Kannibalen auf der Vernissage

17. Februar 2022. Die Havarie der Medusa und die anschließende Todesfahrt auf dem zur Rettung gezimmerten Floß sind Symbol der Abgründe des Ancien Régime. Und ein Lehrstück über politische Ungleichverteilung von Macht und Möglichkeiten. Susi Weber verlegt Franzobels Roman "Das Floß der Medusa" am Schauspielhaus Salzburg in eine Welt der Snobs und Polit-Streithanseln: in eine Gemäldegalerie.

Von Reinhard Kriechbaum

Franzobels "Das Floß der Medusa" in der Regie von Susi Weber am Schauspielhaus Salzburg © Jan Friese

17. Februar 2022. Könnte es sein, dass selbst in der gepflegten Kulturszene in Wirklichkeit purer Kannibalismus herrscht nach dem Motto: Fressen oder gefressen werden? Nein, so platt geht's die Regisseurin Susi Weber nicht an, auch wenn sie und ihre Ausstatterin Isabel Graf ihre Bühnenversion von Franzobels Roman "Das Floß der Medusa" in einer Gemäldegalerie ansiedeln.

Solche Engführung wäre auch der Buchvorlage, die ihre Leserinnen und Leser mit nachgerade barocker Fabulierlust überrumpelt, keineswegs angemessen. Aber die Fallhöhe von nach außen zur Schau getragener Kultiviertheit in die tiefsten Abgründe bestialischen Verhaltens: Die lässt sich in diesem Ambiente gut anschaulich machen.

Berühren verboten!

Wir sind also in einem Museumsraum. Er ist gemalten Seestücken und Seefahrts-Reliquien gewidmet. Eine Vernissage-Situation wohl, denn links und rechts stehen an Tischen Getränke und Snacks bereit. Das Floß, roh zusammengezimmert aus den Brettern der an der Westküste Afrikas auf Grund gelaufenen Fregatte "Medusa", ist das zentrale Schaustück. Kordeln weisen hin aufs Selbstverständliche in einem Museum: Berühren, gar Betreten des Schau-Stücks verboten!

Das Schaustück aus dem Jahr 1816 ist bekanntlich gräulich: Zu wenige Rettungsbote waren bei der Havarie der "Medusa" an Bord. So landeten die Übriggebliebenen auf dem Floß. Ein Himmelfahrtskommando. Nur jeder Zehnte von ihnen hat die zweiwöchige Tortur bis zur Errettung überlebt. Aus kultivierten Bürgern der Grande Nation waren Kannibalen aus Überlebenstrieb geworden.

Flo der Medusa 04 Jan Friese u Gemäldegalerie mit Konfliktpotenzial: das Salzburger Ensemble im Bühnenbild von Isabel Graf © Jan Friese

Einer von ihnen war der Schiffsarzt Savigny. Ein Anti-Royalist vom Scheitel bis zur Sohle, politisch das erklärte Feindbild des feisten Kapitäns und seiner Clique, Vertretern des Ancien Régime. Die wahre Geschichte der "Medusa" spielt in der Zeit unmittelbar nach Napoleons Fall. Mit Louis XVIII. war gerade die alte Ordnung wiederhergestellt worden. Vertreter unvereinbarer politischer Denkrichtungen waren da also auf einem Schiff und treffen jetzt, im Schauspielhaus Salzburg, bei der Vernissage aufeinander.

Sogleich geraten Savigny – Theo Helm gibt ihn als schwarz gekleideten, distanziert-besserwisserischen Intellektuellen – und der ordensdekorierte Kapitän (Antony Connor) aneinander. Schon dieser kleine erste Disput eskaliert in einer Mini-Schlacht am Kalten Buffet. Zwischen den politischen Streithanseln staksen der künftige Gouverneur des Senegal und seine Familie herum. Ein paar Seeleute stehen fürs einfache Volk und politisch dafür, was man mit der Revolution eigentlich hätte erreichen wollen. Eigentlich brauchte es gar keine Sandbank. Polit-Kannibalismus herrscht von der ersten Szene weg. Dieses Schiff und seine hoffnungslos zerstrittene, unversöhnliche Besatzung wären so und so dem Untergang geweiht.

Ein hoch emotionaler Theaterabend

Diese Leute, teils in historischen, teils in heutigen Kostümen, lässt Regisseurin Susi Weber von ihrer fatalen Seereise nach Senegal erzählen. Sie bringt viel Text aus Franzobels Roman unter. Die Sichtweisen prallen aufeinander und purzeln durcheinander. Es wird nicht alles auf Dialog getrimmt, auch auratische Textabschnitte kommen zu ihrem Recht, und das ist gut so. Die Theaterfrau weiß sehr gut, dass die enorm starke Imaginationskraft der Romanvorlage auf der Bühne nur verlieren kann. Ob eine Dramatisierung gerade dieses Romans sinnvoll ist, bleibt sowieso eine offene Frage. Ein praller, hoch emotionaler Theaterabend lässt sich allemal draus formen.

Katastrophe und Schweigegeld

Das Spiel im Museums-Raum ist jedenfalls eine praktikable Lösung. Jeder im Publikum versteht, dass die Schau-Stücke und die Erzählungen hier nur einen Abklatsch der tatsächlichen Ereignisse vermitteln können. Man wird angeregt, sich die Sache auszumalen, und das ist wohl ganz in Franzobels Sinn. Die Bild-Ikone der historischen Begebenheit, der sieben mal vier Meter große Monumentalschinken von Théodore Géricault aus dem Louvre, wird zuletzt quasi nachgestellt.

Flo der Medusa 05 Jan Friese u Ärmere reisen ohne Rettungsboot: Schiffbrüchige auf dem Floß der Medusa © Jan Friese

Jene, die sich's nicht haben richten können in den Rettungsbooten, sind jetzt auf dem Floß. Wellenprojektionen und Stroboskopeffekte illustrieren ihre ausweglose Lage. Während die Schiffbrüchigen sich allmählich dazu durchringen, Menschenfleisch zu essen, tun sich die "Besseren", die es sich haben richten können mit den Rettungsbooten, in Meterentfernung am Buffet gütlich und trinken Wein aus goldenen Pokalen. Man gönnt sich ja sonst nichts, und man ist sich zumindest in einer Sache eins: Der Kannibalismus, der dort draußen auf offener See ausgebrochen ist, gehört mit allen Mitteln vertuscht.

Wenn alle die Vernissage, die emotional ziemlich aus dem Ruder gelaufen ist, verlassen haben werden, bleiben Kapitän und Schiffsarzt, die politischen Erz-Widersacher, allein übrig. Der Kapitän versucht's mit einem plumpen Bestechungsversuch und drückt Savigny ein dickes Bündel Geldscheine als Schweigegeld in die Hand. Hat nicht funktioniert, wie wir wissen.

 

Das Floß der Medusa
nach dem Roman von Franzobel
Regie: Susi Weber, Ausstattung: Isabel Graf, Musik: Wolfi Rainer, Licht: Marcel Busá, Dramaturgie: Jérôme Junod.
Mit: Antony Connor, Marcus Marotte, Maximilian Thienen, Olaf Salzer, Susanne Wende, Magdalena Oettl, Theo Helm, Jannik Görger, Jakob Kücher, Wolfgang Kandler, Christiane Warnecke.
Österreichische Erstaufführung am 16. Februar 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus-salzburg.at

 

Kritikenrundschau

"Zu Beginn ist die Aufführung eine etwas angestrengt wirkende Farce", schreibt Paul Buchacher in den Salzburger Nachrichten (17.2.2022). Aus Sicht des Kritikers fungieren die Figuren "als Erzähler mit individuellen, teils zynischen Sichten auf die Geschehnisse". Das Konzept gehe aber nur teilweise auf. Erst später gewinne das Bühnengeschehen an dramatischer Stärke. "Es regieren Angst, Verzweiflung und die kannibalistische Vorstellung, tote 'Mitreisende' zu essen, um den Hunger zu stillen, was schließlich auch geschieht: Die Tragödie der auf dem Floß Zurückgelassenen wird durch ein beklemmendes Spiel überzeugend vor Augen geführt." Treffend findet der Buchacher auch das von Isabel Graf gestaltete Bühnenbild. 

Zu hastig gerät die Inszenierung nach Ansicht der Tiroler Tageszeitung (17.2.2022). "Gerade dort, wo das quälend langsame Verstreichen der Zeit die Hoffnungslosigkeit und den allmählichen Verlust der Menschlichkeit verstärken würde, treiben kurze Ansagen aus dem Off die Handlung unnötig forciert weiter." Es bleibe zwar dennoch viel hängen, ein echter Höllentrip sei der Abend aber nicht geworden. "Doch auch das Trockentraining dafür lässt das erahnen, was einmal aus dem Off festgestellt wird: Was hier zu sehen war, ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel unseres Zusammenlebens. Wir zerfleischen einander. Nur fällt das im Alltag kaum mehr auf."

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