Kostüme etwa, alle aus unterschiedlichen Epochen und zusammenhängen. Das Trauerspiel zeige Soldaten in einem Auslandseinsatz, dessen Sinn sie in Frage stellen, dazu und wie "Robert Guiskard" das "Verhältnis von realer, projizierter und symbolischer Macht" reflektiere, "müsste einem etwas einfallen". Doch das ist, nach Rossmann, nicht der Fall.

In der Süddeutschen Zeitung (5.5.2010) mutmaßt Vasco Boenisch anlässlich des dritten Auftretens von Wolfram Koch in einer Hauptrolle in Recklinghausen, dass sich immer wieder "Schauspieler, die sich ihre Regisseure aussuchen können", in Produktionen von Frank Hoffmann "verirren", sei wohl durch dessen Scheckbuch begründet. Hoffmann dehne das Fragment mit "hinzugedichteten Dialogen und Sekundärliteratur auf Kinolänge": " 'Robert Guiskard' als pathetischer Bühnenpomp." Im normannische Lager vor Konstantinopel werden Pestleichen verbrannt, "man riecht Feuer bis ins Parkett". Ein penetranter Klangteppich aus "tinnitus-verdächtigen Obertönen" und "martialischem Synthesizer-Donnern". Wenn die Akteure aus den unerfindlichen "zwei gläsernen Gängen im Schrankwandformat" treten, passe das "gut zum musealen Charakter des Abends". Die Schauspieler seien um "staubige Theatergesten nicht verlegen" und trügen die Kleist'schen Verse "so andächtig vor sich her wie ihre Kostüme", die kein Klischee ausließen. Weder als "Kostümschinken" noch als "Bio-Pic" noch als "Familienpsychogramm" funktioniere der Abend.

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