Wunschlos glücklicher

25. Februar 2024. Von wegen "sehr, sehr frei nach Richard Wagner": Eigentlich hat "Hojotoho! Hojotoho! Heiaha!", die musikalische Geisterbeschwörung des Magdeburger Intendanten Julien Chavaz mit dem Schauspiel-Ensemble, gar nichts mit dem Gesamtkunstwerker aus Leipzig zu tun. Außer dass ein Club der Walküren dabei ist.

Von Michael Laages

"Hojotoho! Hojotoho! Heiaha!" am Theater Magdeburg © Kerstin Schomburg

25. Februar 2024. Mit Christoph Marthaler hat die Geschichte begonnen. Der hatte zunächst, und auf Einladung von George Gruntz, dem Schweizer Ideenstifter und Jazzmusiker, Kompositionen und Arrangements für Theateraufführungen am Schauspielhaus in Zürich geliefert; dann ließ ihn nebenan in Basel Intendant Frank Baumbauer komplette Theater-Phantasien mit Musik kreieren. An der Volksbühne in Berlin sowie am Hamburger Schauspielhaus wurde daraus ein Markenzeichen. Einige folgten, der Stil wurde zum Genre – bei Erik Gedeon, bei Franz Wittenbrink, bei Rainald Grebe. Und Marthaler, zeitweilig wie erdrückt von der selbstgeschaffenen Mode, ist inzwischen wieder sehr animierend aktiv in Basel und Hamburg; einige der Gefährten mischen inzwischen ebenso maßgeblich mit: Clemens Sienknecht immer wieder mit der Regisseurin Barbara Bürk und jetzt in Magdeburg der aus Flensburg stammende Hamburger Pianist und Arrangeur Bendix Dethleffsen – er hat sich mit dem lokalen Generalintendanten Julien Chavaz verbündet.

Die Zeit spielt mit

Erst mit dieser bunten Ahnenreihe wird deutlich, wie gelungen das Projekt im Magdeburger Schauspielhaus tatsächlich ist – gerade weil sich Chavaz, Dethleffsen und Chefdramaturg Bastian Lomsché eben nicht grundsätzlich (und womöglich gar ideologiekritisch) beschäftigen mit dem Komponisten, der mit den brünstigen Text-Rufen "Hojotoho!" und "Heiaha!" die nordisch-germanischen "Walküren" auf die Pferde setzte und musikalisch deren wilde Jagd durch den Mythos vom Zaune brach; als weiblichen Baustein in der Tetralogie "Der Ring des Nibelungen". Aber nochmal: Keine Sorge – das Magdeburger Publikum muss sich in der Kammer 1, auf der großen Bühne vom Schauspielhaus, nicht auseinandersetzen mit Richard Wagners Denken, Leben und Werk. Hier wird nichts "überschrieben", der komplizierte Leipziger wird nur benutzt; und auch nur kurz.

Mit dem Exzess von Wagners Walküren nämlich endet ein kleiner und sehr schöner Theaterabend, der ganz woanders beginnt – in einem nicht sehr heimeligen Hotel-Foyer. Sehr, sehr entfernt erinnert die Bühne von Amber Vandenhoeck an Anna Viebrocks legendären Leer-Raum für Marthalers "Murx"-Beschwörung vor über drei Jahrzehnten an der Volksbühne; die untoten Geister der untergegangenen DDR wurden damals schemenhaft sichtbar vor viel schönem Holz, und wie jetzt in Magdeburg spielte die Zeit mit – aus der einen Uhr damals sind jetzt, hinter der Hotel-Rezeption, drei Zeit-Anzeiger geworden. Die Türen zu den Zimmern hinten sind kaum erkennbar, links sind Treppen und ein Fahrstuhl zu erkennen, neben einer mäßig gemütlichen Tisch-, Sofa- und Sessel-Gruppe. Abgeranzt? Abgeranzt.

Selbst- und Partnerfindungs-Rituale

Der Rezeptionist, zugleich Service-Boy in Uniform, übt noch: für die Gäste, die noch nicht da sind. Französisch räsoniert er sehr unbeholfen, dann italienisch – das wird nicht wirklich gutgehen im "Hotel Wagner". Der Komponist soll hier eine Nacht verbracht haben; im Durchgang zum Frühstücksraum nach hinten raus hängt das Bild einer Walküre.

Hojotoho2 Will Krieger Vogel Schneider Blazejewski Buzalka Dethleffsen c Kerstin SchomburgIm Getümmel: Isabel Will, Lorenz Krieger, Sophia Vogel, Bettina Schneider, Marie-Joelle Blazejewski, Nora Buzalka, Bendix Dethleffsen © Kerstin Schomburg

Dann macht der Mann an der Rezeption kurz Pause, und prompt trudeln sieben Gäste ein; brav stellen sie sich hintereinander auf zum Einchecken, kleine Rangeleien und Revierkämpfe inklusive. Mutter und Tochter sind dabei, ein leicht überkandidelter Karriere-Macho, der das Auto auf den Behinderten-Parkplatz gestellt hat, vier weitere Frauen ohne jetzt schon klaren Charakter. Wir werden von nun an und in szenischen Fragmenten ein bisschen mehr vom Personal dieser Hotel-Aufstellung erfahren.

Und jede Spielvorlage bekommt von Bendix Dethleffsen an Klavier und Synthesizer sehr sparsam Musik verpasst. Klar: auch von Wagner; aber auch Bach und Purcell, Jacques Offenbach, Bert Kaempfert und Phil Collins, Depeche Mode und die Pointer Sisters sind im Angebot, zum Wiedererkennen fürs Publikum. Schließlich kommt Filmmusik hinzu, aus "Vertigo" oder "Twin Peaks", und auch Ennio Morricones Hymne um die Polit-Ikonen Nicola Sacco und Bart Vanzetti. Unaufdringlich begleitet die Musik die unterschiedlich intensiven Selbst- und Partnerfindungs-Rituale unter den Gästen – die Tochter ist schwanger, und sie weiß noch nicht recht, wie nahe sie der Mutter bleiben kann, die sie immer angehimmelt hat. Derweil zweifelt eine der Walküren unablässig an sich selbst und der eigenen Rolle – war sich womöglich lebenslang fremdbestimmt und realisierte immer nur Profile, die andere ihr zugeschrieben hatten? Zugeschüttet aber wird das Publikum nicht mit diesen Geschichten, die Beschwörung von Geistern und Abgründen bleibt gut eineinhalb Stunden lang sehr zurückhaltend und assoziativ.

Nachhaltig geformte Miniaturen

Mit der Zeit aber wird's immer abstrakter – plötzlich brechen die vier Frauen aus einem Loch in der Bühne hervor, dann sind auf einmal alle gekleidet wie der der Junge an der Rezeption und tragen sein Gesicht als Maske. Final bricht sich dann der speziell in diesem Hotel gebündelte Wahnsinn des "genius loci" Bahn, eben der von Richard Wagner – und alle stürzen sich auf und in die Walküren-Kostüme von Severine Besson und legen fast das Mobiliar in Trümmer; aus der Requisite kommt sogar ein Pferd zum Einsatz für den Walküren-Ritt.

Und noch einmal träumen alle. Was wünschen sie sich für die Zukunft, fürs Leben nach dieser nächtlichen Erfahrung? Eine sagt, dass sie ohne solche Visionen eigentlich zufriedener sei: "Wunschlos glücklicher". Schön gesagt.

Hojotoho4 Will Blazejewski Schneider Kronenberg Hart Krieger Buzalka Vogel c Kerstin SchomburgKurz innehalten: Isabel Will, Marie-Joelle Blazejewski, Bettina Schneider, Philipp Kronenberg, Luise Hart, Lorenz Krieger, Nora Buzalka, Sophia Vogel © Kerstin Schomburg

Das Magdeburger Ensemble ist zum Staunen gut; als eine für alle sei Bettina Schneider (als Mutter Schmitz) genannt, die schon vor Jahren in Schwerin und danach in Halle zu den herausragenden Persönlichkeiten zählte und jetzt in Magdeburg jeden Abend immer ganz persönlich färbt. Aber auch Nora Buzalka, Marie-Joelle Blazejewski und Luisa Hart, Sophie Vogel und Isabel Will sowie Philipp Kronenberg und Lorenz Krieger (der an der Rezeption) steuern kraftvolle, nachhaltig geformte Miniaturen bei.

Und da ist an den Tasten Bendix Dethleffsen in der Premiere; Justus Tennie wird sich mit ihm abwechseln. Mit Dethleffsen fügt sich der Magdeburger Abend eindrucksvoll in die Geschichte musikalischer Geisterbeschwörungen, die mit Christoph Marthaler begann.

 

Hojotoho! Hojotoho! Heiaha!
von Julien Chavaz und Bastian Lomsché, (sehr, sehr) frei nach Richard Wagner
Inszenierung: Julien Chavaz, Musikalische Leitung: Bendix Dethleffsen, Bühne: Amber Vandenhoeck, Kostüme: Severine Besson, Choreographie: Kiyan Khoshoie, Dramaturgie/Text: Bastian Lomsché.
Mit: Marie-Joelle Blazejewski, Nora Buzalka, Luise Hart, Lorenz Krieger, Philipp Kronenberg, Bettina Schneider, Sophia Vogel, Isabel Will und Bendix Dethleffsen/Justus Tennie.
Premiere am 24. Februar 2024
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater-magdeburg.de

 

Kritikenrundschau

Die aufgeladene Wagnersche Übermenschlichkeit könne man nur mit entkleidender Respektlosigkeit ertragen, Regisseur Julien Chavez habe sich jedenfalls dafür entschieden, so Rolf-Dietmar Schmidt in der Magdeburger Volksstimme (26.2.2024). In einem biederen Landhotel spiele das Stück, in dem eine skurile Gästeschar eincheckt. Der Abend nehme nach und nach Fahrt auf und biete frapphierende Überraschungen, das Ensemble zeige überaus erstaunliche Musikalität und tänzerisches Vermögen.

Chavaz' und Lomschés Abend sei "auf so vielen Ebenen so toll", schwärmt Lena Schubert auf Tag24 (25.2.2024). "Eine einfache, komische Prämisse mit ulkigen Charakteren und einem Abend, der immer mehr aus dem Ruder läuft" sei die Vorlage für ein Ensemble in Höchstform – "so viel Spielfreude (und zuweilen vollen Körpereinsatz) hat das Theater schon lange nicht mehr gesehen!"

 

Kommentare  
Hojotoho..., Magdeburg: Einfach schön
Wieder ein Abend des Theater Magdeburgs der überzeugt... Spaß macht und am Ende einem ganz unvermittelt die Tränen in die Augen treibt.
Ich bin gespannt auf die nächsten Inszenierungen.
Das was da in meinem Magdeburger Theater grade passiert ist wirklich einfach schön!
Danke
Hojotoho..., Magdeburg: Virtuose Humor-Jonglage
Bravo an Julien Chavaz auf der Schauspielbühne und das toll musikalisch-tänzerische Schauspielensemble des Magdeburger Hauses! Besonders gefallen hat die balancierte Jonglage von feinem Humor mit virtuosen Ausflügen ins Boulevard Komik. Ich habe es genießen und sehr lachen können - nicht zuletzt über das anarchische Scheitern der Hoteltruppe am deutschen Wagner-Größenwahn.
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