Unter dem Berg

11. Juni 2023. Mit "Adern" blickt die junge Dramatikerin Lisa Wentz tief in die Seelen der Tiroler. Ihre Familiengeschichte ist in dem Stück verwoben, das 2021 den Retzhofer Dramapreis erhielt und 2022 beim Nestroy-Theaterpreis als bestes Stück ausgezeichnet wurde. In Innsbruck belebt Regisseurin Bérénice Hebenstreit mit ihm leichthändig das Genre Volkstheater.

Von Martin Thomas Pesl

„Adern“ von Lisa Wentz in der Regie von Bérénice Hebenstreit am Tiroler Landestheater Innsbruck © Birgit Gufler

11. Juni 2023.Das Menschliche macht es aus. Ihr erstes Theaterstück "Adern" widmete Lisa Wentz ihrer Urgroßmutter. Es gewann den Retzhofer Dramapreis 2021 und wurde von David Bösch an der Wiener Burg uraufgeführt. Bösch hielt bei der Nestroy-Gala 2022 eine rührende Laudatio auf die Tirolerin, die den Preis für das beste Stück entgegennahm – und sich ebenso herzerwärmend bedankte.

Eine Seltenheit im dramatischen Schreiben

Das Menschliche macht es aus. Das gilt auch für den Text selbst, eine Seltenheit im zeitgenössischen dramatischen Schreiben. Bevor bald mehrere Häuser "Adern" nachspielen werden, geht er erst einmal nach Hause. Bérénice Hebenstreit inszeniert den Stoff in den Kammerspielen des Tiroler Landestheaters. Es ist die letzte Schauspielpremiere der Intendanz Johannes Reitmeier.

Brixlegg, 1953: Rudolf, Bergarbeiter und im Krieg unfreiwilliger Kampfflugzeugbauer in der Messerschmitthalle, hat die Mutter seiner fünf Kinder durch Keuchhusten verloren und eine Annonce aufgegeben: Er sucht eine Frau. Es meldet sich die Niederösterreicherin Aloisia, geschwängert von einem Besatzungssoldaten. Sie zieht zu ihm "in die Provinz", wie ihre Schwester Hertha verächtlich anmerkt, das Paar heiratet, verliebt sich, zeugt eigenen Nachwuchs, die Zeit vergeht.

Kleinere Verwerfungen entstehen, als Rudolfs Älteste ihrerseits eine Familie gründet und wegzieht, ausgerechnet unter den verflixten Berg, der Rudolf traumatisiert hat. Hier waren unter den Nazis Zwangsarbeiter im Einsatz, ein Thema, das in Tirol wohl noch schwerfälliger aufbereitet wurde als anderswo. Sein Kollege Danzel flüchtet in den Alkoholismus, lacht die Erinnerungen weg. Wenn Rudolf am Ende nicht mehr da ist, liegt das aber schlicht an der Staublunge. Ist normal im Bergbau.

Adern 1 BirgitGufler uTief unten liegen (auch) die Erinnerungen © Adern Birgit Gufler

Die große Stärke von "Adern" sind die knappen, einfühlsamen und teils witzigen Dialoge, die den Figuren wie in einem guten Volksstück Kontur geben. Das vorsichtige Herantasten zwischen Markus Hering und Sarah Viktoria Frick ließ in Wien von Anfang an kein Auge trocken. In Innsbruck sind die Liebenden mit Stefan Riedl und Hanna Binder etwas jünger besetzt, eher dem Alter der Figuren entsprechend. Dafür funkt es anfangs noch nicht so zwischen ihnen. Hebenstreit fährt einen eher abstrakten Zugang, er kommt in der Engführung der Schauspieler:innen zum Ausdruck, aber auch im Kostümbild der Ausstatterin Mira König: Ob Arbeitsjacke oder Bluse, Hose oder Rock, das Obere steckt meist streng im Unteren.

Der Berg spricht

Das Portal hat König weit heruntergelassen, dafür die vordere Bühne entfernt und den entstandenen Leerraum mit verschiedenen Holzstegen überbrückt. Weiter hinten drehen sich ein Konstrukt aus überlappenden Halbrohren und etwas, das an eine Turbine erinnert, durch bedrohliche Lichtstimmungen. Hier sind hauptsächlich Rudolfs montane Albträume sowie die lyrischen Stellen angesiedelt, in denen der Berg spricht. Komponist Gammon unterlegt sie mit einem unangenehm knarzenden Brummen.

Gerahmt ist die Handlung durch ein Kind – bei Hebenstreit in zweifacher Gestalt anwesend –, gewissermaßen die "Träume erbende" Urenkelin Lisa Wentz. Das eine der Mädchen hält zu Beginn Memorabilia in eine Live-Kamera: ein Kreuz an einer Kette, ein Porträt, ein altes Foto des Bahnhofs von Brixlegg, wo alles begann. Wo es etwas steif begann, dann aber doch noch gut wurde. Denn das Stück, seinen Preisen gerecht werdend, baut eine Dichte auf, und die Spieler:innen finden sich und einander.

Dem Zeitgeist ausweichen

Die Tiroler sind hier wirklich Tiroler, was bei Johannes Gabl als Danzel den Kern des überaus authentischen Spiels ausmacht und von Stefan Riedl geschickt eingesetzt wird. In den Dialekt verfällt er nur, wenn sein Rudolf die Kontrolle aufgibt: beim Schnaps mit Danzel oder als er erfährt, dass ihm die Tochter das geliebte Babyenkerl durch Übersiedlung entziehen wird. Die freilich ist bei Christina Constanze Polzer eher verwöhnte Wienerin der Generation Z, nicht Sechziger-Landei. Macht nichts, die Emotionen stimmen, die Stellen zwischen den Zeilen sind gefüllt.

Nicht so bei Ulrike Lasta, deren Rolle der Hertha aber auch auf die undankbare Aufgabe beschränkt ist, nicht und nicht kapieren zu wollen, dass es ihrer Schwester Aloisia fern von St. Pölten tatsächlich gut gehen könnte, obwohl sie immer so ernst dreinschaut. Hanna Binder, eine umtriebige und unbändige Schauspielerin, nimmt sich hier angenehm zurück, strahlt eine unaufgeregt friedliche Güte aus.

Und friedlich-gütig ist nach eineinhalb Stunden diese dem Zeitgeist wohlig ausweichende und dennoch keineswegs altbackene Geschichte zu Ende erzählt.

Adern
Von Lisa Wentz
Regie: Bérénice Hebenstreit, Bühne und Kostüme: Mira König, Musik: Gammon, Licht: Michael Reinisch, Dramaturgie: Diana Merkel.
Mit: Hanna Binder, Charlotte Di Pauli, Johannes Gabl, Raphael Kübler, Ulrike Lasta, Emma Neureiter, Christina Constanze Polzer, Stefan Riedl
Premiere am 10. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.landestheater.at

 

Kritkenrundschau

"Ein nicht alltägliches und auch nicht leicht verdauliches Stück 'Volkstheater' für das 21. Jahrhundert" sah Hubert Berger und lobt in der Kronen Zeitung Tirol (12.6.2023) die "feinfühlige Regie Bérénice Hebenstreits".

"'Adern' ist sehenswertes Theater (...), gut gespielt und inszeniert mit feiner Klinge", schreibt Markus Schramek in der Tiroler Tageszeitung (12.6.2023). "Eine Pathos-freie, besondere Beziehungskiste von Menschen, die versuchen, ihr spätes Stück vom Glück festzuhalten."

 
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