Hinter jedem Busch ein Smartphone

8. Februar 2024. Der linke Autor Dietmar Dath überschreibt Maxim Gorkis Klassiker. Warum? Weil der Russe ihm zufolge in dem Stück einen Fehler gemacht hat.

Von Jürgen Reuß

Maxim Gorkis "Sommergäste" in einer Überschreibung von Dietmar Dath

8. Februar 2024. Die Sommergäste räkeln sich vor der digitalen Fototapete einer Bergseekulisse. Aus Maxim Gorkis bürgerlicher Intelligenzija ist in Dietmar Daths Überschreibung die gehobene Ebene von Digitalisierungswurschtlern samt Entourage geworden. Schlau genug, an der KI-getriebenen Ausbeutungsblase zu verdienen. Und stark genug von Verschwörungstheorien angefixt, um sich im Abglanz des Weltwirtschaftsforums zu sonnen, das der Stakeholderschamane Klaus Schwab jährlich in Davos veranstaltet.

Einer der Sommergäste, Dr. Gleichmüller (Thorsten Hug) zieht gar seinen ganzen Pillendealer-Fame daraus, dass er jenem Schwab mal am Knie rumfummeln durfte. Als sich später Rick Roaming (Julian Anatol Schneider) mit einer Materie gewordenen Computerspielwaffe ins Bein schießt, offenbart der Doktor, dass seine medizinischen Kenntnisse nicht über die Verschreibung von Wohlstandsaufhellern und Elendsbetäubern hinausreichen.

Digital-Detox in Davos

Auch Sergej Bassow (Jan Bluthardt) zeigt sich vor dem zu Paramount-Picture-Schönheit aufgepimpten Berggipfel gleich in all seiner erbärmlichen Bigotterie. Hat er doch die Sommergäste zu einer Digital-Detox-Kur nach Davos geladen, bei der jedoch nicht nur im Arbeitsraum, sondern auch hinter jedem Busch ein Smartphone oder Notebook liegt. Seiner Frau Warwara (Annika Meier) passt das nicht, weil sie wirklich mal eine Pause will.

                               Mal richtig ausspannen? © Luzia Hunziker

Auch ihr Bruder Wlas (Fabian Dämmich) ist genervt, weil er als Adlatus des Schwagers in der digitalbranchenüblichen Dauerverfügbarkeit statt Bergruhe zu genießen ständig Sergejs im Katastrophenmodus surfendes Business vor Regressansprüchen bewahren muss. Das staut in dem abgebrochenen Soziologiestudenten immerhin so viel Aufmüpfigkeit, dass er über die ruchlosen Geschäftspraktiken seines Arbeitgeber lamentiert. Überhaupt nörgelt er das ganze Stück hindurch über die menschliche Verelendung durch den Turbokapitalismus.

Komplettiert wird die Sommerfrische durch die weichen Skills der psychologisierenden Doktorsgattin Julia (Miriam Maertens), der schon halb ins Digitale verblichenen Programmiererin Mara Poggiolesi (Carina Braunschmidt), zwei aus dem Netz materialsierte Avatare und dem Faktotum Strubbel (Ueli Jäggi), der als Securitykarikatur dem Kampf der Schweizer mit dem Hochdeutschen wunderbar sprachartistisch neue Dimensionen eröffnet.

Gutes Tempo

In der ersten Hälfte wird der aus diesem Gemisch entstehende Schlagabtausch rasant mit gutem Screwball-Tempo geführt. Auch das ständige Wechselspiel zwischen Bühnengeschehen, Gefilmten und Digitalisiertem läuft geschmeidig. Einfach eine zweite Leinwand vors Bühnenbild gezogen und Kamerabilder aus den Theaterkatakomben, digitalisierte Landschaften mit gefilmten oder digital bearbeiteten Akteuren projiziert, die dann ab und an nach dem Hochfahren der Leinwand real übernehmen. Überhaupt hat sich das in einigen Inszenierung als Basler Spezialität herauskristallisiert.

                               Über allen Gipfeln ist Redebedarf © Luzia Hunziker

Das läuft inzwischen im Grunde so geschmeidig, dass es seinen Zweck ebenso "kaputtredet", wie Dietmar Dath es Gorki im Programmheft vorwirft: Dieser habe seine Figuren zu interessant gestaltet, sodass das Publikum sich von ihnen nicht distanzieren könnte. Bezogen auf die Figuren macht es Stefan Puchers Inszenierung in diesem Sinne besser. Diese Menschen sind im Grunde alle uninteressant. Empathielos verfolgt man das Gewackel dieses, wie Dath es nennt, "breiten Hintern[s| des Bürgertums". Wenn diese Schicht, zu der wir ja auch gehören, über Gefühle oder den Verlust derselben sinniert, kommt da eben nicht mehr raus, als gemeinsam ELOs Endsiebziger-Boomerhit Mr. Blue Sky zu trällern.

"Ich brauche mal 'ne Pause"

Fragt man sich vor der Pause noch, wohin das alles wohl gebündelt wird, weiß man am Ende, dass es so sein wird, wie eine Bühnenfigur androht: ein Krimiende von der Stange. Alle versammeln sich und Warwara verkündet, dass sie die Mörderin aller digitalen Ichs der Anwesenden ist. Motiv: Ich brauch mal 'ne Pause. Man ist versucht, dasselbe Fazit zu ziehen, das Gorki 1904 nach seiner Uraufführung zog: "Das Stück ist nicht besonders, aber ich habe getroffen, wohin ich gezielt habe." Pucher und Dath haben offenbar dahin gezielt, dass diese ganze anvirtualisierte Bourgeoisie ein unattraktiver Mist ist, KI nur für Künftige Insolvenz steht und wir bestenfalls mal die Pausentaste drücken können.

Im Stück testen die Figuren mit der Frage "Was willst du eigentlich?", ob es sich bei ihnen um Menschen oder KI handelt. Alle fallen durch, kein Mensch nirgends. Hätte Dath selbst eine Antwort auf die Testfrage? Im Programmheft lautet sie: "Ich will rausfinden, was los ist, und das Gefundene dann in der Absicht der Durchsetzung der Gerechtigkeit mit denen teilen und diskutieren, mit denen ich gedeihlich arbeiten und leben kann, mit Genossinnen und Genossen." Ein eskapistischer Lenin 2.0 und Mr. Blue Sky – reicht das, um als Mensch durchzugehen?

 

Sommergäste
nach Maxim Gorki in einer Überschreibung von Dietmar Dath
Regie: Stefan Pucher; Bühne: Stéphane Laimé; Kostüme: Annabelle Witt; Komposition / Sounddesign: Christopher Uhe; Videodesign und Live-Kamera: Hannes Francke; Ute Schall; Lichtdesign: Vassilios Chassapakis; Dramaturgie: Kris Merken.
Mit: Carina Braunschmidt, Jan Bluthardt, Fabian Dämmich, Vera Flück, Martin Hug, Miriam Maertens, Ueli Jäggi, Annika Meier, Julian Anatol Schneider, Ursula Dolički, Lukas Magnus Paulsteiner
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
Premiere am 7. Februar 2024

www.theater-basel.ch

Kritikenrundschau

"Vergesst Gorki," schreibt Siegbert Kopp im Konstanzer Südkurier (12. 2.2024). "Es geht hier nicht um Gorkis 'Sommergäste', nicht um die Intelligenzija, nicht um ein gelangweiltes Großbürgertum in einer vorrevolutionären Atmosphäre." Alles, was Aufbruch sein könnte, hat Dath dem Eindruck des Kritikers zufolge gestrichen. "Er will, wenn man das Programmheft liest, Habermas, Luhmann und Co. attackieren, um Marx und Engels zu revidieren. Bei diesem Rundumschlag kann sich Dath selber als Meisterdenker profilieren. Maxim Gorki ist hier nur ein berühmter Name - ein Lockvogel, um Leute ins Theater zu holen." Gezeigt werde dann ein Menschen-Zoo im digitalen Kommunikationswahnsinn, ein "ausuferndes Konversationsdrama, das Pucher ebenso geschickt wie vertrackt verlebendigt hat."

Man müsse Dietmar Daths marxistische Überzeugungen nicht teilen, um um an der Inszenierung Spass zu haben, schreibt Florian Ögerlin in der Aargauer Zeitung (12.2.2024). "Schliesslich stellt Regisseur ­Stefan Pucher der Gesellschaftskritik nicht nur GIFs tanzender Katzen und Kakerlaken, diverse Meme-Zitate sowie die typisch baslerischen Live-Kamera-Schaltungen aus dem Theaterkeller entgegen, sondern auch eine Prise Pop." Daher entpuppe sich sich 'Sommergäste' am Ende weniger als ein Beitrag zur "Durchsetzung der Gerechtigkeit" mit "Genossinnen und Genossen", wie sich das der Autor im Vorfeld wünsche, "sondern als kurzweilige Satire".

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