Die Untiefen der Alpen

von Daniel Di Falco

Bern, 24. Mai 2008. Schöner ist die Landschaft ja nicht geworden, seit die Bauern ihr Heu nicht mehr in Silotürmen vergären lassen, sondern in jenen weißen Plastikballen, die draußen auf den Wiesen liegen wie missratene Eier von Dinosauriern. Silage, so nennt der Bauer das Grünfutter, das in der Folie von Bakterien fermentiert wird: Die verwandeln den Zucker in Säure. Das gibt es jetzt auch im Theater.

Für Reto Fingers "Kaltes Land", das zwei Jahre nach der Uraufführung in Mannheim jetzt auch in der Schweiz zu sehen ist, hat Frieda Schneider die große Bühne des Berner Stadttheaters in den Vidmarhallen mit diesen Plastikballen vollstapeln lassen. Schmutzigweiß türmt sich so von Anfang an die Ungemütlichkeit des agrarischen Milieus auf, drei Lagen hoch, fast bis zur Decke. Viel Platz zum Spielen bleibt da nicht – ein enges Land, das kalte Land.

Geheimnisvoller Sturz über die Felskante

Fingers Stück ist ein Alptraum aus den Voralpen, wo eine wortkarge Borniertheit regiert, eine Zwangsjackenhaltung der Seelen fast wie bei Kroetz. Kein Wunder, will Hanna weg von hier. Sie ist das Bauernmädchen, das dem Pfarrer beim Einwintern der Gräber auf dem Friedhof zur Hand muss, und wenn sie davon klammkalte Finger bekommt, dann nimmt sie der Pfarrer auf seinen Schoß, doch davon sagt er keinem etwas. "Bub", so nennen Vater und Mutter die Hanna zuhause; sie haben den Tod des Sohns nicht verwunden, der sich schwermütig über eine Felskante gestürzt haben soll, und nur der Vater weiß, dass er den Sohn in diese Mutprobe getrieben hat.

Derart eingeklemmt zwischen halsstarrigem Vater, apathischer Mutter, unzüchtigem Pfarrer, totem Bruder und all dem Unaussprechlichen, kommt dem Mädchen jener urbane Tunichtgut in Wanderstiefeln gerade recht, der mit seiner Begleiterin auf den Kreuzgummen klettern will oder noch lieber auf die Chindlifluh, obwohl der Schnee wie Unheil in der Luft liegt. 

Der Fremde ist die Hoffnung

Hanna macht sich diesen Tobias zur Hoffnung, stemmt einen fast vegetativen Trotz gegen die Umstände und nimmt dabei die alte Sage beim Wort, die im Tal kursiert: die Geschichte von einem Alpengolem namens Toggel, der sich an den Peinigern rächt, die ihn geschaffen haben. Am Ende sind der Pfarrer und der Hallodri aus der Stadt gleichermaßen tot, und der Vater hängt an einem Strick im Stall. Dass einem so eine Geschichte einleuchtet, und das mit tragödischer Konsequenz – das ist das Tolle an diesem Text. Und das funktioniert nicht nur, weil Finger seinem Stück mit jener Sage einen Unterboden einzieht, der das Ungeheuerliche besser trägt.

Mehr noch funktioniert es darum, weil Finger stets mehr ausspart, als er ausspricht: Seine Typen entstehen aus ihrer symptomatischen Wortkargheit, aus ihren verstümmelten Sätzen und ihren unsinnigen Wiederholungen; er baut die Scharniere der Geschichte im Ungesagten ein und entwickelt den Sog der Tragödie zwischen den Zeilen und den Szenen. "Kaltes Land" ist vielleicht gerade darum als Text so wuchtig, weil er auf eine Bühnenphantasie eigentlich nicht angewiesen ist: Hier handelt die Sprache. Der Rest passiert im Kopf.

Zerdehntheit, Komik und ein Akkordeon

In Bern hat man dieser Sache offenbar nicht recht getraut. Die Inszenierung von Erik Altofer will es, dass das Personal gemsengleich auf dem Plastikballengebirge herumturnt, mit Autopneus und Plastikkübeln kegelt, an einem Heugebläse hantiert und sich in einer Kuhtränke frisch macht. Zudem ist hier noch jeder mit einem Akkordeon beschäftigt und produziert den Soundtrack mit. Die ganze Umtriebigkeit ergibt zwar mitunter komische Momente, wenn etwa Hanna den erwürgten Pfarrer zwischen den runden Plastikballen verschwinden lässt wie in einer Gletscherspalte – sie ergibt aber meistens eine Zerdehntheit und Zerstreutheit, die vom Text ablenkt. Erst recht, wenn er akkordeonhalber kaum noch zu hören ist.

Wo der Autor kerbt und schnitzt, da erscheint die Inszenierung wie wattiert mit Füllstoff. Kein Wunder, dass sie ihre Spannung erst auf den letzten Drücker noch erwischt: mit der Sage vom Toggel, die sich gegen den Schluss über das Geschehen schiebt und die Geschichte ins Schauerhaft-Surreale wendet. Und einzig Lucy Wirth gibt dem Abend etwas von jener verstörenden Kantigkeit, die ihm über weite Strecken fehlt: Als Hanna ist sie eine Black Box, die nur mit ihren mörderischen Explosionen zu erkennen gibt, was sie an Seelennöten leidet.

Plastikballen, aber keine Gärung auf der Bühne

Die magere Bilanz ist umso erstaunlicher, als dieser Regisseur den Autor doch kennt. Erik Altorfer ist nicht nur Dramaturg des Hauses, sondern auch künstlerischer Leiter des Schweizer Autorenförderprojekts Dramenprozessor: Hier kam Reto Finger auf die Rampe, von der er abhob, um einer der gefragtesten jungen Dramatiker zu werden und beispielsweise Hausautor in Mannheim. Böse Ironie, dass das Rezept zum Stück die ganze Zeit auf der Bühne stand: in den weißen Plastikballen. Mit der Silage ist es nämlich so, dass die Milchsäurebakterien nur auf Touren kommen, wenn das Grünmaterial hermetisch abgeschlossen und stark verdichtet ist. Zu lange Grashalme bringen zu viel Luft, und die verdirbt die Gärung.

 
Kaltes Land
Schauspiel von Reto Finger, Schweizer Erstaufführung
Regie: Erik Altorfer, Bühne und Kostüme: Frieda Schneider, Musik: Martin Schütz, Dramaturgie: Matthias Heid. Mit: Jürgen Hartmann, Sabine Martin, Lucy Wirth, André Benndorff, Andri Schenardi, Anna Katharina Müller.

www.stadttheaterbern.ch
 


Mehr:
Erik Altorfer betreute die Entwicklung von elf Kurzstücken junger Schweizer Dramatiker (darunter auch Reto Finger), die Ende Februar 2008 am Stadttheater Bern auf dem Projekt Das Fremde ist nur in der Fremde fremd vorgestellt wurden als kleine Leistungsschau zeitgenössischer Schweizer Dramatik.


Kritikenrundschau 

Oliver Meier nennt Reto Fingers "Kaltes Land" in der Berner Zeitung (26.5.2008) "eine finstere Voralpensaga, die ganz von der kargen, kraftvoll-poetischen Sprache lebt, die der gebürtige Emmentaler seinen Figuren in den Mund legt. Seine beklemmende Dimension gewinnt das Stück nicht zuletzt durch die Kraft der Andeutung, die das Geschehen bis zuletzt in ein nebulöses Licht taucht." Regisseur Erik Altdorfer zeige sich bei der Schweizer Erstaufführung in Bern zwar bemüht, "die Atmosphäre des Textes auf die Bühne zu übertragen", spiele aber "mit ironischen Berechnungen [! gemeint: Brechungen?], ohne dass ein konsequentes Prinzip dahinter zu erkennen wäre." So schwanke die Inszenierung "seltsam zwischen Tragik und Ironie, zwischen Beklemmung und unfreiwilligem Humor." Kostbare Textstellen würden "ganz einfach verschenkt". Von der "universellen Dimension des Stücks" bleibe letztlich wenig zu spüren.



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