"Wehe, der Typ hat mich geschwängert!"

11. November 2023. Antibabypille oder Wunschkindpille? Gewollte oder ungewollte Schwangerschaft? Nora Deetje Leggemann hat zwei Monologe zum Thema Abtreibung geschrieben - eine Innen- und eine Außensicht, die zusammen ein Stück ergeben. Sahar Rezai, Schauspieldirektorin in Dessau, hat es uraufgeführt.

Von Katrin Ullmann

"Am Rande des Orbits" am Anhaltischen Theater Dessau © Claudia Heysel

11. November 2023. Die eine macht eine Ausbildung zur Kinderpflegerin, die andere ist Redakteurin. Die eine ist vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, die andere so ungefähr Mitte dreißig. Die eine befürchtet eine ungewollte Schwangerschaft, die andere ist in eine Demonstration von Abtreibungsgegner*innen geraten. Die eine lebt in Dessau, die andere in Hamburg und ist nur aufgrund einer Bahn-Verspätung in dieser Stadt gestrandet. Für eine Nacht. Für eine Nacht sind beide Frauen schlaflos. Aus unterschiedlichen Gründen und doch eint sie für eine Nacht dasselbe Thema.

Die Autorin Nora Deetje Leggemann hat für jede von ihnen einen Monolog geschrieben. Sahar Rezaei, die Leiterin des Schauspieles am Anhaltischen Theater Dessau, hat diese auf der Studiobühne Theaters zur Uraufführung gebracht. Und so solitär diese beiden Monologe auf der Bühne stehen, so raumübergreifend wird an diesem Abend das Thema der Abtreibung.

Lackfolie und Luftballon

Der tatsächliche Raum ist recht puristisch: Viviane Niebling hat den Boden mit einer schwarzen Lackfolie ausgekleidet, ein paar Stühle stehen am Rand, an der Rückwand ein Triptychon für Projektionen von Nachthimmeln, Laternenschein und Demonstrationen, in der Mitte liegt ein riesiger, weißer Wasserball, dem die Luft ausgegangen ist – und der sich am Ende des Abends zu einer Art überdimensionalem Schwangerschaftsbauch aufblasen wird.

Wenn Anja Bothe als "Person 1" zu sprechen beginnt, legt sich eine einsame Traurigkeit über diesen Raum. Hektisch erzählt sie von ihrer Suche nach dem Kondom, das ihr Gerade-erst-Freund hoffentlich benutzt hat, das aber nun unauffindbar ist. Unsicher ist sie und total verliebt. "Wie fragt man so etwas?", denkt sie laut. Und ist nicht das Ihn-Fragen-Müssen schon falsch? "Ihr gebt ein schönes Paar ab" hatte ihr eine Freundin gesagt. Und: "Perfekt für Insta."

Draußen wartet die Welt

Aber nein, "verdammt, er hätte es mir sagen können! Egal was, er hätte es sagen müssen!", murmelt sie. Und schreibt ihm eine Textnachricht. Mit überzeugender, nervöser Unruhe, mit nachdenklichen Pausen und naiver Verliebtheit spielt Anja Bothe dieses Teenie-Mädchen, das sich mal x-beinig auf einen der herumstehenden Stühle setzt, sich mal matt auf den Boden fallen lässt und sich mal unsichtbarwerdenwollend in jenes Ball-Gebilde verkriecht, als wäre es ein weiches Kissen.

Orbit 1 Claudia HeyselSchlaflos in Dessau: Anja Bothe © Claudia Heysel

Mit fragender Stimme spielt Anja Bothe ihre Figur, mit einem unschuldigem, erwartungsvollen Blick. Denn da draußen, jenseits ihres "Orbits" da wartet doch vielleicht die Welt. Vielleicht sogar Skandinavien, "Nordlichter sehen und Sprachkenntnisse sammeln" und irgendwann vielleicht eine eigene Wohnung haben. Aber kein Kind, zumindest nicht jetzt. Mitten in der Ausbildung. "Wehe, der Typ hat mich geschwängert", droht sie schließlich. Und geht ab.

Stirnrunzelnde Verwunderung

Wenn Mona Georgia Müller anschließend als "Person 2" zu sprechen beginnt, regnet es vor allem Zahlen und Fakten. Aufgerüttelt durch die Demonstration, in die sie geraten war, arbeitet sie nun gegen ihre eigene Unwissenheit an. Erschrocken über ihre eigene Naivität, holt sie aus und auf, breitet unermüdlich ihre Recherche-Ergebnisse aus. "In der DDR sei Abtreibung legal gewesen, und die Pille habe hier Wunschkindpille und nicht Antibabypille geheißen." Hat sie gerade herausgefunden. Und "etwa 50 Prozent der befruchteten Eizellen nisten sich nicht ein, und bis zum Ablauf der zwölf Wochen und teils auch darüber hinaus stößt der Körper immer wieder bereits eingenistete Eizellen ab. Habitueller Abort, völlig gewöhnlich."

Orbit 1 Claudia HeyselAuf der Durchreise aus Hamburg: Mona Georgia Müller © Claudia Heysel

Manches ist erhellend, anderes wirkt wie aus einer AOK-Broschüre herausgelesen. Doch die Ehrlichkeit, die Stirn runzelnde Verwunderung, mit der Mona Georgia Müller ihre Figur spielt, macht diese wasserfallartige Informationsdichte fast wett. Mal erzählt sie von der Abtreibung einer Freundin, mal von unausgesprochenen Fehlgeburten, mal zitiert sie WHO-Statistiken – "25 Millionen unsichere Schwangerschaftsabbrüche pro Jahr weltweit, fast 40.000 Frauen und Mädchen sterben jährlich daran". Bald redet sich nicht nur in Faktenwut, sondern in eine skandierende, kämpferisch-klare feministische Haltung, die sie bislang an sich selbst vermisst hatte.

Wichtiger Diskurs- und Diskussionsstoff

Fast steril stellt Sahar Rezaei diese zwei Positionen – eine Innen- und eine Außensicht – in den Raum, inszeniert zwei Annäherungen an ein Thema, das leider beständig neu erobert werden muss: das der sexuellen Selbstbestimmung in der Familienplanung. Mit Tonaufnahmen, entstanden in Kooperation mit und Befragung von Dessauerinnen, genauso wie mit Videos von weltweiten Frauen-Demonstrationen sorgt sie zudem für ein kluges Maß an Authentizität und Aktualität, skizziert den Bogen vom Persönlichen ins Globale. Und erschafft so einen Abend, der zwar irritierend wenig emotionale Wucht entwickelt, aber wichtigen Diskurs- und Diskussionsstoff bereit hält.

 

Am Rande des Orbits
von Nora Deetje Leggemann
Uraufführung
Regie: Sahar Rezaei, Bühne und Kostüme: Viviane Niebling, Musik Sara Trawöger, Video: Aileen Krause, Dramaturgie: Luise Vollprecht.
Mit: Anja Bothe, Mona Georgia Müller
Premiere am 10. November 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.anhaltisches-theater.de

Kritikenrundschau

Von einem gelungenen Abend spricht Stefan Petraschewsky bei MDR-Kultur (11.11.2023). Aus Sicht des Kritikers handelt es sich auserdem um "ein starkes Statement für ein Neues Stadttheater", "das nicht mehr auf das klassische Repertoire setzt, sondern die Themen im Hier und heute aufgreift und auch vor Ort recherchiert." Dadurch gewinnt das Theater aus seiner Sicht "neue Relevanz, legt den Finger auf die Wunde - provoziert ein Gespräch zwischen den Generationen zwischen konservativen und liberalen Positionen." Symbolhaft für diesen Neuanfang steht für den Kritiker auch das Ende des Abends: "Beim Applaus standen acht Frauen auf der Bühne, und ein Mann, der Souffleur. Lange Zeit war es ja umgekehrt: da gab es die Souffleuse, und ansonsten eine reine Männertruppe, die für die Kunst zuständig ist."

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