Alle meine Söhne - Vorarlberger Landestheater Bregenz
Ein Schmusi für die Freiheit
von Martin Thomas Pesl
Bregenz, 12. Mai 2021. Corona hat den Bühnenkuss rehabilitiert. Hätte der Kritiker zuvor schnöden Realismus bemäkelt, ertappt er sich nun dabei, wie er Vivienne Causemann und Luzian Hirzel verzückt beim Knutschen zusieht. Sie haben es auch spannend gemacht: Hirzel als Chris hat Causemann als Ann seine Liebe gestanden, sie ist nach einer kurzen Bedenkpause, nebenbei viel Kunstasche vom Boden aufwischend, unter dem Tisch durchgekrochen, hat ihm in die Augen geschaut und lange gewartet. Aber dann! Das Naheliegende wird hier paradoxerweise zum Symbol der Bregenzer Theaterfreiheit.
Bregenz ist die Hauptstadt von Vorarlberg, dem einzigen österreichischen Bundesland, in dem schon seit dem 15. März alles wieder offen hat – nächste Woche ist es auch im Rest des Landes soweit. Das Vorarlberger Landestheater hat in den letzten zwei Monaten auch bereits zahlreiche Produktionen zur Premiere gebracht, nun folgt das Drama "Alle meine Söhne" von Arthur Miller in der Fassung und Inszenierung des hier regelmäßigen Gastes Niklas Ritter.
Vom Krieg bis nach Hause verfolgt © Anja Köhler
Dieser erste große Hit des US-Dramatikers aus dem Jahr 1947 wird nicht oft gespielt. Vielleicht liegt es am geringeren Klassikerpotenzial im Vergleich zu den Nachfolgern "Der Tod eines Handlungsreisenden" und "Hexenjagd" oder an der zeitlich unmittelbaren Nähe zum Zweiten Weltkrieg. Regisseur Ritter macht aus diesem, indem er die Handlung ins 21. Jahrhundert versetzt, den Afghanistan-Konflikt. Da er teils nur die nötigsten Stellen überschreibt, schimmert das Altbackene der ursprünglichen deutschen Übersetzung noch durch ("Sie ist Larrys Mädchen!"). Andere Elemente, wie Smoothies, die in der Familie alle "Schmusis" nennen, suggerieren überzeugend eine Vertrautheit unter den Figuren, und seien sie noch so lebenslügengebeutelt.
Der Flugzeugbauer muss ins Gefängnis
Der an Ibsen geschulte Plot bleibt bis auf Striche kleiner Nebenfiguren gleich. Als es losgeht, ist das meiste schon passiert: Joe Keller stellte mit seinem Partner Steve Deever Flugzeugteile her. Nachdem aufgrund defekter Lieferungen 21 Piloten ums Leben kamen, entging Joe der Verurteilung, Steve musste ins Gefängnis. Im Krieg wurde indes Joes Sohn Larry als vermisst gemeldet. Larry war mit Steves Tochter Ann zusammen, um die nun, Jahre später, sein Bruder Chris wirbt, zum Missfallen der Mutter Kate, die glaubt, dass Larry noch lebt.
Im Tischgespräch: Luzian Hirzel, Vivienne Causemann, Günter Alt © Anja Köhler
Kate ist mit Katharina Uhland exzentrisch besetzt: Die sentimentale Mama bei Miller ist einer lallenden, lasziven Alkoholikerin gewichen, gegen deren grapschende Übergriffigkeit Anns Bruder George (Konstantin Lindhorst) grotesk wehrlos bleibt. Passend grundaggressiv gibt sich Günter Alt als Joe, auch er meist mit der Flasche in der Hand, obwohl noch im Schlafanzug.
Der böse Geist von nebenan
Die jüngere Generation gibt sich demgegenüber geradlinig. Mikroports ermutigen sie, in normaler Zimmerlautstärke zu sprechen, sie reden gleichzeitig aufeinander ein, lassen peinliche Pausen zu und "sagen die Dinge einfach". Besonders viel Unterspannung wagt Pauline Jung. Wie sie in der Rolle der unbeteiligten Nachbarin immer wieder reinkommt, unbedarft zwei ehrliche Sätze hinstellt und damit die Stimmung im Familienkonflikt noch weiter ruiniert, lässt sie wie ein faszinierend böser Geist erscheinen. Jung zeichnet gemeinsam mit Tilman Ritter außerdem für die stimmige musikalische Untermalung auf der Bühne verantwortlich. Einer der melancholischen Songs, die die Aktgrenzen markieren, ist eine Vertonung von Larrys Brief, den er Ann am Tag seines Todes schrieb und dessen Votrag der Tragödie ihre letzte Wendung gibt.
Zum Abschluss knallt es
Diese Nummer beendet auch den seit Beginn unentwegten Ascheregen auf die Bühne. Klingt bekannt? Ja, in der Wahl seiner Mittel ist der Abend unverhohlen eklektisch. Die Dauerbeschneiung darf man Katrin Brack zuordnen, das "leise" Spiel unter anderen Alvis Hermanis. Und wieder mag daraus nicht so recht ein Vorwurf entstehen. All die kleinen "Diebstähle" funktionieren zusammen nämlich bestens und bilden den Nährboden für gelungenes Schauspielertheater: pur, charaktergesteuert und mit einem feinen Sensorium für Timing bis hin zu der Klimax, als Joe seinem Leben durch einen Schuss ein Ende setzt – so richtig mit Knall und Lichtblitz. Auch das ist schon lange out, geht hier und heute aber durch.
Die hundert Applaudierenden, die gemäß den aktuellen Vorarlberger Bestimmungen dieser Vorstellung beiwohnen durften, zeigen sich angesichts der gesteigerten Dramatik erstaunlich unbewegt. Aber die haben ja auch schon seit zwei Monaten wieder Theater.
Alle meine Söhne
von Arthur Miller, Fassung: Niklas Ritter
Inszenierung: Niklas Ritter, Bühne: Niklas Ritter, Ines Burisch, Kostüm: Ines Burisch, Licht: Arndt Rössler, Musik: Tilman Ritter, Pauline Jung, Dramaturgie: Ralph Blase.
Mit: Günter Alt, Vivienne Causemann, Luzian Hirzel, Pauline Jung, Konstantin Lindhorst, Katharina Uhland.
Premiere am 12. Mai 2021
Dauer: 1 Stunden 45 Minuten, keine Pause
www.landestheater.org
"Ritter erschafft einen packenden Abend mit genauer Figurenführung", schreibt Julia Nehmiz in Der Standard (14.5.2021). "Sein Ensemble spielt 'Alle meine Söhne' m Vorarlberger Landestheater präzis, allen voran Günter Alt als Joe Keller."
"Die Handlung auf die Frage der Kinder zu konzentrieren, wie sich ihre Eltern denn im Krieg verhalten haben, lässt Ritter nicht zu. Eine gute Entscheidung, zeigt er doch viel mehr das facettenreiche Dilemma an sich", schreibt Christa Dietrich in den Vorarlberger Nachrichten (14.5.2021). "Was vor allem wegen der Spielart von Günter Alt und Katharina Uhland an die kritischen Stücke des Amerikaners Tracy Letts erinnert, ist zwar wiederum eine Art von Patina. Diese einkalkulierend und angesichts der auch musikalischen Präsenz von Vivienne Causemann, Luzian Hirzel und Konstantin Lindhorst aus der jungen Generation, erhält ein sattsam bekanntes Drama Biss."
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 28. November 2023 Neue Leitung für Digitalsparte am Staatstheater Augsburg
- 28. November 2023 Direktor des Deutschen Theaters Berlin entlassen
- 27. November 2023 AfD-Verbotsaktion des Zentrum für politische Schönheit
- 27. November 2023 Ruhrpreis 2023 posthum an Schauspielerin Simone Thoma
- 27. November 2023 Festivalmacherin Mária Szilágyi verstorben
- 26. November 2023 Deutscher Theaterpreis DER FAUST 2023 verliehen
- 25. November 2023 Österreich: Theaterallianz-Preis an Josef Maria Krasanovsky
- 25. November 2023 Hamburger Privattheatertage 2024 nicht mehr finanziert
neueste kommentare >